Zensur in Indien

Einmal mehr wurde in Indien der Rotstift gezückt. Genauer gesagt in Mumbai, wo das Buch „Such a long Journey“ von Rohinton Mistry aus dem Lehrplan für den Bachelorkurs in Englisch an der Universität genommen wurde. Ein Politiker hatte freundlichst darum gebeten.
Warum?
Weil Passagen des Buches negativ über die Partei Shiv Sena berichteten.
Wer war der Politiker?
Aditya Thackeray, Engel Enkel von Bal Thackeray, dem Gründer der Partei Shiv Sena. Aditya zählt 20 Jänner und ist nun reif, in die Politik eingeführt zu werden. Er leitet den Jugendableger der Partei. Vor der Krönungs… äh, pardon… Initiierungszeremonie am Sonntag Abend bedurfte es nur noch etwas Werbung. Kontroversen sind wirkungsvoll und kostenlos. Man spart sich die Kröten für Anzeigen in Zeitung und Fernsehen, denn das übernehmen die Medien dann selbst.
Vor der Mistry-Episode kannte kaum jemand Aditya Thackeray. Jetzt kennen ihn alle. Mission: Erfolgreich.

Während aus einigen wenigen Kreisen der Intelligenzia ohnmächtiger, wütender Protest halblaut wird, fällt bei mir endlich der Groschen, und macht dabei ein viel, viel lauteres Geräusch als die Friede-sei-mit-dir-Aktionen der protestierenden Bürger. Jahrelang habe ich mich gefragt, warum Zensur und Selbstzensur in Indien niemanden juckt außer Leuten, die viel Zeit, viel Geld, und wenig zu tun haben? Warum, fragte ich mich, gehört die Beschneidung öffentlicher Kultur in Indien zum hingenommenen Alltag wie Lärm, Schmutz und stoische Kühe, die zu bemerken bereits ein halbes Schulterzucken zu viel Aufwand ist?

Warum?

Weil es geht. Weil es klappt. Weil Aditya, der vermutlich mehr Eierschalen hinter den Ohren hat als Roma, damit einen Sieg erringen konnte, ohne dass ihm jemand das Bein gestellt hätte. Und weil die Mehrheit der Bürger nichts dagegen unternimmt – entweder aus purer Erschöpfung ob ihrer täglichen dreistündigen Pendelreise zu und von der Arbeit, oder weil sie erkannt haben, dass man Idiotie nicht mit Argumenten, und Dreistigkeit nicht mit Intelligenz besiegen kann.

Kronprinz Aditya beschuldigte Autor Mistry, in seinem Buch nicht nur die Shiv Sena, sondern auch diverse andere indische Persönlichkeiten (die zu benennen er nicht als sinnvoll erachtete) verunglimpft zu haben. Darum gehört das Buch aus dem Lehrplan entfernt.
Vermutlich musste selbst Mistry die beanstandeten Passagen noch einmal lesen. Ist sein Werk doch bereits genau so alt wie Aditya. 😉

Eigentlich könnte man lachen. Aber wenn ein Bully die Brust rausreckt, dann weiß man, es folgen Schläge. Oft genug in der Geschichte Mumbais musste man sich tätliche Gewalt gefallen lassen, weil diversen Forderungen – so banal und lächerlich sie auch geklungen haben mögen – nicht Folge geleistet wurde. Bombay wurde gar ganz ermordet. Um sich solcherlei Ärger zu ersparen, entfernte der Vice Chancellor der Mumbai University das Buch binnen 24 Stunden vom Lehrplan.

Was haben Aktivisten/die Intelligenzia dazu zu sagen?

We are headed towards a fascist ethos, and society, out of fear probably, is tolerating it.

Die Gesellschaft allerdings toleriert das nicht aus Angst, sondern weil sie weiß, dass sich sowieso nichts ändert. Man ereifert sich ein bisschen, man spuckt Galle, man bringt den Blutdruck in Gefahr und leiert den Herzmuskel aus, und was hat man am Ende? Vielleicht gibt’s das Buch bald wieder im Lehrplan, vielleicht auch nicht. Egal wie, Aditya ist nun ein Markenname. Er hat gewonnen. Verlieren kann er ja auch nur, wenn er bestraft werden würde. So etwas ist in der Geschichte Mumbais aber noch nie vorgekommen. Verantwortliche bestrafen? Pfui Teufel.

Warum also sollte man sich sein Frühstück sauer aufstoßen lassen für eine Sache, die von vorn herein verloren ist? „Such A Long Journey“ erfreut sich inzwischen regen Interesses, obwohl die Sena angefragt hat, wie es denn mit einem ganzheitlichen Verbot ausschaut? Das wird noch ein paar Tage Schlagzeilen bringen, und dann bewegen wir uns zum nächsten Thema, bis in ein paar Wochen oder Monaten wieder jemand Publicity braucht.

Das Problem in Indien ist meiner bescheidenen, nicht durch Daten ratifizierten Meinung nach zweifaltig.
Zum Einen ist das Gesetz eine lasche Mimose. Es wird nicht durchgegriffen. Verfahren laufen gegen Plus Unendlich. Strafen fallen wegen mangelnder Beweislast aus. Zeugen werden aufgekauft („turn hostile“). Gefängnisstrafen werden zur Bewährung ausgesetzt oder gleich aufgehoben.
Zum Zweiten wird die Empfindsamkeit der Menschen oder Gruppierungen als unantastbar bewogen. Das mag ursprünglich mal ein Abwehrmechanismus in einer pluralistischen Gesellschaft gewesen sein, die man vor Zerklüftung bewahren wollte. Doch heute ist das mehr so ein Warmduscherkartell. Mag man was nicht, muss man nur laut genug schreien, dass man sich gekränkt fühlt, und schon wird wegrationalisiert, was die zarten Gefühle belastet haben mag. Bücher. Filme. Einrichtungen. Menschen (zum Beispiel Liebespaare in der Öffentlichkeit oder Frauen in der Disko). Alles geht.

Argumente sind vollkommen sinnlos. Du weißt doch, wie das Sprichwort geht: Lege dich nie mit einem Idiot an. Er zieht dich auf sein Niveau runter und schlägt dich dann mit Erfahrung.
Es ist ja süß, wie Mistry sich in einem eleganten Stück in der Zeitung heute gegen Aditya gewehrt hat. Aber vollkommen zwecklos. Aditya weiß ja, dass seine ganze Argumentationsführung kompletter Humbug war. Das tat ihrem Erfolg jedoch keinerlei Abbruch. Im Gegenteil. Je dämlicher die Debatte, desto mehr Quoten bringt sie. Das lohnt sich auch jedes Mal, denn es hagelt keine Strafen.

Als Raj Thackeray im Frühjahr 2008 durch seine aufwiegelnde Rhetorik gewaltsame Auseinandersetzungen in Mumbai und Umgebung verursachte, wurde er festgenommen (Martyrerbonus), verbrachte die Nacht im Gefängnis (doppelter Martyrerbonus) und wurde wieder entlassen. Das wars. Damals ging es um Nordinder, die als Migranten in Mumbai den natürlichen Mumbaikars die Arbeit wegnehmen. Einem Mann wurden damals vom aufgebrachten Mob beide Hände abgehackt. Bekam dieser Mann (oder die zahllos anderen Opfer) jemals Gerechtigkeit?

:))

Eben.

Und darum ist es vollkommen sinnlos, sich über die ganze Episode aufzuregen. Vielleicht hat die rasche Handlung des Vice Chancellors sogar dazu geführt, dass ein paar Studenten/Dozenten nicht verletzt wurden. Dass Inventar nicht kurz und klein geschlagen wurde. Wer weiß? Ich unterstütze weder die Zensur noch die Selbstzensur. Mitnichten. Aber in meinen Adern fließt Gelassenheit. Oder Gleichgültigkeit. Was auch immer es ist, es hält meinen Blutdruck innerhalb des gesunden Grenzwertes.

Was glaubt ihr denn, wen das nächste Woche alles noch interessiert?

Alternativende:

Wie sagte Salman Rushdie so schön?

Was ist Meinungsfreiheit? Ohne das Recht zu Beleidigen, existiert sie nicht.

Erklär das mal einem jungen, aufstrebenden Politiker, der sich mal fix eine Kontroverse basteln muss!

Historiker. Zensur. Mobgewalt. – Das schwer nachvollziehbare Indien.

Indien kehrt gerade wieder seine komplexe, schwer zu verstehende Seite nach außen. Es geht um das Verbot des Buches „Shivaji – Hindu King in Islamic India“ von James Laine. Dieses Buch wurde kurz nach seinem Erscheinen im Sommer 2003 verboten und verschwand vom indischen Markt. Passagen in diesem historischen Wälzwerk hatten Leser, vor allen Dingen aber andere Historiker und – aus Kalkül oder Prinzip – auch Politiker verärgert.

Woran lag das?
Schon allein der Titel des Buches stellte ein Problem dar. Das mehrheitlich Hindu-Indien kann auf gar keinen Fall jemals islamisch gewesen sein, selbst wenn es islamische Herrscher gehabt hat. Und als König kann Shivaji auch niemals ein Hindu gewesen sein. Höchstens als Person. Als König war er säkular.
Wichtiger allerdings war das letzte Kapitel des Buches, in dem sich Autor Laine „undenkbaren“ Fragen widmet. Wie könnte die Legende um Shivaji anders gedeutet werden? Gibt es alternative Interpretationen der Geschichte? Hätte er ein unglückliches Familienleben führen können? Hätte er eventuell überhaupt nicht an der damals gängigen Bhakti Bewegung interessiert sein können? Hätte er ein Harem haben können? Hätte es sein können, dass es schlichtweg in seinem Interesse gewesen war, ein Königreich zu basteln, anstatt eine Nation zu befreien? So lauten die Fragen des Autors. Bewusst provokativ. „Undenkbar“, eben.

Selbstverständlich, und das hätte Laine wissen müssen, gibt es keine alternative Interpretation der Geschichte. Es gibt nur eine Wahrheit.

November 2003

Der Verleger Oxford University Press zieht das Buch freiwillig vom Markt zurück. Noch gibt es dazu keinen wirklich bindenden Anlass, doch vermutlich hatte man gehofft, die Kontroverse so im Keim zu ersticken. Wunschdenken im indischen Kontext.

Gemäß hiesiger Logik kam es nach der Rücknahme des Buches (als es also niemand mehr kaufen und lesen konnte) zu Angriffen auf zum Beispiel das Institut, welches Laine während seiner Zettel- und Faktenwühlerei unterstützt hat.
Nachdem das Buch überhaupt nicht mehr im Binnenmarkt erhältlich war, wurde es verboten. Sowohl Laine als auch der Verlag wurden gemäß Paragraphen 153 und 153A zur Anzeige gebracht.
§153: Wantonly giving provocation with intent to cause riot.
§153A: Promoting enmity between different groups on grounds of religion, race, place of birth, residence, language, etc., and doing acts prejudicial to maintenance of harmony

So richtig bizarr wird es, wenn man bedenkt, dass das Buch im Sommer 2003 zunächst mittelprächtig anlief und gar einige positive Rezensionen in der indischen Presse erhielt. Stand in den Regalen neben Hillary Clintons neuem Wälzer, wurde gekauft, gelesen und weggeräumt. Es dauerte eine ganze Weile, bis jemandem auffiel, dass der nationale Held Shivaji darin absichtlich in die Gosse gezogen wurde.

Juli 2010

Der Supreme Court Indiens hat das Verbot des Buches jüngst wieder aufgehoben, doch der beleidigte Staat Maharashtra weigert sich, das Buch wieder zuzulassen. In anderen, erschütternderen Worten: Die Exekutive hat einfach keinen Bock auf die Anweisung der Judikative. Weil das Buch doof ist und damit Basta!
Um sich in Zukunft nicht mehr von den wirren Herren in ihren Roben reinschnattern lassen zu müssen, erwog Maharashtra in Folge der ollen Panne gar, ein nagelneues Gesetz einzuführen. Zum Schutze ehrwürdiger Personen, deren Ansehen nicht beschmutzt werden darf. „Anti-Defamation Law“ nennt sich dieser Geistesblitz, und ob es je dazu kommen wird, beobachten wir weiterhin.

Doch die eigentliche Frage bleibt doch bestehen. Warum gibt es Figuren, die so „ikonisch“ sind (dieses Wort wird im geplanten Gesetz benützt), dass ich nichts über sie sagen/schreiben darf, das anstößig sein könnte. Wer sind diese Ikonen? Was macht sie so unantastbar? Was ist anstößig? Und wer entscheidet das überhaupt?

Es ist durchaus beängstigend, wenn man bedenkt, dass nicht einmal leichteste Kritik an einem Herrn Shivaji geäußert werden darf. Was würde mit mir passieren, wenn ich einen lustigen (oder auch nicht lustigen) Cartoon über Shivaji zeichne? Oder wenn ich mir einen anderen Nationalhelden vornehme? Vermutlich wäre es reiner Selbstmord (in Indien strafbar!), wenn ich Gandhi mit einer Schüssel Hühnersuppe skizzieren würde. Mit solchen großen Namen ist nicht zu spaßen. Gandhi durfte nicht einmal unbestraft für ein Produkt des Hauses Mont Blanc benutzt werden, da ein Luxusfüllfederhalter nicht zum Spinnradhelden passt. Und versteckt sich in dem nicht existenten, frisch von mir geschöpften Wort Spinnradheld etwa den Mahatma verletztende Ironie? Muss ich aufs Schafott?

Vielleicht ist es ja wünschenswert, wenn man Ikonen pflegt. Wenn eine Nation nichts auf seine Helden kommen lässt. Vielleicht poliert das das nationale Image etwas auf. Definitiv etwas, das Deutschland gebrauchen könnte, was mit seiner beknackten Bildzeitungsattitüde. Doch würde ich für einen solchen das deutsche Ego hätschelnden, unantastbaren Held mit Zensur, Selbstzensur und Gewalt zahlen wollen? Würde ich mir Schuhcreme ins Gesicht schmieren lassen wollen, wie es einem der involvierten Professoren ergangen ist? Doch wohl eher nicht. Lieber seh ich die Kanzlerin, die ich respektiere, in einer Karikatur barbusig unter der Bettdecke schlummern, wie das auf einem alten Eulenspiegelexemplar der Fall war, welches ich jüngst entsorgt habe.

Wir werden den Fall beobachten müssen.

Keine Herztöne

Montag war Indien mal wieder sensationell nachrichtenwürdig. Denn es fand ein landesweiter, erzwungener Streik statt. Bandh nennt sich das hierzulande und ist seit 1998 illegal.

Ein Streik ist ein vollkommen legitimes, sinnvolles demokratisches Mittel. Ein Bandhhingegen ist eine bösartige Geschwulst der Demorkatie. Eine oder mehrere Parteien rufen zu einem solchen Bandh auf, geben sich der Ordnung halber noch einen mehr oder minder plausibel klingenden Grund, und erwarten dann, dass die Bevölkerung artig zu Hause bleibt. Auf Arbeit gehen, sein Geschäft öffnen, sein täglich Brot verdienen – das ist dabei genau so unterdrückt wie einkaufen gehen, zur Schule gehen, etc. Das heißt nicht, dass die Bürger gegen einen Missstand protestieren, sondern dass die Bürger im Namen eines Missstandes zur Geißel genommen werden.

Am Montag lief das so ab, dass die Oppositionsparteien zum Bandh aufriefen, um gegen diverse Dinge zu „protestieren“:
– generellen Preisanstieg
– Benzinpreiserhöhungen im letzten Jahr
– Geplante Deregulierung der Benzinpreise

Fast könnte man meinen, die Opposition sei ums Wohlbefinden der Bürger besorgt. Fast könnte man meinen, hier handle es sich um ein Volk im Aufruhr gegen wirtschaftliches Missmanagement. Diesem Irrglauben verfiel zum Beispiel auch die Süddeutsche in einem makaberen Bericht zum Thema. Alles Schmarrn.

Tatsächlich hatten Politiker mit stattlichen Körperproportionen bereits am vergangenen Freitag dazu aufgerufen, dass das Land am 5. Juli stillzustehen hatte. Einrichtungen sollten geschlossen bleiben. Firmen, Geschäfte, Schulen, Büros – alles sollte die Rollläden unten haben. Taxen und Busse und Rickshaws sollten nicht fahren. Niemand sollte das Haus verlassen.
Bei Zuwiderhandeln drohte Gewalt. Züge und Busse, die trotzdem fuhren, wurden angehalten und zerstört. Busfahrer und Passanten (also die echten Bürger Indiens) wurden verletzt und bepöbelt. Tagelöhner, denen ein solcher „Streik“ am meisten weh tut, wurden vermöbelt. Rickshaw- und Taxifahrer, die sich ihr Tagesgehalt nicht entgehen lassen wollten, wurden angegriffen, ihre Gefährte zerstört. Die echten Bürger Indiens, die einfach nur ihr Leben leben wollten, wurden in Angst und Schrecken versetzt. Deshalb waren die Straßen wie leer gefegt.

Die Bürger Mumbais waren clever. Sie wussten ja seit Freitag, was hier los sein würde, und Bandh-geprüft, wie sie sind, haben sie (die sich das leisten konnten) das verlängerte Wochenende genutzt, um in den Urlaub zu fahren. Resorts und Hotels um Mumbai (wie zum Beispiel LonavlaMatheran und Mahabaleshwar) waren ausgebucht. Stand in der Zeitung.

Die „streikenden“ „Bürger“, die man auf diversen Fotos sehen kann, sind keine Menschen wie Du & Ich, die die Nase voll haben von den Missetaten der Regierung, sondern parteispezifische Mobs. Alles, was sie tun, tun sie für die Kameras. Dabei hielt sich die Zerstörung dieses Jahr noch in Grenzen, da es neuerdings juristisch möglich ist, die Randalierer zur Kasse zu bitten.

Wenn man also irgendwo liest, „die Inder hätten protestiert“, dann höhnt dies der Realität. Die Ironie des Schicksals liegt nun noch darin, dass dieser Bandh zu weiteren Preisanstiegen führte. Nur weil die Oppositionsparteien mal Halligalli machen wollen, heißt das ja nicht, dass wir von Luft und Liebe leben können. Lebensmittel konnten aber einen ganzen Tag lang nicht transportiert werden. Sie konnte auch nicht produziert werden. Ergo sind Gemüsepreise schon wieder kurzfristig angestiegen. Danke, liebe Opposition, das habt ihr gut gemacht. :roll:

Ehrenmorde in Indien

Am 28. Juli 2009 wurde das Thema Ehrenmord zum ersten Mal im indischen Parlament angesprochen: Mehrere Minister verschiedener Parteien verlangten, dass sich die Regierung mit dem wachsenden Problem auseinandersetzen solle. Man möchte, dass separate Gesetze erarbeitet werden, die sich ausschließlich mit Ehrenmorden auseinandersetzen.

Worum geht es?
Ehrendmorde treten in den westlichen Medien fast ausschließlich in Verbindung mit dem Islam auf. In Indien allerdings handelt es sich um ein Phänomen, welches auch im Hinduismus und im Sikhismus vertreten ist. In den letzten Wochen hat es einige Fälle gegeben, die Aufmerksamkeit verdient hätten, doch die Schweinegrippenpanik verhinderte, dass sich diese bedenklichen Fälle auf mehr als einer Hand voll Titelseiten sozial engagierter Nachrichtenmagazine wiederfanden.

9. August 2009
Sandeep Singh (22) und Monika (16) baumeln an einem Strick von einem Baum in Siwana im Jhajjar Distrikt, Haryana. Sie wurden erschlagen und danach aufgehangen.
6. August 2009
Im Rohtak Distrikt, ebenfalls Haryana, wird ein Paar von der Brautfamilie zu Tode geprügelt.
22. Juli 2009
Ved Pal Maun (27) wird im Dorf Singhwal im Jind Distrikt, Haryana, von einem Mob erschlagen. Er war zum Haus seiner Schwiegereltern gekommen, um seine Frau Sonia abzuholen, die dort gefangen gehalten wurde. Die fünfzehn Polizisten, die er als Begleitschutz dabei hatte, konnten sein Leben nicht retten. Von Sonia fehlt jede Spur.

Das Blut dieser drei jüngsten Fälle ist noch frisch. Es handelt sich um Ehrenmorde. Niemand verlor in diesen Fällen mal kurz die Beherrschung oder handelte gar unüberlegt, spontan, im Affekt. Ein Ehrenmord ist kein „herkömmlicher“ Mord, sondern ein Todesurteil, welches von der Gemeinschaft vollstreckt wird, beispielsweise einem beträchtlichen Teil des gesamten Dorfes.

Was sind Khap Panchayats?

Panchayats sind Dorfräte, diezum traditionellen, dezentralisierten Verwaltungssystem Indiens gehören. Es sind vollkommen legitime, demokratisch gewählte, gesetzlich anerkannte Körperschaften, die u.a. administrative Aufgaben besitzen.
Dann gibt es noch eine andere Struktur, die sich Khap Panchayat nennt bzw. Kastenpanchayat. Diesen Vereinigungen gehören ausschließlich Männer an. Es handelt sich um Räte, die aus mehreren Kasten gebildet werden und deren Einzugsgebiet sich über mehrere Dörfer oder ganze Distrikte erstreckt. Diese Gruppierungen werden entweder nach der dominanten Kaste oder der Region benannt. Sie sind nicht legitim und besitzen keinerlei gesetzlich anerkannte Position/Funktion. Dieser Umstand hält sie allerdings nicht davon ab, in ihrem Einzugsgebiet als gesetzgebende Einheit zu funktionieren.

Der Khap Panchayat repräsentiert das soziale Gesetz der Region. Es gibt ihn in den nordindischen Bundesstaaten Haryana, Punjab, Uttar Pradesh sowie Rajasthan, und er ist mächtig. Seine selbsternannte Aufgabe ist es, die moralischen Gesetze der Gemeinschaft zu schützen. Dies tut er in Sitzungen, Verhandlungen und Richtersprüchen: Was die Vorsitzenden des Khap Panchayats beschließen, hat innerhalb des Geltungsbereiches des bestimmten Khaps Gesetzeswert.

Verbotene Hochzeiten

Indiens extrem traditionelle Gesellschaft duldet keine Liebeshochzeiten. Das liegt u.a. daran, dass einer Liebeshochzeit die freie Entscheidungsgewalt eines jungen Paares zu Grunde liegt, und diese freie Entscheidungsgewalt bedeutet gleichzeitig, dass der Einfluss der älteren Generation schwindet. Die alten Normen zerbröckeln. Alte Macht verfällt. Dies ist ein Umstand, den kein Ältestenrat freiwillig dulden kann. Es gilt daher, Liebeshochzeiten zu verhindern.

Im Hinduismus gibt es Kasten und Clans. Traditionell ist es nicht erlaubt, dass Angehörige unterschiedlicher Kasten heiraten. Gleichzeitig ist es den Angehörigen derselben Kaste untersagt sich zu ehelichen, wenn sie demselben Clan angehören. Ähnlich dem Christentum, in dem davon ausgegangen wird, dass die Menschheit von Adam und Eva abstammt und somit irgendwie verwandschaftlich verbunden ist, gibt es ein vergleichbares Prinzip, wonach Angehörige einer Kaste, die im selben Dorf oder Distrikt wohnen, zum selben Clan gehören. Dieser Clan nennt sich Gotra. Eheliche Beziehungen innerhalb derselben Gotra werden als Inzest betrachtet, was strengstenst verboten ist und sehr starke, emotionale Reaktionen hervorruft.

Die Todesurteile des Khap Panchayats

Wenn ein Paar nach eigenem Gutdünken heiratet, kommt es manchmal vor, dass sie zum selben Clan oder Gotra gehören. Der Khap Panchayat hat daraufhin einen gesellschaftlich anerkannten Grund, eine solche Ehe als nichtig zu erklären. Nach einer solchen „Verhandlung“ des Khaps wird das Paar dann gezwungen, die Ehe aufzulösen. Manchmal muss die Frau am Handgelenk ihres Ehemannes ein Rakhi binden, um ihn als ihren Bruder anzuerkennen. So wurde schon so manche Ehe „geschieden“, selbst wenn das Paar bereits Kinder hatte. Sie dürfen nicht mehr zusammen wohnen. Sie sind ja eigentlich Geschwister.

Nicht immer fügen sich die abtrünnigen Paare einem solchen Beschluss. Im Jahr 2007 beschloss der Khap, dass Mahesh und Gudiya Singh nicht rechtmäßig verheiratet seien, da sie zum selben Clan gehörten. Als sich das Paar weigerte, den Beschluss des Khaps anzuerkennen, verhing dieser ein Todesurteil, welches wenige Stunden später ausgeführt wurde. Das Paar wurde in Stücke gehackt. Die Leichenteile wurden verbrannt.

2007 beschloss der Banwala Khap, die Ehe zwischen Manoj und Babli aus dem Dorf Karoda sei nicht rechtens. Ein Todesurteil wurde verhängt und ausgeführt. Derselbe Khap beschloss das Todesurteil für Ved Pal am 22. Juli 2009.

Geld & Landgewinn

Es ist nicht zwingend notwendig, dass ein Paar zum selben Clan gehört, um den Khap zu verärgern. Schon allein die Tatsache, überhaupt ohne den Segen der Älteren geheiratet zu haben, kann den Khap dazu bewegen, ein Paar schlichtweg als zum selben Clan gehörend zu erklären – unabhängig davon, ob das nun zutrifft oder nicht. Das Urteil bleibt gleich: Scheidung. Verbannung der gesamten Familie aus dem Dorf. Oder ein Todesurteil.

Besonders lohnenswert ist es für den Khap, eine Familie zu verbannen. So geschah es der Familie Gehlout im Dorf Dharana. Der in Delhi lebende Enkelsohn Ravinder hatte ohne Erlaubnis Shilpa geheiratet. Ob das dem Khap nicht passte, weil beide zu verschwägerten Clans gehörten, zwischen denen es ein „Nichtheiratsabkommen“ gab, oder ob sich der Khap zur Empörung bewogen fühlte, da die Familie Gehlout über beträchtliche Massen fruchtbaren Farmlandes verfügte – wer weiß? Wen juckts? Fakt ist, dass der Khap die Familie Gehlout bestrafte, indem eine Verbannung ausgesprochen wurde. Die gesamte Familie Gehlout hat das Dorf Dharana zu verlassen. Praktischerweise fällt das zurückgelassene Land an den Khap.

Diverse Urteile

Khaps befassen sich mit allerlei Dingen, die das gesellschaftliche Leben ihrer Unterlinge betreffen. Im Distrikt Rohtak im Bundesstaat Haryana beschloss der Ruhal Khap im März 2007, dass während Hochzeiten keine DJs mehr auflegen dürften. Als Grund hierfür wurde angegeben, dass die laute Musik die Milchkühe stören würde. Der eine oder andere mag sich auch dadurch gestört fühlen, dass Musik in Verbindung mit einer Tanzfläche häufig dazu führt, dass sich junge Männer und Frauen näher kommen.

Einen Monat später wurde im Distrikt Jind in Haryana Cricket verboten, da das englische Spiel die jungen Männer des Dorfes irreführen würde. Die sollten lieber kabaddi und kho-kho spielen. Wer dennoch Cricket spielt, dessen Familie muss für sieben Generationen Strafe zahlen.

Diese Urteile sind noch recht banal und unterhaltsam. Weit besorgniserregender ist ein Urteil aus dem Jahre 2004, welches vom Tevatia Khap in Ballabhgarh im Distrikt Faridabad (in unmittelbarer Nähe der Hauptstadt Delhi) verhängt worden ist: Familien mit weniger als zwei Söhnen dürften den Khap nicht mehr um Hilfe bitten, wenn es Zwistigkeiten gäbe. Seitdem tun Dorfbewohner in Ballabhgarh alles, um keine Töchter zu bekommen. Das Geschlechterverhältnis ist von 683 Mädchen pro 1.000 Jungen im Jahre 2004 auf 370:1.000 im Jahre 2008 gesunken.

Unterstützung für den Khap Panchayat

Dorfbewohner verehren ihren Khap. Für sie ist er eine Institution, die bekannte Werte und Normen schützt, das tägliche Leben regelt, Streitigkeiten aus der Welt schafft und in gewisser Weise für Recht und Ordnung sorgt. So kommt es, dass sich so viele Dorfbewohner an der Vollstreckung z.B. der Todesurteile beteiligen.
Am 9. Mai 2008 hatte man die schwangere Sunita und ihren Mann Jasbir an einen Baum gefesselt und mit einem Traktor überfahren. Die Leichen wurden vor Sunitas Haus aufgehangen, um andere junge Burschen zu warnen, nicht denselben Fehler zu begehen und unerlaubt im selben Clan zu heiraten. Dies geschah im Dorf Balla im Distrikt Karnal, Bundesstaat Haryana.
Faszinierend und verstörend zugleich ist die Reaktion der Dorfbewohner. „Was sonst soll man mit solchen Kindern machen?“, fragt Kamal, deren Mann einer der Hauptverdächtigen ist. Jai Sing, ein Mitglied des hiesigen Khaps, meint dazu: „Eltern solcher Kinder sollten sie einfach stillschweigend töten. Nicht viele bekommen die Möglichkeit geboten, ihre Loyalität gegenüber der Bruderschaft zu beweisen.“ Damit meint er den Khap und die Gemeinschaft, die dieser darstellt.

Warum tut der Staat nichts dagegen?

Khaps sind mächtige Gemeinschaften. Ihnen folgen tausende wahlberechtigter Bürger. Selbstverständlich macht der Khap Panchayat während einer Wahl auch den Namen des Politikers bzw. der Partei publik, welche/n die Zustimmung des Khaps genießt. Die Dorfbewohner, die dem Khap angehören, machen ihre Wählerkreuzchen dann an der entsprechenden Stelle. Es ist einer politischen Karriere im Einzugsgebiet eines Khaps nicht dienlich, die Institution und Machenschaften desselben zu kritisieren oder gar die illegalen Aktivitäten unterbinden/ahnden zu wollen. Daher überrascht es kaum, dass Chief Minister von Haryana, Bhupinder Singh Hooda, zum Fall Ved Pal nur so viel zu sagen hatte: „Es ist eine gesellschaftliche Angelegenheit und die Gesellschaft hat das Recht zu entscheiden.“

Bereits 2006 nannte der Supreme Court Indiens die Khap Panchayats „barbarische Institutionen“, denen jede legitime Existenzgrundlage fehlte. Als das Thema am 28. Juli 2009 zum ersten Mal im indischen Parlament angesprochen wurde, reagierte Innenminister Chidambaram passend bestürzt. Das Land müsse den Kopf in Schande beugen, meinte er. Doch zu separaten Gesetzen für Ehrenmorde wollte er sich nicht festlegen.
Soziale Aktivisten allerdings bestehen darauf, dass es notwendig ist, Ehrenmorde vor dem Gesetz von „normalen“ Morden zu trennen, wie das auch bei der Witwenverbrennung Sati getan wurde. Nur so wird das Problem der stetig zunehmenden Ehrenmorde anerkannt und kann folglich addressiert werden. Bisher werden Ehrenmorde nicht separat gelistet und es gibt keine verlässlichen Daten, wie viele solcher Morde stattfinden. Das Nachrichtenmagazin Tehelka zitiert NGOs, die von mindestens vier Todesurteilen durch Khaps pro Woche ausgehen. Am 23. Juni 2008 erklärte Richter Kanwaljit Singh Ahluwalia vom Punjab und Haryana High Court, dass die Gerichte in den vergangenen fünf Jahren von tausenden Hilfeanfragen von jungen Paaren überschwemmt worden waren: Paare, die das Gericht um Personenschutz baten, weil sie bedroht werden. Das hatte auch Ved Pal getan. Der High Court hatte ihm fünfzehn Polizisten zur Verfügung gestellt. Genützt hat ihm das wenig.

Weiterführende Links:
Tehelka: „Taliban In Our Backyard – A Journey Through The Diktat Lands Of Rape And Murder

Frontline: „In The Name Of Honour

Goondagiri – Das Gesetz des Mobs

Indien wird häufig mit den gewaltfreien Lehren Gandhis in Verbindung gebracht. Seine Taktiken und Methoden werden durch den relativ neuen Begriff „Gandhigiri“ beschrieben. Wer also durch einen gewaltfreien Sitzprotest sein Ziel erreicht, der kann gern behaupten, er wäre mit Gandhigiri erfolgreich gewesen.
Diese erhabene Fachsprache hat in Verbindung mit den immer häufiger auftretenen Fällen von Mobgewalt dazu geführt, dass ein neuer Begriff aus der Taufe gehoben wurde: Goondagiri.

Ein Goonda ist ein Gauner, häufig ein Ganove mit politischen Verbindungen. Ein Kleinkrimineller.

Raj Thackeray, der in diesem Blog schon mehrfach Erwähnung fand, wird in den Medien inzwischen als Goondaraj gehandelt. Ein Raja ist ein König, und Raj ist der König der Ganoven.

Seit Sonntag Abend ist es in Mumbai wieder zu Ausschreitungen gekommen. In Fotos sieht das so und so aus. Die politischen Hintergründe der immer wiederkehrenden Gewalt nach einer aufwühlenden Ansprache des Ganovenkönigs kann man hier nachlesen. Zusammengefasst lässt sich sagen, dass Raj Thackeray und seine inzwischen drei Jahre alte Partei MNS (Maharashtra Navnirman Sena) den stetigen Migrantenzustrom nach Mumbai nicht ertragen können. Ihrer Meinung nach strömen Menschen aus den ärmeren, nördlichen Bundesstaaten Indiens wie Bihar und Uttar Pradesh in Scharen in die Finanzhauptstadt Indiens und nehmen der Lokalbevölkerung die Arbeit weg. Als Antwort auf dieses durchaus realistische soziale Problem nehmen Anhänger der MNS Schlagstöcke, Steine und brennende Reifen in die Hand und zeigen es den Migranten.

Am Montag Morgen wurde Raj Thackeray wegen Aufwiegelung des Volkes mit der Intention, Unruhe und Gewalt zu stiften verhaftet und nach Mumbai gebracht, wo er die Nacht in einem Gefängnis im Stadtteil Kalyan verbracht hat. Zuvor hatte Raj gemeint, Mumbai wird in Flammen aufgehen, würde er verhaftet. Dem war dann tatsächlich so, und inzwischen sind diesen Unruhen zwei Menschen zum Opfer gefallen.
Was ich all diesem regelmäßig auftretenden Kuddelmuddel (Raj wurde zuvor schon verhaftet, auf Kaution freigelassen, etc.) nicht so ganz verstehe, ist die lasche Attitüde der Landesregierung. Warum lässt man Raj nicht im Kerker versauern? Theoretisch und mit viel Fantasie sowie einer willigen Justiz könnte man ihn sogar wegen Anstiftung zum Mord drankriegen. Alle Attentäter und Unruhestifter, die ja im Großteil der Fälle durch stark präsente Fernsehkameras auf Band festgehalten worden sind, sollten ebenfalls die Höchststrafe absitzen.

Die Schlagworte des Ganovenkönigs und seiner Partei sind durchaus treffend. Mumbai muss – wie Delhi auch – einem ständigen Zustrom von Migranten Stand halten. Diese kommen, wie die Protagonisten in Lapierres City of Joy, aus Armut und Frustration in die Städte. Landwirtschaft ist weder ertragsreich noch erträglich. Also fahren diese Männer Rickshaws, Taxen oder verkaufen Waren, während ihre Familien im Dorf  bleiben und mehrheitlich von dem Geld leben, das ihre Männer ihnen schicken. Ein Rickshawwallah verdient ca. 3500 Rupien im Monat.

Beim Durchforsten des Internets nach diesem Problem sind mir besonders zwei Dinge aufgefallen.
Erstens scheinen sich Marathen, also die Lokalbevölkerung Maharashtras, von Migranten nicht nur jobtechnisch bedroht zu fühlen, sondern sie haben Angst davor, dass ihre Kultur, ihre Sprache und ihre Identität von Außenseitern überrannt wird. Einige der Erfahrungsberichte von Marathen erzählten davon, wie sie besonders kurz nach der Gründung des Bundesstaates in den frühen 60ern gehänselt wurden. Marathen hatten einen schlechten sozialen Status. Man möchte nicht von Bihari Migranten verachtet werden, oh nein! Außerdem wird bemängelt, dass niemand Marathi lernt. Die Sprache und Kultur des Bundeslandes, in dem sie leben, scheint die Migranten nicht zu jucken.

Zweitens sind die Belange der Marathen ganz einfach Belange, die jede Gemeinde betrifft, die ständig neue Zuwanderer aufnimmt. Warum sich erst radikale und gewaltbereite Gruppen bilden müssen, um die doch zutreffenden Ängste und Probleme der Lokalbevölkerung zu addressieren, erscheint mir nicht ganz logisch. Genauso gut könnte sich die Landesregierung mit diesen Problemen auseinandersetzen. „Goondagiri – Das Gesetz des Mobs“ weiterlesen

Bombay ist tot

Bombay steht hier nicht für eine Stadt, die im Sud ungeplanter, gedankenloser Evolution untergeht. Bombay steht für die Mentalität, die besonders Langzeitbewohner eng mit Bombay in Verbindung bringen: Kosmopolitische Attitüde. Weltoffenheit. Freiheit. Eine Perle in einem an Tradition erstickendem Land. Und diese Mentalität ist, wie Bombay, nicht mehr anzutreffen. Sagen Langzeitbewohner.

Bombay ist tot.

mumbai bmc

Diese Entwicklung geht Hand in Hand mit einer sagenhaften Bevölkerungsexplosion unter Mimosen, deren zarte Sensibilitäten es vorraussetzen, dass heute nicht mehr gesagt, geschrieben, gefilmt, getan und gegessen werden darf, was gefällt, sondern was nicht weh tut.

Mimosen befinden sich überraschenderweise nicht ganztägig im schmerzlichen Zustand überbeanspruchter, kollabierter Nerven auf dem Sofa liegend, wo sie in regelmäßigen Abständen an ihren Duftsalzen schnuppern und tragisch aufseufzen, wie man das von Menschen erwartet, denen ein Buch, ein Film, ein Zeitungsbericht tödliche Verwundungen beifügen kann. adult smileys
Sondern Mimosen sind echte Kumpels. Und obwohl eine Mimose alleine beim Anblick schockierenden Materials dahingerafft werden kann, ist ein Trupp Mimosen ein Energiebündel, das Seinesgleichen sucht und unter Umständen säbelwetzend durch die Vororte einer weltoffenen Metropole randalieren kann. adult smileys Langzeitbewohner schütteln in Feuilletons den Federkopf. :no:

So geschehen letzten Freitag und Samstag, als ein Sikh im Stadtteil Mulund erschossen wurde, woraufhin alle Sikhs ihre Kirpans schwangen. Praktisch in diesem Zusammenhang ist die religiös bedingte Notwendigkeit der Sikhs, stets einen Dolch (Kirpan) bei sich zu tragen.
Diese Episode klirrender Klingen ist Eskalation eines Mimosenmobs, und mit Hilfe dieser Geschichte möchte ich beschreiben, wie Bombay zunehmend Schauplatz irrer Akte nicht-medikamentierter Demenz wird, die bezeugen, was Langzeitbewohner Bombays schon lange wussten: dass die Stadte heute mehr Hammel beherbergt, als ihrem angeblich weltoffenen Charakter gut tut.

Während die tatsächlichen Hergänge des vergangenen Freitages hier (Englisch) nachgelesen werden können, fasse ich den Nachmittag mal kurz zusammen.
Baba Gurmit Singh Ram Rahim, Chef der Dera Sacha Sauda und im Folgenden einfach nur „A“ genannt, besucht ein Einkaufszentrum in Mulund. Kürzliche Aktivitäten As haben dazu geführt, dass traditionelle Sikhs ihm nicht wohlgesonnen sind. Während er der Konsumlust fröhnt, wird er von B erkannt. B ist ein Sikh und versucht A zu kontaktieren, was durch As Leibwächter unter Zuhilfenahme von Drohgebärden unterbunden wird. B ist mächtig sauer und ruft seinen Kumpel C an, der mal eben mit ein paar weiteren Kumpels vorfahren soll, um eine relativ harmlose Situation (ein gekränktes Ego) in eine verschärfte Situation zu verwandeln, die mit folgenden Zutaten eine explosive Mischung darstellt:
A = kontroverser Politiker
B = Ein wütender junger Mann und seine Freunde, die zwar nicht dabei waren, deren Wut sich aber als ein zulässiger Freundschaftsdienst versteht
C = Leibwächter mit Schusswaffen
Wenig später ist ein Mann tot.

Es ist eine Reaktion typisch für ein Land, in dem Lebensraum knapp ist; in dem man sich täglich wegen absurder Kleinigkeiten streiten muss; und in dem das Ego darum unter Dauerbeschuss ist. Kommt nach einem anstrengenden Tag dann noch jemand und pinkelt dir ans Bein, dann ist die Kacke am Dampfen das Fass am Überlaufen. Ein Wochenende wird mit Steinwürfen und Randalen eingeläutet. Der nordwestliche Bundesstaat Punjab, in dem Sikhs numerisch überwiegen, wurde durch diese Episode gar zum Stillstand gebracht. Man war zwar nicht dabei und hat gar keine Ahnung, muss sich auf häufig widersprüchliche Informationen der blutrünstigen Medien stützen etc, aber man hält zusammen.

Da kommen die Worte des alternden Shiv Sena-Oberhauptes zur Abwechslung mal wie gerufen: „Aufhören, sofort aufhören! Randalieren dürfen hier nur wir.„, brüllte der Löwe, über dessen geistige Kapazitäten ich bereits im vorbereitenden Artikel „Bombay gibts nicht mehr“ gefaselt habe.

Nichts gegen Sikhs. Das ist nur ein Beispiel einer anfangs harmlosen Situation. Kein Tag vergeht mehr, an dem nicht die verletzten Befindlichkeiten einer Bevölkerungsgruppe einen neuen Mimosenmob zusammenrotten, der deutlich macht, wie gefährlich es sein kann, die viel gepriesene Weltoffenheit Bombays beim Wort zu nehmen.

Re-Branding Mumbai – Englischer Artikel von Antara Dev Sen
Sikhs protesting Firing in Mulund – Englischer Nachrichtenartikel mit weiterführenden Links

Kastenkrieg 2008

Genau ein Jahr ist es her, da die Hirten-Kaste der Gujjars in Gujarat das erste Mal um einen niedrigeren Stand in der Kastenhierarchie kämpfte, um in die Klassifizierung der sog. Scheduled Castes (ST) aufgenommen zu werden. Diese Klassifizierung bringt ihnen Vorteile im Rahmen von Förderungsmaßnahmen der indischen Regierung. Diese Förderungsmaßnahmen sind in der indischen Verfassung verankert und übersetzen sich in Reservierungen bei Jobs und in Bildungsstätten.

Siehe: Reservierungspolitik in Indien (Wikipedia, Englisch)
Siehe: Kastenkrieg 2007

Seit knapp zwei Wochen brodelt es nun bereits wieder im nordwestindischen Bundesstaat Rajasthan. Die Gujjars der Umgebung haben sich zusammen gefunden, blockieren Autobahnen, Schienennetze und randalieren großflächig. Die Randale haben bisher 41 Menschen das Leben gekostet. Der Protestzug hat Delhi erreicht, wo man bereits zittert ob der Gewalt, die die Hauptstadt erwartet. Der Anführer der Gujjars hatte zuvor Gespräche mit Rajasthans Chief Minister Raje abgelehnt, erklärte sich nach der Stilllegung der Hauptstadt allerdings dazu bereit, Gespräche mit Vertretern der BJP (rechts stehende politische Partei) zu führen.

Man erwartet gespannt die Reaktion der Regierung, denn dieser Präzedenzfall wird entscheiden, wie die Zukunft der durch Kastendenken zerklüfteten Landschaft Indiens ausschaut. Beugt sich die Regierung den Forderungen der Gujjars, dann darf davon ausgegangen werden, dass andere Kasten den Gujjars Folge leisten und nach einer Klassifizierung fragen werden, um in den Genuss der Fördermaßnahmen zu kommen.

Video: Gujjar Aufstände in Delhi
Times of India: Delhi braces for Gujjar protest
CNN IBN: Gujjars retreat after bringing Delhi to a halt

Unruhen in Gujarat 2002: 20 Fälle sollen wiederaufgerollt werden

Der höchste Gerichtshof Indiens hat entschieden, dass zehn Fälle aus den Unruhen in Gujarat wiederaufgerollt werden sollen.

Artikel India Today (Englisch)

2002 war es im westindischen Bundesstaat Gujarat zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Hindus und Muslimen gekommen, nachdem im Februar 59 Hindus in einem Zug voller Hindupilger ermordet worden waren. Offiziellen Angaben zu Folge kam es zu rund 1.000 Todesopfern; wobei NGOs die Ziffer auf 2.000 ansetzen. Eine (englische) Zusammenfassung der Gewalttaten in Gujarat während dieser Wochen der Unruhen gibt es bei Wikipedia.

Dossies rund um das Thema „Gujarat Unruhen 2002“ gibt es unter diesem Link. (Englisch)

Der Pogrom in Gujarat (deutscher Beitrag von suedasien.info)

Polarisierungen verwischen: Sprache und Übersetzung zur Zeit der Unruhen in Gujarat (Beitrag von Rita Kothari)

Vieler Inder sind unzufrieden mit den Verurteilungen, die den Unruhen folgten. Die Täter, die während der Gewaltakte plünderten, mordeten und vergewaltigten, wurden nicht alle bzw. unzureichend zur Rechenschaft gezogen. Nun sollen zehn Fälle neu aufgerollt werden, um sechs Jahre nach den Verbrechen vielleicht doch Gerechtigkeit für die Opfer zu schaffen.

Raj Thackeray und Abu Azmi frei

Die Medien nennen es Raj Tamasha (Drama), und vermutlich treffen sie damit den Nagel auf den Kopf: nachdem ich die Entwicklungen im Fall Raj Thackeray in den letzten beiden Wochen sehr genau verfolgt habe und gestern berichten konnte, dass es letztendlich doch zur Verhaftung von MNS-Chef Raj Thackeray und SP-Chef (Mumbai/Bombay) gekommen ist, drang zwei Stunden später bereits die Nachricht an die Luft, dass beide auf Bewährung freigelassen worden waren.

Die Situation in Mumbai war und ist weiterhin ruhig, obwohl es vereinzelt zu Zwischenfällen kam, vorwiegend in den Vororten Jogeshwari, Kandivali und Dahisar. Viele Geschäfte in Mumbai Süd blieben gestern ebenfalls geschlossen – eine vorbeugende Maßnahme, wie Geschäftsinhaber in Interviews erklärten.

In Nashik kam es während der dortigen Proteste zu einem Todesfall: Ein Stein, der von Protestanten auf Busse geworfen worden war, traf einen 55-jährigen Marathen am Kopf und verletzte ihn tödlich. Gegen den Steinwerfer Sandeep Bhavar (MNS-Mitglied) wurde bereits Haftbefehl wegen Mordes erlassen. Bhavar befindet sich seitdem auf der Flucht. CNN-IBN Artikel

Videolink: Randale in Nashik

Obwohl sich die Lage seit Thackerays Freilassung wieder entspannt hat, flüchten nordindische Migranten in Pune weiterhin per Zug zurück in ihre Heimat.

Hitlers Vermächtnis in Maharashtra

Vergangene Woche berichtete ich bereits über die Unruhen in Mumbai im Nachrichtenblog, doch das Thema lässt weder mich noch Mumbai los: Parteichef der rechts-außen stehenden, jungen Partei MNS (Maharashtra Navnirman Sena), Raj Thackeray, hat sich als garstiger Verschnitt seines Onkels Bal Thackeray profiliert. Bal Thackeray leitet die ebenfalls rechts-außen stehende Partei Shiv Sena, die häufig für ihre Gangsterpolitik in den Nachrichten auftaucht. Sowohl die Shiv Sena als auch die MNS verschreiben sich den Marathen, den „ursprünglichen“ Bewohnern des westindischen Bundesstaates Maharashtra, und beide tun dies nicht indem sie den Marathen helfen, sondern in dem sie imaginäre Feindbilder erschaffen und diese dann in die Tonne treten. Wörtlich.

Kurz nachdem die Shiv Sena 1966 von Bal Thackeray aus der Taufe gehoben worden war, griff man südindische Zuwanderer in Mumbai an. Sie machten gerade mal einen einstelligen Prozentsatz der Gesamtbevölkerung Mumbais, damals noch Bombay, aus und waren darum wie geschaffen für die Rolle als Prügelknabe.

Heute haben Nordinder diese Rolle übernommen. Mit „Nordindern“ sind Migranten aus den nördlichen Staaten Bihar und Uttar Pradesh gemeint, deren vermeintliche Sitten- und Zügellosigkeit als destruktiver Einfluss auf Mumbai und die fragile Kultur der Marathen gewertet wird. Was liegt also näher, als diese Störenfriede loswerden zu wollen?

Raj Thackeray hat darum am vor-vergangenen Sonntag einige Tiraden losgelassen, die – um seine noch unbedeutende Partei zu etablieren – weiterhin das Feindbild des nordindischen Migranten schüren sollten. (Den genauen Hintergrund dazu habe ich bereits im Nachrichtenblog beschrieben.)

Seitdem hat es in kurzen Abständen überall in Mumbai und den Vororten Randale gegeben. Ständig kommen neue Hiobsbotschaften von verschiedenen Parteien (einschließlich der Shiv Sena, der Samajwadi Party und neuerdings der BJP) hinzu. Und freilich halten die Medien dieses Thema am köcheln. Populäre Magazine haben das Thema auf ihre Titelseite verfrachtet, so beispielsweise The Week und Tehelka, wobei The Week sich erlaubte, Raj Thackeray als Hitler darzustellen („Mumbai’s Hitler„), was sofort dazu führte, dass MNS-Parteimitglieder die Büros des Magazins aufsuchten, um den Journalisten zu drohen.

Heute geistert die Nachricht durch den Äther, dass Raj Thackeray für seine aufwiegelnden Kommentare festgenommen werden soll, denn immerhin hat er die Meute aktiv dazu aufgerufen, Nordindern zu schaden. Rufe nach der Verhaftung Thackerays wurden schon seit einigen Tagen laut, doch bisher war man sich sicher, dass es letztendlich nicht dazu kommen würde. Auch heute kratzen sich die Polizisten am Kopf, ob man die Verhaftung durchführen kann, denn es mangelt an Sicherheitspersonal. Selbstverständlich wird es bei einer tatsächlichen Verhaftung zu weiteren Unruhen kommen. Bereits jetzt kursieren Gerüchte über Thackerays Aufenthaltsort herum, woraufhin es in verschiedenen Städten zu anhaltenden Unruhen gekommen ist, unter anderem in Pune, Nashik und anderen kleineren Städten. In Orten wie Nashik brechen nordindische Tagelöhner ihre Zelte ab und gehen zurück in ihre Heimatdörfer, nachdem sie der anhaltenden Gewalt in Nashik nicht mehr standhalten wollen. (Videolink: Exodus)

Was soll das? „Hitlers Vermächtnis in Maharashtra“ weiterlesen