Es geht einfach nicht mehr weg. Das Thema Vergewaltigung in Indien hält sich seit der grausigen Gruppenvergewaltigung in Delhi Ende letzten Jahres hartnäckig just an der Oberfläche der Dinge, die man mit Indien in Verbindung bringt. In einschlägigen Indienforen wird erbarmungslos darüber debattiert. Gibt es jetzt mehr Gewalt gegen Frauen oder wird nur mehr darüber berichtet? (letzteres) Fallen dieser Gewalt heuer mehr Ausländerinnen zum Opfer oder achten wir nur stärker darauf, weil die mediale Aufbereitung einschlägiger ist? (letzteres) Sollte man nun ganz besondere Vorsicht wallten lassen oder handelt es sich angesichts der schier unglaublichen Einwohnerzahl Indiens um bedauerliche Einzelfälle? (ersteres)
Ich glaube, ich habe zu diesem Thema in diesem Blog bereits viel geschrieben. Vielleicht sogar genug. Als ich aber gestern Abend ein wenig durch ein populäres Forum blätterte, stieß mir die Art und Weise der Klugscheißerei dort derartig auf den Magen, dass ich dem Drang, noch einen Text zur Frauengewalt in Indien zu schreiben einfach nicht widerstehen kann.
Inzwischen wohne ich nicht mehr in Indien. Und das ist gut so. Ich möchte da auch nicht mehr wohnen. Vor allen Dingen möchte ich nicht, dass meine Tochter dort aufwächst. Bei aller Liebe und Hingabe für ein Land, dass mir knapp zehn Jahre so viel gegeben hat, bin ich mir doch besonders nach der Rückkehr bewusst, wie viel Freiheit es mir genommen hat. Ich habe meine gesamten zwanziger Jahre in einem Land verbracht, in welchem ich die Rolle der Frau nur mit einem Wort betiteln möchte: Unterdrückung.
Seit ich wieder in Deutschland wohne, hat mich niemand mehr grob sexuell beleidigt, begrapscht, angebaggert oder mir nachgestellt. Ich habe das Gefühl, wieder als Mensch wahrgenommen zu werden. Ich benutze völlig ohne Angst öffentliche Verkehrsmittel und bewege mich auch nach Einbruch der Dunkelheit noch im Freien und ich gehe sogar in Gegenden, in denen ich noch nie zuvor war. Alleine. Ich schicke meine Tochter ohne Bedenken in die KiTa. Ich fühle mich frei. Ich fühle mich lebendig.
Ja was? War ich vorher etwa tot? Hat man mich in Indien geknebelt und unterjocht? – Nein. Das war ich natürlich selbst. Würde ich behaupten, die indische Gesellschaft hätte mir mit Gewalt Verhaltensweisen bzw. Verbote aufgezwungen, so wäre dies falsch. Vielmehr habe ich völlig freiwillig Regeln befolgt, von denen ich wusste bzw. von denen mich die Gesellschaft in Kenntnis setzte, dass man so-und-so von mir erwartete. Freiwillig. Ich habe mir selbst die Flügel gestutzt. Aus dem Bedürfnis nach Integration und aus dem Bedürfnis mich zu schützen.
Wie meine ich das?
In besagtem Forum las ich zwei Dinge, die mich zu gut Deutsch angekotzt haben.
Erstes Ding:
Es ging um die Schweizerin, die kürzlich beim Zelten auf dem Lande in Zentralindien von einer Gruppe Männer vergewaltigt wurde. Ihr Ehemann war anwesend, konnte sie aber nicht schützen. Die Reaktion der zertifizierten Indienprofis? Ja wie konnte sie nur so doof sein? In Indien zeltet man nicht, schon gar nicht in abgelegenen Gegenden.
Zweites Ding:
Eine selbstbewusste Frau fortgeschrittenen Alters, die seit über zehn Jahren in Nordindien sesshaft ist, brüskierte sich über die im Forum aufgelisteten „Vorsichtsmaßnahmen“ für Frauen auf dem Subkontinent, dass sie ein sehr schönes, angenehmes Leben in Indien führen würde, dass sie sich frei bewegen konnte und dass ihr noch nie etwas passiert war.
Für mich ist es problematisch, so etwas zu lesen. Ich möchte mal sagen, dass es dutzende, ja hunderte Frauen gibt, die in Indien gezeltet haben und unversehrt geblieben sind. Ich selbst habe sogar OHNE Zelt in der indischen Landschaft geschlafen. Jawohl. Unter freiem Himmel. Diese Nacht in der Wüste Rajasthans zählt zu den schönsten Erlebnissen in Indien, und ich habe darüber berichtet.
Wie konnte ich nur so doof sein? Wir waren zwei niederländische Mädchen, eine Deutsche, ein junger Inder, von dem jedermann anzweifelte, er sei mein Ehemann, und ein indischer Reiseführer. Was hätten wir getan, wenn eine Horde Männer mit Filzläusen über uns hergefallen wäre? Hätten wir lesen müssen, dass wir doof waren, dass man in Indien nicht zeltet und dass gleichzeitig Frollein XYZ in Gurgaon noch nie etwas passiert war und man doch mal halb lang machen soll?
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Glücklicherweise werde ich die Antwort auf diese Frage nie erfahren.
Ich werde aber auch nicht mehr in Indien zelten. Man will sein Glück ja nicht herausfordern.
Fakt ist: Indien ist groß. Wenn man mit Zahlen spielt, erscheint die Belastung mit Gewaltverbrechen sehr gering, was unter anderem (aber nicht nur) etwas mit der geringen Rate offiziell angezeigter Verbrechen zu tun hat; mit dem geringen Vertrauen in die Polizei, die Justiz und den Staat; mit Konzepten von Ehre und Reinheit.
Fakt ist außerdem, dass Indien ein schönes, wenn auch anstrengendes Reiseland ist. Ich kann es kaum erwarten, zurück nach Indien zu reisen.
Fakt ist aber auch, dass ich nicht mehr dort leben möchte. Das ist mir zu anstrengend. Ich will frei sein. Ich will ein Mensch sein. Und als Frau bin ich in Indien kein Mensch. Ich bin eine Frau. Immer nur eine Frau.
Als ich in den ersten zwei, drei unbeschwerten Jahren durch Indien reiste und dort lebte, verstand ich das noch nicht. Mir war ja schließlich nie was passiert, gelle. Ich konnte tun und lassen, was ich wollte. In späteren Jahren habe ich oft diese Sorglosigkeit vermisst, aber niemals die Unschuld. Niemals die Einsicht. Gern wäre ich wieder so sorglos durch Indien getänzelt, aber meine strengen, hier im Blog oft diskutierten Regeln der Sittsamkeit waren mir zu wichtig: ich weiß, dass alles andere zu gefährlich ist. Man zeltet nicht in Indien. Man trägt auch keine Hotpants. Man lässt seine Brüste nicht aus dem TShirt purzeln. Man tut viele Dinge nicht, nicht als Frau. Man kann ungestraft davon kommen und dann zu Hause erzählen, wie schön es war und dass verklemmte Blogschreiberinnen ja lauter Mist erzählen und ihnen in Indien nichts passiert ist. Oder man wird beim Zelten von einer Horde Dörfler geschändet. Weiß ja vorher keiner.
Aber nachher. Nachher wissen es wieder alle.
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