Eine kleine Geschichte aus Delhi (4)

Indien wäre nichts ohne seine Gegensätze, und nachdem ich nun etwas Bettelluft verteilt habe, ist es Zeit für den Glanz. Zeit für eine Fahrt in die Ambience Mall in Gurgaon, südlich von Delhi. Dieser Schrein ist dem Materialismus geweiht, und er kann nicht betreten werden, ohne ein oder mehrere schwerwiegende Leiden davonzutragen.
Blasen am Fuß ob des kilometerlangen Fußmarsches pro Etage. Bei drei Etagen Geschäften macht das stolze 3.000m zuzüglich zweier Fressetagen.
Schwielen an den Händen und ausgeleierte Arme vom Tragen der vielen Einkaufstüten.
Sehschwäche vom Bestaunen der enormen Produktpalette.
Und nicht zuletzt: Totaler Bankrott.
So was kommt von so was.

Die unglaublichen Dimensionen dieses Einkaufszentrum sind aber nicht der Grund für meinen Beitrag. Der fünfte Stock ist es. Dort befindet sich Rockman’s Beer Island. Es ist die indische Inkarnation des Hofbräuhauses. Dort zahlt man sich für ein deftiges deutsches Essen (die Hausspezialität) gemessen an indischen Werten dann dumm und dämlich, nämlich 60Euro für etwas, das ich in München bereits für die Hälfte bekommen habe. Und man freut sich. :yes: Es schmeckt lecker. :yes: Es hat keine Masala. :yes: Es hat keine Chapatis. :yes: Es muss der Himmel sein! :yes:
Und dort sitzt man dann an einem ruhigen Mittwoch nachmittag, der nur durch das herrliche Kreischen Romas durchbrochen wird, als ihr die Bratwurst fast genau so wunderbare Gaumenexstase bereitet wie Mama. 😳 Merke: Indien bietet dieser Tage so ziemlich alles, das man sich nur wünschen kann. Man muss nur in der Lage sein, die Rechnung zu begleichen. Denn immer mehr Produkte in diesem Land richten sich ohne falsche Scham an die Superreichen.

Das merkt man zum Beispiel, wenn man gelangweilt zwecks Recherche durch die Immobilienbeilage der täglichen Käseblätter wälzt. So rund um Diwali (welches wir übrigens Morgen begehen), wenn es besonders „auspicious“ (glücksbringend) ist, sich in den Kaufrausch zu stürzen (für die Käufer oder Verkäufer???), sind diese Beilagen immer ganz besonders dick. Doch man merkt recht schnell, dass man nicht zum Zielpublikum gehört. Küche, Bad und Wohnzimmer? Vielleicht noch ein Parkplatz? Das ist ja so passé. Geworben wird mit Pool, ob nun in der Sparvariante mit Gemeinschaftspool im Clubhaus oder Privatpool. Sportclub. Tennisplatz. Sauna. Das ist ja schon längst normal. Ein moderat-interessiertes Hüpfen der Augenbraue verursacht bei der der gewünschten Klientel doch nur, wenn man auch gleich zwei Lifts für die Autos einbaut, damit die im 37. Stock geparkt werden können. Zumindest wirbt damit ein Komplex, der 300m Luftlinie von unserem Haus entsteht. 8| Das ist der Stand der Dinge. Das goldene, scheinende Indien interessiert sich nicht für die, die es links liegen lässt. Es prescht nach vorn ohne Rücksicht auf Verluste, ohne Rücksicht auf die zarten Gefühle derer, die sich gestern noch für die Gewinner des indischen Booms gehalten haben: die Mittelklasse.

Interessant? – Vielleicht.
Ernüchternd? – Definitiv.
Realität? – Auch wahr.

Ich beiß in meine Nockerln. Moment, es ist ein Schwabenteller. Die sagen dann wohl Spätzle dazu. Auch egal, es schmeckt lecker. :yes:
Und vielleicht werfen diese Worte ja etwas Licht auf Teil 3?

Teil 1 – Taxidrama
Teil 2 – Veränderungen in Delhi
Teil 3 – Die Bettlerin

Eine kleine Geschichte aus Delhi (3)

Wir essen gern. Wir essen gern auswärts. Wir essen unverschämt gern südindisches Essen, das wir soooo sehr vermissen. Also nutzten wir unseren Aufenthalt in Delhi, um Saravana Bhavan einen Besuch abzustatten. Es war Sonntag. Es war 20Uhr. Und die Massen tummelten sich bereits vor den Toren der Fresshalle, so dass man auf einen Sitzplatz warten musste. Und dort – auf dem Fußweg des äußeren Connaught Circus‘ – fand eine jener Szenen statt, die verwirren, während sie stattfinden, und die man auch nachher eher schlecht als recht einordnen kann:

Die Pforten zum tamilischen Restaurant Saravana Bhavan werden gehütet von einem Mann mit Block und Stift in der Hand. Er fängt dort die Horden ab und erteilt jedem eine Zeile in seinem Block mit Name und Anzahl zu verköstigender Leute. Dann werden sie mit einer ungefähren Wartezeit von dannen geschickt. Dicht daneben steht eine kleine Gruppe Plastikstühle herum, auf der bereits wartende Restaurantbesucher sitzen. Drumherum warten noch mehr Leute: entweder dass ein Wartestuhl oder ein Tisch im Restaurant frei wird, was auch immer zuerst passiert. 😉 Gegenüber dieser kleinen Menschentraube sitzt ein Ramschhändler auf dem Fußweg. Er vertickt Uhren und solchen Kram. Zwei Meter weiter sitzt noch ein Verkäufer auf dem Boden, dessen Sortiment mir glatt entfallen ist.

Plötzlich kommt eine Bettlerin angetrottet. Sie ist in die standardisierte Bettleruniform gehüllt: Lumpen, deren letztes Waschdatum unbekannt und deren ursprüngliche Farbe nicht mehr identifizierbar ist. Sie ist nicht nur mit akuter Armut bestraft, sondern auch mit einem nicht normgerechten Körper. Ihre Beine sind nicht gerade. Man kann das nicht sehen, aber sie staksen komisch unter ihrem Rock herum und verleihen ihr einen torkelnden Gang. Der Höcker auf ihrem gekrümmten Rücken tut sein Übriges. Ihr Hals ragt nach vorn wie bei einem Pferd. Der Kopf wiederum ist in den Nacken gelehnt, sonst würde sie nach unten gucken. Ihre Hände sind seltsam nach innen gekrümmt, zucken unattraktiv und sind verkrampft. Sie verkörpert das, was ich irgendwo in den Weiten dieses Blogs bereits mal als kaputte, weggeworfene Menschen beschrieben habe. Menschen, deren Existenz nur um ihrer selbst willen gerechtfertigt wird, nicht aber um einen höheren Zweck zu erfüllen. Das ist das Tragische daran. Das ist der Grund, weswegen ich Worte benutze, die eine möglichst große Dissonanz hervorrufen sollen. Die unattraktive Bettlerin. Das ist nicht dasselbe wie eine hässliche Bettlerin. Oder eine schmutzige. Obwohl beides zutrifft.
Ihr Gesicht ist mit zu großen Augen, einer zu großen Nase, einem zu großen Mund zugekleistert. Ihre Haut ist pockig und narbig. Ihre Züge sind verzerrt. Es ist ein Gesicht, dass ihr Leben erzählt, nicht unbedingt das Antlitz, mit dem sie auf die Welt kam. Das war vermutlich genau so putzig wie jedes Baby: in den Augen der Eltern das Allerschönste, in den Augen der Welt ein bisschen knittrig oder aufgedunsen oder mit Vernix überzogen. Vielleicht aber hatten die Eltern auch schon ein Dutzend Kinder, von denen fünf oder sechs das 5. Lebensjahr überlebt haben, und als sie sahen, dass es eine Büchse statt ein Schniedel war, und noch dazu mit einem Höcker, war sie vielleicht doch nicht mehr die Allerschönste.
Und dann, dreißig oder vierzig Jahre später, stand sie an einem ganz normalen Sonntagabend vor Saravana Bhavan. Irgendwann zwischen Geburt und diesem Abend hatte sie ihren Verstand verloren. Oder vielleicht war sie so glücklich, ihn nie in vollem Umfang empfangen zu haben. Ist euch schon mal aufgefallen, wie geistig behinderte Menschen von ihrem Umfeld immer als besonders glücklich und fröhlich beschrieben werden? Ganz so, als hätten sie einen Vorteil, die Welt nicht ganz verstehen zu können. Welche Arroganz seitens des Umfeldes, ihnen zu unterstellen, sie wären glücklicher, nur weil sie den lieben langen Tag grinsen. Wenn ich was nicht verstehe, grinse ich auch, aber mein Gegenüber bewertet mich dann als dämlich und selten als glücklich. Aber das nur so als Gedankenanstoß am Rande.
Diese geistig behinderte Frau war weder besonders glücklich noch besonders fröhlich. Sie war besonders arm, besonders dreckig, besonders hässlich, und auf Grund ihrer Behinderung ganz besonders schlecht in der Lage, diese Schicksalsschläge wettzumachen. Durch cleveres Stehlen. Cleveres Arbeiten. Cleveres Irgendwas. Sie war besonders tollpatschig und stolperte da in unsere Runde aus zwei Geschäftsmännern, hungrigen Restaurantbesuchern und zwei Wachmännern: einer bewaffnet mit Uniform, der andere mit Block und Stift (s.o.)
Sie blubberte vor sich hin. Sie war aggressiv. Weil sie schlecht drauf war? Weil sie Hunger hatte? Oder weil das Teil ihres geistigen Zustandes war? Keiner weiß es, keiner will es so genau wissen. Sie war, was man in Indien als „nuisance“ bezeichnet. Eine Belästigung. Einer der Händler (nicht der mit den Uhren, sondern der andere) begann einen Streit mit ihr vom Zaun zu brechen. Arme, schmutzige, verkrüppelte, umnachtete Menschen verursachen nicht unbedingt Sympathie. Man weiß ja nie, was sie als nächstes tun. Anfassen will man sie auch nicht unbedingt, denn ihr Zustand könnte ja ansteckend sein. – Das ist jetzt meine Interpretation der Handlung des Händlers. Vielleicht machte er sich auch nur um die Kaufbereitschaft seines Publikums Sorgen. Jedenfalls schrie er sie an und sie lallte zurück und fuchtelte mit ihren entstellten Gliedmaßen in der kühlen, verunreinigten Luft Delhis herum.

Es war ein hässlicher Streit. Man musste vor Scham nicht, wohin man gucken sollte. Ich als Europäer habe Scham ja als Wert irgendwann im Laufe meines kulturellen Werdeprozesses eingetrichtert bekommen. Nicht der Händler, der auch bloß nicht-reich (aber dafür clever) war. Es war unangenehm: Dieser kaputte Mensch da, der einfach was zu Essen und ein Bett mit Kissen und Zudecke und ein kleines bisschen Liebe wollte – was mache ich mit dem Anblick? Den Impuls, in die Hosentasche zu greifen und einen zerknitterten Schein Wechselgeld herauszuziehen, den unterdrückt man in Indien routinemäßig. Warum? Ist diese Frau Teil der organisierten Armutsmafia? Oder ist sie einfach eine von denen, die die Armut in den Wahnsinn getrieben hat? Ist Wahnsinn ihr einziger noch vorhandener Kindheitsfreund? Oder vielleicht bin ich einfach zu dramatisch? Schaue zu viel Arte? Das dicke indische Fell ist mir hier entschieden zu warm. Da schwitz ich dann nur. Ich werfe mir diese schützende Kutte später im Restaurant über, das für seine arktische Kälte bekannt ist. Mein Thali schmeckt himmlisch. :yes:

Ich bin an diesem Abend besonders glücklich und besonders fröhlich.

Teil 1 – Taxidrama
Teil 2 – Veränderungen in Delhi
Teil 4 das nächste Mal.

Eine kleine Geschichte aus Delhi (2)

Das Taxidrama aus Teil 1 hatten wir überstanden und konnten nun lospreschen in eine völlig neue Hauptstadt! Zwar hatten wir Delhi seit unserem Wegzug 2007 weiterhin ca. ein bis zweimal pro Jahr gesehen, doch die meisten Bauprojekte wurden kurz vor den Commonwealth Spielen dieses Jahr zu Ende geführt, so dass uns ein riesiger Schwall neuer Brücken, komplett neuer oder ausgebauter Straßen sowie brandneue Metrolinien begrüßten. Selbstverständlich hinken einige Projekte hinterher und es gibt immer noch was zu verbessern, aber es war dennoch beeindruckend, wie viel die Stadt Delhi innerhalb von vier Jahren auf die Beine stellen konnte. Wenn ich das mit Mumbai vergleiche…. ah…. hmmm… lieber nicht. |-|

Auf dem Weg zum Hotel Schwiegermama wurde gar ein Stück Slum weggerissen und eine Straße dort durch gebaut. Was früher 45min dauerte, kann jetzt in 10min gefahren werden. Ein Geniestreich!

Ich will nicht behaupten, dass es in Delhi keine Staus mehr gibt. Am fünften Tag unseres Aufenthaltes machten wir die wunderbare 3-Stunden-Prozedur von Gurgaon zum Hotel Schwiegermama (und das einhergehende Stimmungstief) durch, aber es ist in Delhi möglich, mal drei, vier Kilometer ohne Unterbrechung zu fahren. In Mumbai? Nur zu besonderen Anlässen, wenn alle zu Hause Pooja machen (wie zum Abschluss von Navratra kürzlich) oder nachts.

Wir genossen das. Auch dass es kilometerweite Strecken ohne Schlaglochkrater gibt. Das genossen wir erst recht. Delhi ist schon nicht übel, wenn man es von der infrastrukturellen Perspektive aus betrachtet. Zudem verwöhnte uns Delhi mit recht angenehmen Temperaturen. Ich genoss die geringe Luftfeuchte, so dass wir – anders als im humiden Bombay – mal eine Woche lang nicht dauerschwitzen mussten. Welche Erholung!

Teil 3 das nächste Mal.

Eine kleine Geschichte aus Delhi (1)

Eine ganze Woche lang sollte uns die Hauptstadt wiederhaben: eine ganze Woche, in der wir das Gute und Schöne an Delhi in vollen Zügen zu genießen dachten. Bevor wir uns jedoch in den besinnungslosen Genusstaumel begeben konnten, bedurfte es einer kleinen Rundfahrt im Fegefeuer. Dieses befindet sich am Taxistand des Flughafens. Im Terminal lassen sich Taxen vorbuchen. Das sind die sog. Prepaidtaxen. Wir wollten auf dem Weg ins Hotel Schwiegermama allerdings noch zwei Pit Stops einlegen, doch dafür ist das Buchungssystem der Taxen nicht ausstaffiert. Es kann nur direkte Fahrten (und somit Preise) berechnen, nicht aber über drei Ecken.

Es drohte kompliziert zu werden, also strich ich den ersten PitStop (die deutsche Bäckerei im Stadtteil Vasant Kunj im südlichsten Süden Delhis) und sprang gleich zu Punkt Zwei auf der Liste: INA Market im Herzen der Stadt. Bis dorthin buchten (und zahlten) wir, und von dort aus sollte dann das Taxometer eingeschalten werden. Wir nahmen unsere Quittung, sammelten unsere 87 Stücke Gepäck ein und verließen das Flughafenterminal auf der Suche nach dem Taxistand.

Wir nahmen im ersten Taxi Platz, erklärten den Sachverhalt und wollten uns gerade in die Polster sinken lassen, als der Taxiwallah uns erklärte, dass das so ja nun schon mal gar nicht geht. Erst zum INA Market und dann ins Hotel Schwiegermama? Nein, das mache er nicht. :no: An dieser Stelle dann erschöpfte sich das Argumentationspotenzial des Taxiwallahs. 🙄 Auch auf Nachfrage hin gab er den Grund für seine Ablehnung nicht Preis. Er mache das halt nicht.

Wir stiegen aus. Ich brutzelte zusammen mit Roma und unserem Gepäck in der überraschend aggressiven Oktobersonne und wartete, bis Bentley aus dem Flughafengebäude zurückkommen würde, denn dort musste er ja wieder hin, um die Quittung ändern zu lassen. (Diese enthalten immer das Kfz-Kennzeichen der Taxe, in die man steigt. Sie ist also nicht übertragbar.)

Just erschien er wieder, doch ins zweite Taxi brauchten wir uns gar nicht zu setzen, denn auch das wollte nicht fahren.
Diese vorher von uns nicht einkalkulierte postpubertäre Sturheit lässt sich ganz einfach auf den Fakt zurückführen, dass der Kilometerpreis ab Flughafen höher ist als der Standartkilometerpreis. Der Fahrer hätte also nur bis zur Hälfte der Strecke den höheren Kilometerpreis bekommen und ab dann den normalen. |-| Das hätte uns der erste Fahrer einfach nur sagen brauchen, anstatt da ein Fass aufzumachen. 🙄 Wir erfuhren das erst später…

Aus dem dritten Taxi stiegen wir freiwillig wieder aus, nachdem es bereits die ersten 20m röchelte, als wolle es die Hufe strecken. Aber mit Taxi Vier kamen wir dann endlich, endlich los. Über eine halbe Stunde Stress mit diskutieren und streiten und rummaulen. Man hätte das ja auch ruhig argumentieren können, aber Nein, da wird gebockt und gezickt und wasweißichnichtalles. Anstatt uns den Grund zu nennen, warum sie nicht fahren wollten, zogen sie das urindischste aller Argumente aus dem Ärmel: Das mach ich nicht, basta! – – Im Endeffekt fuhren wir ohne Quittung und ohne Taxometer, sondern rechneten den Fahrpreis anhand des Kilometerstandes und mit dem höheren Kilometerpreis aus, sonst stünden wir vermutlich jetzt noch dort. :crazy:

Egal. Weiter im Text:

Kapitel Zwei das nächste Mal.