In meinem 5. Jahr in Indien wohne ich nun am 3. Ort. Und gleichzeitig in einem komplett neuen Indien. Indien – Version 3.0
Adieu Wattebausch. Adieu Condominium.
Harte Landung. Version 3.0 ist die Rache der Mittelklasse, über die ich immer läster.
Wir sind jetzt wieder live dabei. In Dwarka, wo depressive Menschen von Balkons springen und realitätsferne Söhne depressive, vom Balkon springende Menschen auffangen wollen und dabei ums Leben kommen. :no:
Statt einem Park gibts Beton und einen Rasen, der, wie das in Indien üblich ist, braun geschoren wird.
Manchmal ist auch in Indien der Farbeimer leer:
Statt himmlicher Ruhe gibts jetzt allabendlich einen Trupp reifer Frauen, die auf einer Decke auf dem braunen Rasen sitzen, singen und klatschen und … na ja, wahrscheinlich Spaß dran haben. Anstelle eines Zimmers mit Aussicht auf Morgenkacker gibts jetzt solide Bautechnik:
Zimmer mit Aussicht – nur das Original ist schöner!
Die glanzvolle Schickimicki-Ära endete abrupt und mündete ungeschickt in der Hardcore-Version des einfachen Indiens. Wahrscheinlich näher dran an dem, was man sich unter dem urbanen Indien vorstellt. Was man sich als Indien-Erstling wünscht. Zum Beispiel so:
oder so.
An die Stelle ohrenbetäubender, preisgeiler Rickshaws sind jetzt die leisen, umweltfreundlichen und verkehrsfeindlichen Fahrradrickshaws getreten. Diese spindeldürren, mit Schweißflecken übersäten Strampler widerlegen jede These, die etwas mit dem Recht des Stärkeren zu tun hat. Von wegen, in Indien hat immer der Größere und Schnellere Vorfahrt. Diese Spezialisten haben immer Vorfahrt. Immer. Grüne Welle. Lebenslänglich.
Ja, der Umzug in die Hauptstadt – ein Downgrade mit Folgen. Plötzlich sind die Supermärkte in die Ferne gerückt. 20km, um genau zu sein. Zwangsweise und zähneknirschend geht es ab in den Tante-EmmaOnkel-Ekram-Laden. Dort ist der Joghurt öfters mal schlecht, wenn man ihn kauft. Pancake-Mix führen die nicht. Auf Fruchtsaft gibts keinen Rabatt. Man muß ganz tief in die Trickkiste des positiven Denkens greifen, um lächelnd aus dem Laden wieder rauszukommen.
Das waren noch Zeiten!
Zwar sind Ketten wie Subiksha und Reliance Retail dabei sich in Delhi und NCR zu etablieren und Subiksha wirbt sogar damit, Indiens „largest retail chain“ zu sein, aber hundert kleine Geschäfte (und hundert sinds) machen kein großes. Kleine Ladenfläche, kleine Produktauswahl, kleine Freude. Kann man nichts machen.
Grooooße Umstellung:
Nahrungsmittel werden jetzt nicht mehr im Supermarkt um die Ecke gekauft, sondern im Krutschladen. Dazu gehört der Besuch eines Geschäfts für Paneer/Käse (und zwar ist das meist ein Süßigkeitengeschäft oder Bäcker… indische Logik halt!), eines weiteren Geschäfts für Brot und Eier und noch vielen weiteren Geschäften für viele weitere Dinge. Alle zwei bis drei Wochen schaffen wir es vielleicht, einen Zwischenstopp im Big Bazaar in Gurgaon einzulegen.
Gemüse wird jetzt nicht mehr im Supermarkt um die Ecke gekauft, sondern auf dem Gemüse-Markt um die Ecke. (siehe oben) Jeden Tag findet in Dwarka ein Gemüsemarkt statt, dessen Standort sich je nach Wochentag ändert. Sonntags ist er eben um die Ecke, da gehen wir dann hin.
Version 3.0 hat noch mehr Asse im Ärme. Im Fernsehen gibts jetzt nur noch 6 Englische Kanäle. Das liegt natürlich an unserem Kabelfritzen. HBO und andere nette Kanäle bietet der nicht an, weil das außer uns niemand sehen will. Im Norden dominiert Hindi, und in unseren Mittelklassebaracken wohnen nicht so viele Hollywoodfanatiker außer uns.
Hier wird Indien auch ein Stück realer: Aus dem Hahn kommt statt Wasser öfters nur ein furzendes Geräusch. An solche Zustände muß man sich erst mal (rück)gewöhnen.
Zur Zeit komme ich allein nicht sonderlich oft raus. Die Malls gehen in der Ferne ohne mich ihren Geschäften nach. Problematisch: Zwischen Delhi und dem im südwesten an Delhi angrenzenden Zuckerdorf Gurgaon fahren keine Rickshaws, weil es ein anderer Bundesstaat ist. Demnach komm ich allein dort nicht hin. Die Einkaufspassagen in Delhi kann man entweder unter Ulk verbuchen oder sie sind zu weit weg. Was also fehlt ist Mobilität.
In Version 3.0 braucht man schon ein Auto, um von A nach B zu kommen. Ich spiele jetzt mit dem Gedanken einen alten Ambassador
zu kaufen, denn davor hat jeder Angst. Das liegt daran, daß ein Ambassador vor niemandem Angst hat. Er fährt und fährt. Er bleibt liegen, aber hält nie freiwillig an. Sowas wäre das Richtige für mich. Damit fahr ich dann zu meinem Glitzerindien und halte erst auf dem Parkplatz an, wo ich ohne Angst einparke, denn dem Ambassador tut kein Kratzer weh. :yes:
Der Ambassador gibt niemals klein bei. Er ist eine rollende, hustende, total zerbeulte Legende mit einer durchgesessenen Sitzbank vorn und einem meterlangen Schaltknüppel. Perfekt für mich, damit ich ohne Angst vor Gegenverkehr, Lackkratzern und indischen Kreuzungen ans Ziel gelange. Unser Auto ist mir dafür ja zu schade.
Während ich also von meinem neuen, mich in die Unabhängigkeit der Version 3.1 tuckernden Ambassador tagträume, stelle ich fest, daß ich gerade neu in Indien in einem neuen Indien angekommen bin. Wo ist mein Bentley? Jemand hat ihn mir weggenommen, dafür ne Kinetic Honda gegeben und mir gute Reise gewünscht. Ich glaub, mein Schwein pfeift meine Kuh röchelt.
Ein bißchen Spaß muß sein. :wave:
Warten wir ab, was Version 3.0 noch zu bieten hat. :yes: