100% Baumwolle

Gestern fand ich auf YouTube eine weitere gute Dokumentation. Dieses Mal geht es um das Thema Baumwollanbau und den Gebrauch von Pestiziden. Zwar ist das Video bereits drei Jahre alt, doch es hat sich in der Zwischenzeit nicht wirklich etwas verändert. Die Bauern benutzen immer noch viel zu viele Pestizide, ohne sich der Gefahren, denen sie sich damit aussetzen, wirklich bewusst zu sein.

Sprache: Englisch.
Dauer: 30min

Den Gebrauch des Pestizids Endosulfan, welches im südindischen Bundesstaat Kerala zu ganzen verseuchten Landstrichen und etlichen Missbildungen geführt hat, habe ich bereits in einem älteren Bericht einmal ganz kurz angesprochen. Das Problem ist den Politikern zwar bekannt – und natürlich auch den Chemiefirmen, allen voran Bayer, aber das Leben ist in Indien eben billig.

Mangelerscheinungen

Nachdem Roma und ich selbst lange und – zumindest in Romas Fall – recht schwer krank waren, habe ich einen Artikel ausgegraben, der thematisch wie die Faust aufs Auge passt: es geht um Mangelerscheinungen bei Kindern in Indien.

Eine neue Studie hat sich mit dem Thema befasst: HUNGaMA = Hunger and Malnutrition Survey, in deren Kontext 109.093 Kinder unter 5 Jahren in 3.360 Dörfern in neun indischen Bundesstaaten observiert wurden.

Die Ergebnisse:

– 42% der Kinder waren mangelernährt
– 59% der Kinder waren in ihrer Entwicklung gehemmt (zu klein für ihr Alter)

Doch die Hauptaussage der Studie bezieht sich auf die Mütter: In den sechs Distrikten, die in der Studie am besten abschnitten, waren 95% der Mütter zur Schule gegangen.
In denjenigen Distrikten jedoch, die am schlechtesten abgeschnitten hatten, waren es nur 33%.
Je besser der Status, die Bildung, die Gesundheit und das häusliche Mitentscheidungsrecht der Frauen, desto besser ging es ihren Kindern.

Die Studie konzentrierte sich ganz besonders auf 100 Distrikte in Indien, die im Child Development Index 2009 ganz besonders schlecht abgeschnitten hatten. Man fand heraus, dass weniger als 50% Neugeborenen dort Muttermilch als erste Nahrung bekamen. Zum Vergleich: in den besten Distrikten waren es 87%.
58% der Mütter berichteten außerdem, dass sie ihren Babys unter 6 Monaten Wasser gegeben hatten, was besonders hinsichtlich der schlechten Wasserqualität besorgniserregend ist.

Problematisch ist die Tatsache, dass Mangelernährung ein verdrängtes Problem ist. Nur 7,6% der Mütter in den schlechtesten Distrikten hatten das Wort „Mangelernährung“ in ihrer Muttersprache überhaupt schon einmal gehört. (In den besten Distrikten waren es 81%)
Rohini Mukherjee von der Naandi Foundation, Leiterin der Studie, fasste das Problem sehr anschaulich zusammen:
„Mangelernährung hat keine Symptome wie Malaria, es ist nicht ansteckend wie die Grippe, und es gibt keine Impfung wie gegen Polio – und das macht es schwer damit umzugehen.“

Natürlich ist Mangelernährung ein Armutsproblem: nur 47% der Mütter gaben an, sie seien zufrieden mit der Qualität des Essens, das sie ihren Kindern geben konnten, ganz besonders in Hinblick auf Lebensmittel außer Getreide. 93% gaben an, dass besseres Essen außerhalb ihrer finanziellen Möglichkeiten liegt.

Zudem betrifft Mangelernährung eine Gemeinschaft in den meisten Fällen flächendeckend. Das heißt, dass die meisten Kinder in einem Dorf oder einer Region betroffen sind. Und da sie alle gleich aussehen (z.B. zu klein für ihr Alter), wird die Mangelernährung nicht als akutes Problem wahrgenommen, denn schließlich geht man davon aus, die Kinder sähen nun einmal so aus. Es gibt einfach keinen Vergleich.

Es ist dringend notwendig, dass sich die Regierung nicht nur um die Menge des Essens kümmert, die durch das Public Distribution System läuft, sondern auch die Qualität. Schon oft wurde von verrottetem und teilweise kaum mehr genießbaren Lebensmitteln berichtet, die an die Armen verteilt wurden, und natürlich auch von massiven Korruptionsfällen. Andererseits wird die Bereitstellung von besonders nahrhaften Lebensmitteln wie Obst und frischem Gemüse momentan überhaupt nicht angesprochen. Ohne massive Eingriffe gibt es keinerlei Aussichten, dass sich die Situation in absehbarer Zeit oder mit der nächsten Generation ändern wird.

Indien: Das Ende der Armut

Die Gute Nachricht: Laut den Statistiken der indischen Planungskommission sind nur 25% der Stadtbevölkerung Indiens offiziell arm und daher hilfebedürftig.
Die Schlechte Nachricht: Die Einkommensgrenze, welche zur Berechnung dieser Quote genutzt wurde, liegt so niedrig, dass man dabei nicht von einer Armutsgrenze sprechen kann, sondern von einer Hungergrenze. Genau genommen einer VerHungergrenze.

Normalerweise heißt es, soundso viele Menschen leben von einem Dollar pro Tag. In den Köpfen der meisten Menschen ist ein Dollar eine winzige Summe, und davon auskommen zu müssen, kratzt am Verständnis dessen, was menschenmöglich ist.
Nun denn. Laut Planungskommission ist man mit einem Dollar am Tag nicht arm. Erst wenn man lediglich 20 Rupien pro Tag hat, ist man arm. Das sind nach heutigem Umrechnungskurs 45 US Cent oder 31 € Cent pro Tag.

Die Planungskommission hat 24 Ausgabebereiche gewählt, um die Maximalausgaben zu berechnen, die ein Inder machen kann, um als arm zu gelten. Demnach darf er monatlich zum Beispiel 36,50 Rupien (55 € Cent) für Gemüse und 8,20 Rupien (13 Cent) für Obst ausgeben.
Für Salz und Gewürze fallen 14,6 Rupien (22 Cent) ab.
Linsen und Hülsenfrüchte: 19,2 Rupien (30 Cent)
Kleidung: 38,3 Rupien (59 Cent)
Getreide: 96,5 Rupien (1,50€)
Sprit: 70 Rupien (1,10€)

Wie sieht so ein Leben aus? Wenn jemand weniger als 600 Rupien im Monat zur Verfügung hat, dann kann man davon ausgehen, dass er keine Miete zahlt. Er lebt also auf der Straße. Er kann sich von seinem Obstbudget im Monat drei Bananen leisten. Des weiteren kann er sich 200 Gramm Linsen kaufen. Und drei Kilo Mehl. Er kann von seinem gesamten Gemüsebudget ein Kilo Zwiebeln und ein Kilo Kartoffeln kaufen. Oder ein halbes Kilo Okraschoten. Oder ein halbes Kilo Paprikaschoten. Oder zwei Blumenkohlköpfe.

Vermutlich aber wird er, wie arme Menschen das in Indien häufig tun, sein Geld in Weizenmehl, Chillies und eventuell Linsen anlegen. Dann gibt es einmal pro Tag Fladenbrot mit Chillipaste und ab und an einen Napf voll wässriger Linsensuppe.

Was heißt das für Indien?
25% der städtischen Bevölkerung leben so.

Gedenkpause.

25% der Menschen in indischen Städten führen genau dieses Leben.

Die anderen 75% sind deswegen nicht vermögend. Sie sind nicht einmal nicht arm. Denn wer 30 oder 40 oder 50 Rupien am Tag hat, oder selbst 100, der hat deswegen noch lange kein menschenwürdiges Leben.

Und auf dem Land? Da liegt die obere Ausgabegrenze sogar nur bei 15 Rupien pro Tag. Wer mehr ausgibt, ist nicht arm. Er bekommt keine BPL-Karte (Below Poverty Line) – das offizielle Armutszeugnis sozusagen. Ohne BPL-Karte bekommt er keine subventionierten Lebensmittel in den sog. Ration Shops. Er bekommt keine Krankenversicherung (denn es gibt zumindest auf dem Papier in Indien inzwischen ein KV-System für die Armen). Er bekommt keine Unterkunft gestellt und auch keine Rente.

Die Armutsgrenze liegt also so tief, dass sich kein Mensch so tief ducken kann, um darunter zu passen. Kein Wunder, dass Indien in den letzten Jahren von reduzierten Armutsquoten gesprochen hat: es wurde einfach die qualifizierende Grenze herunter geschraubt.

Ich werde diesen Artikel ebenfalls mit dem Tag „Dinge, die ich nicht verstehe“ kategorisieren müssen. Was auch sonst? :??:

Eine kleine Geschichte aus Delhi (3)

Wir essen gern. Wir essen gern auswärts. Wir essen unverschämt gern südindisches Essen, das wir soooo sehr vermissen. Also nutzten wir unseren Aufenthalt in Delhi, um Saravana Bhavan einen Besuch abzustatten. Es war Sonntag. Es war 20Uhr. Und die Massen tummelten sich bereits vor den Toren der Fresshalle, so dass man auf einen Sitzplatz warten musste. Und dort – auf dem Fußweg des äußeren Connaught Circus‘ – fand eine jener Szenen statt, die verwirren, während sie stattfinden, und die man auch nachher eher schlecht als recht einordnen kann:

Die Pforten zum tamilischen Restaurant Saravana Bhavan werden gehütet von einem Mann mit Block und Stift in der Hand. Er fängt dort die Horden ab und erteilt jedem eine Zeile in seinem Block mit Name und Anzahl zu verköstigender Leute. Dann werden sie mit einer ungefähren Wartezeit von dannen geschickt. Dicht daneben steht eine kleine Gruppe Plastikstühle herum, auf der bereits wartende Restaurantbesucher sitzen. Drumherum warten noch mehr Leute: entweder dass ein Wartestuhl oder ein Tisch im Restaurant frei wird, was auch immer zuerst passiert. 😉 Gegenüber dieser kleinen Menschentraube sitzt ein Ramschhändler auf dem Fußweg. Er vertickt Uhren und solchen Kram. Zwei Meter weiter sitzt noch ein Verkäufer auf dem Boden, dessen Sortiment mir glatt entfallen ist.

Plötzlich kommt eine Bettlerin angetrottet. Sie ist in die standardisierte Bettleruniform gehüllt: Lumpen, deren letztes Waschdatum unbekannt und deren ursprüngliche Farbe nicht mehr identifizierbar ist. Sie ist nicht nur mit akuter Armut bestraft, sondern auch mit einem nicht normgerechten Körper. Ihre Beine sind nicht gerade. Man kann das nicht sehen, aber sie staksen komisch unter ihrem Rock herum und verleihen ihr einen torkelnden Gang. Der Höcker auf ihrem gekrümmten Rücken tut sein Übriges. Ihr Hals ragt nach vorn wie bei einem Pferd. Der Kopf wiederum ist in den Nacken gelehnt, sonst würde sie nach unten gucken. Ihre Hände sind seltsam nach innen gekrümmt, zucken unattraktiv und sind verkrampft. Sie verkörpert das, was ich irgendwo in den Weiten dieses Blogs bereits mal als kaputte, weggeworfene Menschen beschrieben habe. Menschen, deren Existenz nur um ihrer selbst willen gerechtfertigt wird, nicht aber um einen höheren Zweck zu erfüllen. Das ist das Tragische daran. Das ist der Grund, weswegen ich Worte benutze, die eine möglichst große Dissonanz hervorrufen sollen. Die unattraktive Bettlerin. Das ist nicht dasselbe wie eine hässliche Bettlerin. Oder eine schmutzige. Obwohl beides zutrifft.
Ihr Gesicht ist mit zu großen Augen, einer zu großen Nase, einem zu großen Mund zugekleistert. Ihre Haut ist pockig und narbig. Ihre Züge sind verzerrt. Es ist ein Gesicht, dass ihr Leben erzählt, nicht unbedingt das Antlitz, mit dem sie auf die Welt kam. Das war vermutlich genau so putzig wie jedes Baby: in den Augen der Eltern das Allerschönste, in den Augen der Welt ein bisschen knittrig oder aufgedunsen oder mit Vernix überzogen. Vielleicht aber hatten die Eltern auch schon ein Dutzend Kinder, von denen fünf oder sechs das 5. Lebensjahr überlebt haben, und als sie sahen, dass es eine Büchse statt ein Schniedel war, und noch dazu mit einem Höcker, war sie vielleicht doch nicht mehr die Allerschönste.
Und dann, dreißig oder vierzig Jahre später, stand sie an einem ganz normalen Sonntagabend vor Saravana Bhavan. Irgendwann zwischen Geburt und diesem Abend hatte sie ihren Verstand verloren. Oder vielleicht war sie so glücklich, ihn nie in vollem Umfang empfangen zu haben. Ist euch schon mal aufgefallen, wie geistig behinderte Menschen von ihrem Umfeld immer als besonders glücklich und fröhlich beschrieben werden? Ganz so, als hätten sie einen Vorteil, die Welt nicht ganz verstehen zu können. Welche Arroganz seitens des Umfeldes, ihnen zu unterstellen, sie wären glücklicher, nur weil sie den lieben langen Tag grinsen. Wenn ich was nicht verstehe, grinse ich auch, aber mein Gegenüber bewertet mich dann als dämlich und selten als glücklich. Aber das nur so als Gedankenanstoß am Rande.
Diese geistig behinderte Frau war weder besonders glücklich noch besonders fröhlich. Sie war besonders arm, besonders dreckig, besonders hässlich, und auf Grund ihrer Behinderung ganz besonders schlecht in der Lage, diese Schicksalsschläge wettzumachen. Durch cleveres Stehlen. Cleveres Arbeiten. Cleveres Irgendwas. Sie war besonders tollpatschig und stolperte da in unsere Runde aus zwei Geschäftsmännern, hungrigen Restaurantbesuchern und zwei Wachmännern: einer bewaffnet mit Uniform, der andere mit Block und Stift (s.o.)
Sie blubberte vor sich hin. Sie war aggressiv. Weil sie schlecht drauf war? Weil sie Hunger hatte? Oder weil das Teil ihres geistigen Zustandes war? Keiner weiß es, keiner will es so genau wissen. Sie war, was man in Indien als „nuisance“ bezeichnet. Eine Belästigung. Einer der Händler (nicht der mit den Uhren, sondern der andere) begann einen Streit mit ihr vom Zaun zu brechen. Arme, schmutzige, verkrüppelte, umnachtete Menschen verursachen nicht unbedingt Sympathie. Man weiß ja nie, was sie als nächstes tun. Anfassen will man sie auch nicht unbedingt, denn ihr Zustand könnte ja ansteckend sein. – Das ist jetzt meine Interpretation der Handlung des Händlers. Vielleicht machte er sich auch nur um die Kaufbereitschaft seines Publikums Sorgen. Jedenfalls schrie er sie an und sie lallte zurück und fuchtelte mit ihren entstellten Gliedmaßen in der kühlen, verunreinigten Luft Delhis herum.

Es war ein hässlicher Streit. Man musste vor Scham nicht, wohin man gucken sollte. Ich als Europäer habe Scham ja als Wert irgendwann im Laufe meines kulturellen Werdeprozesses eingetrichtert bekommen. Nicht der Händler, der auch bloß nicht-reich (aber dafür clever) war. Es war unangenehm: Dieser kaputte Mensch da, der einfach was zu Essen und ein Bett mit Kissen und Zudecke und ein kleines bisschen Liebe wollte – was mache ich mit dem Anblick? Den Impuls, in die Hosentasche zu greifen und einen zerknitterten Schein Wechselgeld herauszuziehen, den unterdrückt man in Indien routinemäßig. Warum? Ist diese Frau Teil der organisierten Armutsmafia? Oder ist sie einfach eine von denen, die die Armut in den Wahnsinn getrieben hat? Ist Wahnsinn ihr einziger noch vorhandener Kindheitsfreund? Oder vielleicht bin ich einfach zu dramatisch? Schaue zu viel Arte? Das dicke indische Fell ist mir hier entschieden zu warm. Da schwitz ich dann nur. Ich werfe mir diese schützende Kutte später im Restaurant über, das für seine arktische Kälte bekannt ist. Mein Thali schmeckt himmlisch. :yes:

Ich bin an diesem Abend besonders glücklich und besonders fröhlich.

Teil 1 – Taxidrama
Teil 2 – Veränderungen in Delhi
Teil 4 das nächste Mal.

Solidarität mit den Armen?

Zur Zeit schwelt in Indien eine faszinierende Debatte: um Verschwendertum. Um Notwendigkeit. Das Schlagwort lautet dabei „Austerity„, was sich bequem in Sparpolitik übersetzen lässt.

Die regierende Kongresspartei, die sich gern als eng verbunden mit Gandhi und dessen Ideen präsentiert, hat diese Lawine losgetreten. Immerhin befindet sich Indien fest im Griff einer Dürre, die bedrohliche Preissteigerungen verursacht hat. Hinzu kommt die ohnehin wirtschaftlich dünne Lage, um die sich auch mit robusten (aber nur für beschränkte Teile der Produktion gültigen) Wachstumsraten nicht herumreden lässt. Der perfekte Zeitpunkt also, um Solidarität gegenüber den Armen auszudrücken.

Oder nicht?

Im Grunde ging es darum, Regierungsausgaben zu kürzen. Unter anderem wurden Gehälter für Regierungsmitglieder um 20% gekürzt. Das sind fantastische Nachrichten, aber irgendwie nicht genug. Der spektakuläre Jubel, den man vom Fußvolk ob solcher Maßnahmen erwarten dürfte, hielt sich ähnlich dem Monsun in Grenzen. Daher legte die Kongresspartei noch eins drauf: der gesamte Lebensstil der Mitglieder des Regierungsapparates sollte die angespannte Lage des Landes reflektieren. Es sollte weniger gereist werden, und wenn, dann bitte per Holzklasse. Zwei Minister der Kongresspartei, welche gerade in 5-Sterne-Hotels nächtigten, da ihre offiziellen Bungalows noch renoviert wurden, sollten ausziehen. Ungeachtet – und das ist der Knackpunkt – der Tatsache, dass beide die 5-Sterne-Rechnung aus privater Tasche beglichen. Es spielt schließlich keine Rolle, wessen Geld man ausgibt. Schon allein die Tatsache, dass man es ausgibt, ist in Zeiten wie diesen verwerflich. Das ist die Grundaussage dieser neuen Sparpolitik.

Aus diesem Grund sollte man Austerity auch nicht wörtlich als Sparpolitik sondern sinngemäß als Entbehrungspolitik bezeichnen.

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In den folgenden Wochen entbrannte eine heiße Diskussion um diese selbst auferlegte, ein bisschen an Gandhi-Tourismus erinnernde Entbehrungsstrategie der Kongresspartei. Niemand kann leugnen, dass es clever ist, Regierungsausgaben zu kürzen. Die Frage ist eher, ob das Volk bereits zu zynisch ist, um die dahinter steckende, kaum subtile Botschaft aufzuschnappen?

Während einige Politiker tatsächlich Holzklasse flogen, wetterten andere, ihre Produktivität wäre durch solche Reiseumstände stark eingeschränkt. Die Medien produzierten fleißig Talkshowrunden, Essays sowie ein bisschen Expertenblabla rund ums Thema Entbehrung und halfen dem Publikum bei der Meinungsbildung. Ist Sparen cool? Sollten wir sparen? Und sollten auch die sparen, die es eigentlich nicht nötig haben, weil sie entweder genug auf der hohen Kante haben oder jemand anders ihre Rechnung zahlt? Fragen über Fragen.

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Selbst im glorreichen Westen sollte man mit diesem moralischen Dilemma etwas anfangen können, denn schließlich kritisiert man dort schon seit Monaten an Bonuszahlungen für Banker herum und möchte das ganze gar gesetzlich regeln. Es scheint, als ob man sich einig wäre: wenn es mir dreckig geht, kann es nicht angehen, dass andere die fette Kohle verdienen. Wie seltsam also, dass ausgerechnet in Indien, wo die Differenzen stärker ausgeprägt sind, kein Konsens erreichbar scheint, ob und inwieweit es wünschenswert ist, diverse Gesellschaftsmitglieder auf den Boden materieller Tatsachen zurückzuholen?

Welche Felder und Ernten die diesjährige Dürre nicht hinweggerafft hat, die wurden kürzlich von den Überschwemmungen in Südindien vernichtet. Das macht sich prima auf dem Lebensmittelmarkt, wo Zucker und Linsen bereits das doppelte kosten. Familien, deren einzige Mahlzeit pro Tag aus Chapati (Fladenbrot aus Weizenmehl) und Chillipaste besteht, leben weit weg. Ihr Leid – verpackt in eine Dokumentation im Sonntagabendprogramm – verursacht ein unangenehmes Ziehen im Leib, welches sich unter anderem dadurch auszeichnet, als dass es rasch vorbei ist, wenn man umschaltet. Aber dann gibts noch die Not, die auf dem Gemüsemarkt an einem vorbei läuft: der Mann in Kurta-Pajama, beides mit Ölflecken übersät, die auf eine Anstellung als Schlosser o.ä. hinweisen könnten. Ein Schlosser verdient in Mumbai 150 Rupien pro Tag. Er schiebt sein Fahrrad an den Ständen vorbei. Am Lenker baumelt ein Plastikbeutel mit ca. einem Pfund Tindli (kleine Minigurke), aus dem seine Frau das Abendbrot zubereiten wird. Er hält vor dem Obststand und lässt sich zwei Äpfel geben, reicht einen 50-Rupienschein an den Verkäufer und erhält 30 Rupien zurück. Zwanzig Rupien für zwei Äpfel, die wer-weiß-wie-lange halten und wer-weiß-wie-viele-Familienmitglieder gesund halten sollen.

Es ist vollkommen unnötig und kontraproduktiv, sich einer solchen Episode wegen in Depressionen ob der Ungerechtigkeit der Welt zu stürzen oder sich ein paar Tränen aufrichtigen Mitgefühls am wasserfesten Mascara vorbei zu quetschen. Aber man denkt in diesem Moment darüber nach, wer von den Preissteigerungen, der Dürre, den Fluten, der Verschwendungssucht und der großen, bösen Welt wirklich betroffen ist.

Natürlich nützt es diesem Mann gar nichts, wenn ein Minister sein Quartier im Luxushotel evakuiert oder Holzklasse fliegt. Die Frage ist: bedeutet es ihm was? Der Zyniker zuckt die Schultern. Aber hat dieser Zyniker zum Mittag, seiner einzigen Mahlzeit, Chillipaste musst essen, weil der Kühlschrank leer und die Geldbörse nicht viel ergibiger war?

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Ich bin immer noch fasziniert von diesem Thema. Vor allen Dingen beschäftigt mich der Punkt, dass in Indien wie so häufig alles persönlich genommen wird. Anstatt ein festes Punkteprogramm zur Einsparung öffentlicher Mittel zu entwerfen, bei dessen Durchführung es dann nichts zu meckern und nichts zu interpretieren und nichts zu moralaposteln gibt, wird das Sparprogramm zum Persönlichkeitstest. Warum ist das so? – Medienhunger der Politiker, schon klar. Doch warum hat das Wahlvolk so gut als gar nicht reagiert, als sich die Politiker das Gehalt um 20% kürzten? Hat das Volk das nicht mitgeschnitten?

Geld ausgeben wird stigmatisiert. Das ist komisch. Das Einkommensgefälle in Indien involviert unvorstellbare Gegensätze, die selbst eine Portion Fritten zum Luxusartikel katapultieren. Vergiss das Businessclassticket des werten Herrn Ministers: Wenn ein Schlosser 150 Rupien pro Tag einsteckt, kannst du nicht 139 zzgl. MwSt. für ein Menu bei KFC verpulvern. Oder doch? Ist mein Zeitschriftenabo schlecht? Muss meine Katze ab heute Ratten fangen, weil es unverantwortlich ist, ihr eine Dose Whiskas für 100 Rupien hinzustellen? Sollten sich Porschefahrer an ihrer Savile-Road-Krawatte aufhängen?

Ist Solidarität mit den Armen wirklich alles, das wir/die Regierung zu tun bereit ist? Solidarität ist ziemlich kostenlos. Ne Schale Reis hingegen nicht.

Indien in Bildern: Hundeleben

Leben

Alles fließt über kurz oder lang in den Strudel der Normalität ein. Manchmal unbemerkt. Manchmal bewusst. Manchmal wartet man verzweifelt darauf, dass es endlich passiert, weil man etwas nicht mag oder mit etwas nicht umgehen kann. Manchmal krallt man sich daran, um den Prozess aufzuhalten und Das Ganz Spezielle zu konservieren. Klappt natürlich nicht, aber man kanns ja mal probieren.

Wie auf dem Foto zum Beispiel. Was ich da sehe (Hund & Kind. Schlafend. Friedlich. Brüderlich.) ist schön. Es ist Etwas Besonderes. Es stimmt mich nicht traurig.

Was ich nicht sehe? Die Armut. Die ist normal. Kammanixmachen. Denk ich nicht weiter drüber nach.

Entstanden ist das Foto am Bahnhof in Borivali, Mumbai. Gegen Mittag.

Durst – Der Monsun 2009

2009 ist kein Erfolgsjahr für Indiens Landwirtschaft: ein wankelmütiger Monsun hat ganze Landstriche einer grausamen Dürre ausgesetzt. Bisher wurde ca. die Hälfte Indiens 626 Distrikte als „Dürre-betroffen“ erklärt. Diese Formalität ist notwendig, damit die Bauern, deren Felder lediglich kümmerliche Saat oder nur bröckelige Erde vorzuweisen haben, auf Hilfsgelder der Regierung zurückfallen können. Pro Morgen stehen ihnen 6750 Rupien zu.

Es ist kein Einzelschicksal unter der Farmerbevölkerung Indiens, dass die Saat komplett verdorben ist. Besonders hinterlistig ist dabei die Tatsache, dass die meisten Bauern Kleinkredite aufnehmen, um das Saatgut zu bezahlen. Inwieweit sie diesen Kredit zurückzahlen können, hängt dann jeweils von der Ernte ab. In einem Jahr wie diesem, wenn die Ernte teilweise oder ganz ausfällt, schnappt die Schuldenfalle zu.
2008 hatte die UPA-Regierung Indiens ein Hilfspaket für verschuldete Bauern gestartet: Enorme Summen wurden zur Verfügung gestellt, um die Kredite zu tilgen, da die meisten Kleinbauern sowieso nicht in der Lage sein würden, diese je abzuzahlen. Inzwischen wurden die Gelder verteilt, doch es stellt sich die Frage, ob sie auch an der notwendigen Stelle ankamen. Von der Tilgung profitierten nämlich nur solche Bauern, die sich von Banken Geld geliehen hatten. Viel üblicher ist es allerdings, dass man zum lokalen Geldverleiher des Dorfes geht und sich dort einen Kleinkredit holt. Betroffenen Bauern half das Regierungspaket in keinster Weise.

Inspiriert wurde diese als „Farm Loan Waiver“ bekannte Maßnahme nicht nur von den anstehenden Wahlen (welche die UPA-Regierung gewann), sondern vor allen Dingen von den enormen Selbstmordraten im Distrikt Vidarbha im Bundesstaat Maharashtra. Weil sie die Schuldenfalle nicht länger ertragen konnten, hatten sich dort in den vergangenen Jahren tausende Farmer das Leben genommen. Ironischerweise gelangten nur 20% der Regierungsgelder des Farm Loan Waivers nach Vidarbha, weil sich viele Bauern auf Grund ihrer Landgröße nicht für Gelder qualifizierten. Die Selbstmorde setzen sich fort (bisher 117), und der diesjährige Monsun verschärft das Problem nur noch.

Während die eigenen Felder auf Grund der Dürre unnütz brach liegen, müssen Farmer andernorts nach Einkunftsquellen suchen. Normalerweise würden sie für Großgrundbesitzer arbeiten, doch auch die haben keinen Bedarf an zusätzlichen Kräften. Auch ihre Felder liegen brach. Im Bundesstaat Bihar, in dem 26 von 28 Distrikte von der Dürre betroffen sind, liegt die Migrationsrate darum bei 70%. Die Männer lassen ihre Familien in den Dörfern zurück und begeben sich auf die Suche nach Arbeit in anderen Landesteilen oder in den großen Städten. Wie die Ausschreitungen in Mumbai 2008 gezeigt haben, sind sie dort nicht willkommen.
Die soziale Stellung des Migranten ist alles andere als beneidenswert. Ein Inder ist nicht in ganz Indien zu Hause.

Doch die Dürre lässt ihm keine Wahl. Und manchmal tut die sitzende Regierung noch ihr übriges dazu. Im Bundesstaat Haryana zum Beispiel weigert sich Chief Minister Bhupinder Singh Hooda, die Dürre-Formalität zu erledigen. Erklärte er Distrikte offiziell als von der Dürre betroffen, könnten die Bauern Hilfsgelder der Zentralregierung beanspruchen. Hooda allerdings befürchtet, dass diejenigen Bauern in nicht-betroffenen Distrikten übellaunig reagieren und ihrem Ärger in den demnächst anstehenden Wahlen zum Ausdruck bringen könnten. Aus diesem Grund ist Haryana trotz defizitären Regenfalls, trotz brach liegenden Feldern und
hungernder Bauern offiziell nicht von der Dürre betroffen. Stattdessen hat Hooda 1.000 Rupien pro Morgen als Hilfsgelder angekündigt.

Derweil laufen Indiens Getreidespeicher über. Tonnenweise rotten Reis und Weizen vor sich hin, während Bauern Selbstmord begehen oder ihr Nutzvieh verkaufen müssen, weil sie das erstens nicht mehr füttern können und sie zweitens dringend auf eine Finanzspritze angewiesen sind. Sie nehmen sich notgedrungen selbst die Zukunft.
Premierminister Dr. Manmohan Singh hat erklärt, dass Indien ein ganzes Jahr mit seinen Getreidevorräten hinkommen kann, was nur so lange beruhigend klingt, bis man sich überlegt, ab wann die Regierung beginnen wird, Getreide auszuteilen? Ich halte „jetzt“ für einen guten Zeitpunkt. In den staatlichen Rationsgeschäften, welche subventionierte Lebensmittel an arme Familien verkaufen, herrscht jedenfalls gähnende Leere.

Um in einem Rationsgeschäft einkaufen zu können, benötigen Familien eine sog. BPL-Karte. BPL steht für „Below Poverty Line“, also unter der Armutsgrenze, und weist eine Familie offiziell als bedürftig aus.
Auf dem freien Markt hingegen herrscht Preischaos. Während die Lebensmittelpreise in vielen Ländern wieder zu sinken beginnen, bereitet der Einkauf für den häuslichen Bedarf in Indien weiterhin Kopfschmerzen. Preise für Zucker, Weizen, Linsen und Speiseöl sind in den letzten Monaten rasant angestiegen. Auf dem Obst- und Gemüsemarkt steigen einem die Tränen in die Augen. Das liegt teilweise an der Dürre und teilweise am Klimawandel. Die Apfelernte beispielsweise ist stark betroffen, da es in den Anbaugebieten des Himalayas kaum mehr kalt genug wird. Es wurde von einem Ernterückgang von bis zu 80% gesprochen.

Die Hoffnung, dass der Monsun noch einmal eine letzte Hauruck-Aktion hinlegen wird, schwindet täglich. Für die meisten Bauern ist es sowieso zu spät, da die Ernte unwiederbringlich verloren ist, selbst wenn es zu regnen beginnen würde. Offziell liegt das gesamtindische Regendefizit bei 28%. In Staaten wie Haryana liegt es bei bis zu 73-88%, im Durchschnitt bei 53,7%.

Die Probleme werden Indien auch in den nächsten Monaten erhalten bleiben. Es steht ein wasserarmes Jahr bevor. Mumbais Wasserspeicher sind kaum aufgefüllt, um die Megastadt ein ganzes Jahr versorgen zu können. Bereits ab den 1. Oktober stehen wieder Wasserrationierungen an. Das heißt nur, dass die Grundwasserpumpen sich wieder einen Wolf laufen werden. Der angsteinflößende Abfall des Grundwasserspiegels in Nordindien hat es bereits in die internationalen Medien geschafft. Zurückzuführen ist er ausschließlich auf Übernutzung und nicht auf den Regen oder den Mangel daran.

Quellen:
Outlook
„Shadowed by the rain“
Times of India
„You may facea a 30% watercut by October 1“

Weiterführende Links:
Tehelka
„The Rat Poison Brides“

InfoChangeIndia.org
Starring Drought In The Face

Ein Tag im Slum

Wenn der Sommer seine klebrigen Tentakel über dem indischen Subkontinent ausstreckt, dann heißt das früher oder später, dass das Wasser knapp wird. Die Stadtverwaltung Mumbai (BMC) rationiert das Wasser dann, und es gibt in weiten Teilen der Stadt nur für wenige Stunden am Tag Wasser aus der Leitung. In einigen vielen Stadtteilen ist dies gar Routine, und im Sommer werden die Stunden der Wasserversorgung nochmals verkürzt.

In letzter Zeit häuften sich die Berichte über die Wasserknappheit, und letzte Woche ließ sich die BMC sogar dazu herab, einzugestehen: Ja, es sieht eng aus. In sonst so hoch gelobten Vororten wie Bandra und Andheri gab es gar mehrere Tage hintereinander gar keinen Tropfen mehr, und die auf Wahlfang befindlichen Politiker schimpften, dass die Leute den einstudierten Wahlreden gar nicht mehr zuhören würden. Sie wollten nur übers Wasser reden, diese ignoranten Trottel. :))

Nun kam der Tag, an dem man auch uns den Saft abdrehte. Ein schelmischer Sonntag. Ein Tag wie kein anderer. Man fühlt sich ein bisschen wie im Slum, wo es schließlich auch (hin und wieder) Strom gibt, und Kabelfernsehen, und Klimaanlagen. Nur Wasser gibt es nicht.

Wir hatten natürlich Glück. Nicht nur dauerte unsere Wasserknappheit nur einen Tag, und 21:30Uhr lief die Brühe unter Gurgeln, Spritzen und Räuspern wieder recht normal. Sondern wir verfügen auch über zwei Wasserversorgungen. :yes: Die eine stammt von der BMC – das „saubere“ Wasser, das man zum Kochen & Duschen nutzen kann, und welches während der Versorgungsstunden auf den Vorratstank auf unserer Dach gepumpt wird. Die zweite Wasserquelle ist eine Grundwasserpumpe – also eine der Einrichtungen, die für den dramatischen Abfall des Grundwasserpegels in ganz Indien verantwortlich ist:

In Delhi fällt der Grundwasserspiegel zwischen 8 und 10 Meter pro Jahr. 8|

Befindet sich unsere Hausgemeinschaft mit der Bohrvorrichtung, die das Grundwasser anzapft, also auf der falschen Seite des Gesetzes? Mitnichten. Im Gegenteil. Die BMC verbietet die Nutzung des von ihnen zur Verfügung gestellten Wassers zur Betreibung von Toilettenspülungen. Für die Toilette darf man nur das Wasser der Grundwasserpumpe nutzen oder aber Regenwasser.

An jenem Tag also, als wir etwas Slumluft schnupperten, da der Wasserhahn nur ein lustloses Röcheln ausstieß, funktionierte zumindest die Toilette weiterhin anstandslos, und wer sich vor dem ganz leicht rötlichen Wasser nicht fürchtet, der kann sich damit auch die Hände waschen. Wir verfügen schließlich über mehrere Grundwasser-Wasserhähne im Haus. :yes:

Also doch kein Tag wie im Slum?

Nachdem ich nun fertig gejammert habe über mein schweres Los in einem indischen Wohnblock, stelle ich Videos ein:

Das erste, „Der Eimer“, beschäftigt sich mit der Abwesenheit von Toiletten in Slums, und was das für Frauen bedeutet.
Das zweite Video (2 Teile) handelt von sanitären Einrichtungen in Slums: von solchen, die nicht funktionieren, und von solchen, die man tatsächlich nutzen kann.
Das dritte und beeindruckendste Video (The Scavengers) erzählt von den Safairkaramcharis, die in diesem Blog bereits Erwähnung fanden, und für das Wegräumen von Exkrementen Scheiße – menschlichen wie tierischen Ursprungs – verantwortlich sind. Ebenfalls ausführlich erwähnt wird die Sulabh-Bewegung in Indien.

Der Eimer

Erster Teil der Doku „Slum Sanitation in Mumbai“ (Girish Menon)

Teil 2

The Scavengers
(Dieses Video kann nicht eingebunden werden, daher der Link.)

Das Image Indiens (Slumdog Millionär)

Nachdem ich ein paar unschöne indische Situationen breit getreten habe, ist es nun an der Zeit, sich die Frage zu stellen, ob diese unschönen Situationen dem Image Indiens Schaden zufügen, denn das ist die Prämisse derer, die den Film Slumdog Millionär als „Armutspornografie“ und Defamierung Indiens kritisiert haben.

In persönlichen Gesprächen mache ich hin und wieder die Entdeckung, dass Armut für Inder ein sehr greifbares Phänomen ist. Viele, die heute zur gut etablierten Mittelklasse gehören, erinnern sich durchaus an die knapperen Zeiten ihrer Kindheit. Dass nur ein relativ kleiner Teil Indiens in den vielversprechenden letzten Jahren bedeutsamen Aufschwung geschafft hat, hat die indische Gesellschaft nicht in eine philosophische Sofarunde verwandelt, die sich fragt, wie das passieren konnte? Vielmehr herrscht ganz besonders in der heutigen Mittelklasse ein tiefes Misstrauen den Armen gegenüber. Wie kann es sein, dass sie es nicht geschafft hatten, wenn wir es geschafft haben?

Es gibt in Indien keine Tradition westlich-philosophischer Werte, die von Gleichheit und Gleichberechtigung sprechen. Auf der internationalen Bühne möchten Inder gern so sein wie alle anderen (d.h. „Der Weiße Mann“), aber auf der nationalen Ebene ist man eine verschachtelte, essentiell ungleiche Gesellschaft, die seit jeher auf Prinzipien der Ungleichheit basiert. Schlechtes Karma. Kasten. Immer neue Einfälle brandrodender Barbaren aus dem Nordwesten, von Alexander über muslimische Eroberer hin zu den Briten, die das Gute aus der indischen Gesellschaft zu eliminieren suchten. Die Liste von Erklärungen, die man zu Rate ziehen kann, um den eklatanten Zustand von Ungleichheit zu ratifizieren, ist durchaus gewaltig.
(Dass das Konstrukt der indischen Mittelklasse weder Verständnis noch Interesse für Die Armen hat, habe ich bereits in meinem Artikel „Die große indische Mittelklasse“ geschildert.)

Sind Inder deswegen Egoisten, denen Die Armen egal sind? „Das Image Indiens (Slumdog Millionär)“ weiterlesen