Es wurde bereits viel zum Thema Straßenverkehr in Indien geschrieben: schauerliche Geschichten über notorische Huper, heilige Kühe auf der Straßenmitte, halsbrecherische Busfahrten und so weiter. Und trotzdem ist der Indienreisende stets aufs Neue überwältigt. Der angehende Tourist glaubt sich bestens vorbereitet, nachdem er das gesamte Internetarchiv bezüglich des Durcheinanders auf indischen Straßen durchgelesen hat, und trotzdem wird er von der ersten Welle des infrastrukturellen Anarchismus hinweggefegt und verspricht sich insgeheim, nie wieder über deutsche Autobahnen zu meckern.
Entgegen allgemeinen Annahmen gibt es in Indien wirklich Verkehrsregeln. Leider gibt es niemanden, der deren mächtig wäre, und selbst wenn man weiß, was man eigentlich tun müsste, wird man es uneigentlich nicht tun, weil man schlichtweg nicht kann.
Die arteriellen Straßen Bangalores sind noch angenehm breit - theoretisch. Tatsächlich parken am linken Fahrbahnrand Autos, Laster, Gemüseverkäufer etc. In Abwesenheit funktionaler Fußwege verfrachtet sich die nicht unerhebliche Zahl der Fußgänger auf die Straße.
Obwohl die rechte Bahn für den schnellen Verkehr gedacht ist, fährt jeder dort, weil links einfach kein Platz ist. Man könnte ja links fahren und dann immer ausweichen, wenn ein Objekt im Weg parkt, aber im Gewühl indischer Straßen ist das kaum durchführbar und sehr gefährlich. Es wird geschnitten, was das Zeug hält, so dass man nicht nur auf sich selbst aufpassen muss, sondern auch noch erahnen muss, was die Leute vor, hinter, und neben einem womöglich tun könnten. Da Blinker und Stoplichter selten benutzt werden, muss man schnell reagieren, wenn das Moped vor einem plötzlich scharf abbremst (Warum auch immer?), wenn der Laster rechts neben dir mal eben links abbiegen will und wenn unentwegt Fahrzeuge aus den Seitenstraßen ohne zu schauen im großen Bogen in die Hauptstraße münden.
Bushaltestellen liegen in Indien generell unmittelbar an Kreuzungen, entweder vor oder nach der Ampel. Endlich ist es grün (die Wartezeiten an einer besonders feierlichen Kreuzung liegen bei 200 Sekunden!) und die drei Busse vor dir rangeln um die besten Plätze an der Haltestelle. Das ist nie neben dem Bushäusel, sondern hundert Meter davor oder danach, weswegen die Bushäusel meist sauber weil verwaist dastehen. Auch fahren die Busse nicht an den Straßenrand sondern halten irgendwo zwischen einem und drei Metern vom Fahrbahnrand entfernt an. Der aufmerksame Leser hat es schon geahnt: dann ist die Straße natürlich verstopft und der gesamte Verkehr staut sich auf, während es noch grün ist….
Die Fahrtrichtung ist ganz offiziell links. Aber wenn auf der Gegenfahrbahn mehr Platz ist als auf deiner eigenen, dann kannst du schon mal wechseln. Besonders an Ampeln macht es keinen Spaß, wenn man hinten steht. Alle Inder wollen immer Erster sein, weswegen sich der Verkehr üblicherweise verkeilt. In 200 Sekunden wird man schon mal ungeduldig. Um die Leute davon abzuhalten, auf der Gegenfahrbahn zu parken, gibt es Mittelleitplanken: Es gibt Metallzäune, Steinblöcke, Plastikkübel, oder Schotter.
Nur muss dieser sog. Median auch lang genug sein (also vielleicht 20m), denn sonst beginnen die Leute sich auch auf der Gegenfahrbahn anzustellen oder, sobald grün ist, dort zu fahren.
Überholen darf man immer, wenn man glaubst, dass der Gegenverkehr maximal so weit entfernt ist, wie man mindestens Platz braucht, um heil an dem Sonntagsfahrer vor einem vorbei zu kommen.
Laster schreiben gern in großen, bunten Lettern Horn Please oder Horn Ok Please an ihr Hinterteil. Auf dem Highway ergibt das Sinn, denn dann hupt man und die Teile bewegen sich auf die linke Seite. Warum sie nicht gleich dort fahren, soll hier nicht erläutert werden. Aber im Stadtverkehr kann man sich die Finger wundhupen: Laster und Busse müssen einfach links überholt werden, sonst kommt man nicht vorbei, weil sie nie Platz machen.
Ampeln sind das einzige Medium, das wirklich interessiert. Schilder oder ähnliches werden als hübsche Deko angesehen und weitestgehend ignoriert.
An roten Ampeln muss man nur anhalten, wenn der Gegenverkehr schon auf der Kreuzungsmitte ist, sonst kann man noch drüberbrettern.
Wenn die Ampeln wegen einem der üblichen Stromausfälle schweigen, müssen sich die Verkehrspolizisten in Action schmeißen. Das resultiert üblicherweise in Staus, denn die Inder haben überhaupt keinen Respekt vor Polizisten. Was macht der Hampelmann denn da vorn? Mir egal, ich fahr mal eben.
Jeder hat immer Vorfahrt, besonders LkWs, Busse, schnelle Autos, große Autos, kleine Autos, laute Autos, gewiefte Rickshaws flinke Mopedfahrer, suizidgefährdete Motorradfahrer, selbstvergessene Fahrradfahrer, diese elenden Pushcart-Verkäufer und alle anderen auch.
Fußgänger sind diese Wesen, die permanent die Straßenseite wechseln. Sie sind generell lebensmüde. Erst heute hätten wir einen Kandidaten beinahe überfahren, aber wir haben zu langsam reagiert und ihn verfehlt.
Wenn man unglücklicherweise jemanden in Indien überfährt, gibt es nur eins: Renn, so schnell du kannst! Fahrerflucht ist ein ungeschriebenes Gesetz. Das ist nicht so, weil die Menschen hier keine Werte haben, sondern weil der Mob den Schuldigen meist verprügelt, manchmal sogar erschlägt, die Fahrzeuge in Brand setzt usw. Schuldig ist dabei entweder der Größere oder der Reichere. Wenn ein Fußgänger vor einen Bus springt, wird der Mob dem Busfahrer an die Gurgel gehen, obwohl er absolut unschuldig ist. Wenn ein Truck einen Sedan rammt, dann ist es selbstredend der Yuppie, der vom Mob beschuldigt wird.
Im vollgetopften Indien ist es natürlich problematisch, die ganzen Leute zu transportieren. Busse sind manchmal so voll, dass eine Traube an den Einstiegstüren hängt und sich der Bus gefährlich gen links neigt. Viele private Busse haben hinten eine Leiter angebracht, so dass zusätzliche Fahrgäste aufs Dach ausweichen können. Schülerrickshaws können täglich vollgestopft mit Kindern gesichtet werden, die links und rechts aus dem Gefährt herausquellen. Ladeflächen diverser Transporter beherbergen Arbeiter und auch normale Mopeds können zum Massentransportmittel umfunktioniert werden. Mit viel Geschick passt da die ganze, kinderreiche Familie drauf. Der Rekord, den ich persönlich miterleben durfte, liegt bisher bei 6 Personen auf einem Moped (Eltern und vier Kinder).
Dieses komplexe Regelwerk ist auch der Grund dafür, weswegen ich hier nicht fahren kann. Unglücklicherweise habe ich nur zwei Augen und ein Hirn - selbstverständlich nicht genug, um den Verkehr hier zu bewältigen. Denn das muss man den Indern lassen – ihre Reflexe im Verkehr sind sensationell, ihr Rundumblick beeindruckend.
Ich werde mich auch nie an dieses Chaos gewöhnen. Besonders die vielen Tiere auf der Straße sind ein Aufreger. Die Kühe sind auch alles andere als heilig, und dass sie nicht überfahren werden, liegt wohl eher an ihrer Größe und den Beulen, die so eine Kollision am eigenen Fahrzeug hinterlassen würde, als an der Stellung dieses Viehzeugs in der hinduistischen Mythologie. Hunde und anderes Getier oder Menschen werden hingegen hemmungslos niedergemäht. Es vergeht kaum ein Tag, an dem mal keiner im verrückten Verkehr in Bangalore gestorben ist. Dabei sollte man sich vor Augen halten, dass die Durchschnittsgeschwindigkeit hier bei 30km/h liegt, nicht bei 130 auf einer deutschen Autobahn.