Bitter Chocolate: Child Sexual Abuse in India
Pinki Virani
Bitter Chocolate ist eine Penguin-Publikation aus dem Jahre 2000. Die Autorin Pinki Virani taucht ein in die Abgründe sexuellen Kindesmissbrauchs in Indien. Sie beschreibt die ganze Bandbreite des Themas: Ausmaß. Folgen. Ahndung. Hintergründe. Sie wartet mit Statistiken und Zahlen auf, und streut immer wieder Fallbeispiele ein. Rund 100 sind es, die teils in grafischer, nüchterner Prosa, teils in Geschichtenform dargestellt werden.
Virani greift sehr viele Aspekte sexuellen Missbrauchs auf. Sie beschränkt sich nicht aufs bloße Beschreiben, sondern widmet auch mehrere Kapitel dem Kampf gegen den Missbrauch. Unter anderem beschreibt sie spezielle Institutionen in anderen Ländern, die mit wenig Aufwand im indischen Kontext repliziert werden könnten. Sie detailliert außerdem, wie der Stand des Gesetzes Indiens eine effektive Bekämpfung des Ausmaßes an Kindesmissbrauch verhindert, und was sich tun muss, um dies zu ändern.
Das Buch ist nicht mehr ganz druckfrisch und dennoch unglaublich aktuell: denn seit über einer Dekade kämpft Virani für umfassende Gesetzesänderungen, und erst im Oktober 2011 hat Indien einen Gesetzesentwurf zustande gebracht. Mehr dazu im Interview auf im4change.com
In den letzten Kapiteln des Buches widmet sie sich der Betreuung von Opfern und adressiert sowohl Angehörige als auch Betroffene. Sie meistert den Drahtseilakt zwischen erhobenem Zeigefinger und gutem Journalismus in diesen Kapiteln und jenen, in denen es um die Gesetzeslage geht, nicht immer; sie beschimpft Täter ganz offen und unverblümt und dramatisiert auch hin und wieder. Das tut ihrem Werk m.E. allerdings keinerlei Abbruch. Es ist nicht notwendig – und beinahe unmenschlich – eine klinische Abhandlung zum Thema zu schreiben.
Einige der Szenen haben sich mir in den Kopf gefressen. Ich sehe sie förmlich vor mir. Wie das schmerzverzerrte Gesicht eines 8jährigen Mädchens, auf dessen pornografisch-explizites Fotos Virani während ihrer Recherchen stößt. Sie hat es dem Leser nicht erspart. Man könnte sich fragen, ob das Not tut? Aber: warum den Leser schonen. Die Kinder wurden auch nicht geschont. Manche Themen eignen sich nicht für eine Light-Version.
Nichts für schwache Nerven also.
Warum sollte man so etwas lesen wollen?
Ich stieß bereits vor zwei Jahren in einem Zeitungsartikel der Times of India auf dieses Buch. Damals war gerade unser Blümchen geboren worden und ich schaffte es nicht über das eingangs eingefügte Fallbeispiel eines missbrauchten, dreimonatigen Babies hinaus.
Warum also sollte jemand die spärliche Freizeit einem solchen Buch widmen?
Die Frage ist berechtigt.
Die Antwort ist typisch indisch: nicht geradlinig.
Beim täglichen Genuss derselben scheinen indische Zeitungen voll zu sein von Berichten über sexuellen Missbrauch, an Kindern und Erwachsenen. Aber wenn man sich in harten Debatten mit der Frage konfrontiert sieht, wie umfassend und akut das Problem denn nun wirklich sei, dann kommt man argumentativ ins Straucheln. Die Zahlen unterstützten den Grad der Besorgnis nämlich nicht.
Das liegt zum einen an den Zahlen. Sie sind nicht vollständig. Der Begriff „Dunkelziffer“ sollte in Indien nicht so heißen, sondern „Wahrheit“, weil dazwischen Welten liegen. Welten und Weltanschauungen.
Denn Zahlen sind nicht das ganze Problem, wenn es in Indien um das Thema Sex, sexuelle Gewalt und Missbrauch geht. Es ist die Gesellschaft. Pinki Virani macht daraus auch keinen Hehl. Sie legt sich zu Beginn des Buches auf die Zahlen 40 und 25 fest. 40% der Mädchen Indiens haben Erfahrungen mit sexuellem Missbrauch und 25% der Jungen. Noch Besorgnis erregender als diese Zahlen ist die Art und Weise, wie in Gesellschaft, in Familien und Gesetz mit dem Thema umgegangen wird. Es ist die Reaktion auf sexuellen Kindesmissbrauch, die das Thema in Indien so dramatisch macht.
Grundsätzlich vertrauen sich die Kinder ihren Eltern nicht an. Das liegt unter anderem an den Familienkonstellationen in Indien. Die Eltern sind nicht zum Vertrauen da, sondern zum Respektieren.
Zweitens sind Familien eng verbandelt. Der Missbrauch findet größtenteils in der Familie statt, und somit ist ein Familienmitglied ein Täter. Diese Gegebenheit muss man nun in großfamiliäre Strukturen hineininterpretieren, in die finanziellen und strukturellen Abhängigkeiten. Zudem herrscht das Prinzip von izzat, wofür es keine wirklich treffende Übersetzung gibt. Es ist Familienehre. Würde. Ein in ganz Indien (glaubt nicht Wikipedia!) herrschendes Prinzip, dass die äußere Unversehrtheit der Familie über der inneren Unversehrtheit der Individuen zu stehen hat. Es hat etwas mit dem indischen Konzept von Verschmutzung zu tun. Und Reinheit. – -Da bedeutet Kindesmissbrauch einfach nicht mehr dasselbe.
Indische Eltern also, die von ihrer achtjährigen Tochter erzählt bekommen, der Cousin oder Onkel o.ä. hätte sie angefasst, reagieren nicht notwendigerweise nur mit Schock und Beschützerinstinkt, sondern auch mit Selbstschutzinstinkt. Wie kann man damit umgehen, ohne dass dies nach Außen dringt? Kann man das irgendwie ausbügeln? Drüberpinseln?
Hinzu kommt noch die Auffassung, was Familie in Indien überhaupt bedeutet. Es ist für viele Menschen unvorstellbar, dass ein Vater oder Bruder oder Großvater so etwas tun könnte. In einer zitierten Studie gilt dies auch für Richter: sie haben Fälle abblitzen lassen, weil es ihnen nicht in den Kopf wollte, dass Großväter Enkel und Enkelinnen vergewaltigen könnten.
Das ist eine Seite der Grausamkeit des Themas in Indien. Wohin sollen sich die Kinder wenden? Wer beschützt sie, nachdem sie sich offenbart haben?
Ein weiterer von Pinki Virani sehr deutlich zum Ausdruck gebrachter Aspekt ist das kaputte und korrupte System: sie schreibt von Hilfsorganisationen, die nicht helfen. Die wissen, dass Kinder in ihren Heimen vergewaltigt werden. Dass sie diese Kinder einfach ins nächste Heim abschieben. Dass es keine Untersuchungen und keine Konsequenzen gibt, wenn so etwas passiert.
Und sie schreibt vom Rechtssystem. Dass es 15 Jahre dauert, bis so ein Fall endlich vor Gericht auftaucht. Dass die Gesetze nicht greifen. Weil die Richter und Anwälte nicht sensibilisiert sind. Weil die Strafen zu lasch sind. etc pp.
Das sind nun für mich zwei riesige Gründe, warum sexueller Kindesmissbrauch in Indien schlimmer ist, als nackte Zahlen ihn je darstellen könnten.
Dieses Buch sagt viel über das Thema aus. Aber auch über die Gesellschaft. Über die „heile indische Familie“. Über Korruption. Über gesellschaftlichen Glanzeffekt.
Ich halte es für sehr lesenswert.