Es ist unglaublich schwer, wenn nicht gar unmöglich, Indien wirklich als Einheit zu erfassen. Nicht nur ist es durch seine schiere Größe reich an beeindruckender Vielfalt, sondern auch kulturell gibt es so viele regionale Abweichungen, dass einem schwindlig werden kann. Zusätzlich drückt sich eine Vielzahl verschiedener religiöser, sozialer und kultureller Facetten in Indien herum, so dass es, ganz egal, was man nun schreibt/sagt/erlebt, immer jemanden geben wird, auf den das Gegenteil zutrifft.
Indien ist also so eine Art Sammelbox für Alles und Nichts. Man kann so ziemlich jeden Unfug in den Raum werfen, weil es garantiert ein Fleckchen Erde in diesem Land gibt, welches genau diesen Unfug schon einmal live erlebt hat. Dieser Rummel aus Realitäten fasziniert nicht nur den ausländischen Beobachter, der von einem wilden Erlebnis ins nächste taumelt und ungläubig die dramatische Vielschichtigkeit dieses Subkontinents in sich aufzunehmen versucht, sondern er führt auch regelmäßig unter Indern zu Bestürzung. Man kann hier geboren und aufgewachsen sein, ohne diesen Kulturkoloss wirklich zu kennen.
In letzter Zeit gab es einige Gelegenheiten, während denen verschiedene Indiens aufeinanderprallen konnten. Das geschah vornehmlich in den Medien, mit dem urbanen, elitären Indien hinter und dem abstrusen Indien vor der Kamera. Aberglaube diente als Aufhänger.
Zunächst hatte die anhaltende Dürre in Indien dazu geführt, dass statt der Landschaft der Aberglaube blühte. So wurden zum Beispiel Frösche verheiratet, weil dies den Regengott milde stimmen sollte. Kleine Kinder planschten in einem anderen Ritual im Moor/Schlamm herum, und Frauen trollten sich auf die Felder zum Pflügen. (Anders als westliche Medien dies berichteten, taten sie dies nicht nackt, wie das früher einmal war.)
Zweiter Anlass für ein paar abfällige Bemerkungen über den irrsinnigen Aberglauben „Hinterindiens“ lieferte die kürzliche Sonnenfinsternis. Nachrichtensender beleuchteten das Phänomen vorrangig von zwei Seiten: einerseits schipperte die urbane Elite in speziellen Flugzeugen über den Himmel, um die beste Sicht auf die Sonnenfinsternis zu bekommen. Andererseits hüpften Gläubige Hindus in heiligen Flüssen herum, zertrampelten sich, fasteten und beteten und murmelten heilende Sprüche gegen die bösartige Strahlung der verdunkelten Sonne. Milde Belustigung seitens der Nachrichtensprecher bezeugten das Unverständnis dieser Schicht von Menschen, die beinahe beschämft darüber wirkten, sich ein Land mit solchen ignoranten Holzköpfen teilen müssen.
Der vorerst letzte Anlass für ein bisschen niederträchtigen Kulturgaudi bot das gestrige Fest Gotmaar Mela, welches im zentralindischen Bundesstaat Madhya Pradesh stattfand. Gotmaar Mela im Distrikt Chhindwara eignet sich dank der an den Tag gelegten, sinnlosen Brutalität ganz besonders, um sich über die Rückständigkeit Hinterindiens zu beklagen. Es geht darum, dass man sich gegenseitig mit Steinen bewirft. Dabei stehen die Teilnehmer zu beiden Seiten des Flusses Jam und bewerfen sich gegenseitig ohne Rücksicht auf Verluste. Das Ritual ist dreihundert Jahre alt und geht auf eine alte Liebesgeschichte zurück. Nachdem letztes Jahr ein Mann zu Tode gekommen war, hatte man das Fest dieses Jahr verbieten wollen. Doch statt sich wie zivilisierte Menschen zu verhalten, die ihre und die Gesundheit ihrer Mitmenschen zu schätzen wissen, bewarfen die Dorfbewohner einfach auch die eingerückte Polizei mit Steinen. Es gab 48 Verletzte, darunter zwei Polizisten.
Der Nachrichtensprecher, der diese sensationelle Geschichte vortragen durfte, hatte vorsorglich einen zermürbten, schockierten Gesichtsausdruck aufgesetzt. Unfassbar, meinte er, dass diese Dinge im heutigen Indien geschehen. Etwas muss auf der Stelle getan werden, um den Aberglauben zu beseitigen. Um die Menschen zu bilden.
Obwohl ich dem durchaus zustimme, kann ich nicht umhin anzunehmen, dass die Nachrichtensender eher am Einschaltenquoten-bringenden Schockeffekt dieser bunten Nachrichten interessiert sind als am Bildungsauftrag für die Nation.
Weitaus eklatanter als das zugegebenermaßen dämliche Verhalten der Dorfbewohner in Chhindwara finde ich allerdings, dass ein kleiner Teil Indiens aufgehört hat, sich für den größeren Teil zu interessieren. Dass die „Nachrichten aus Hinterindien“ so eine Art Unterhaltung für die zynische Klasse Indiens geworden ist, die gemütlich vor dem Fernseher ihr Abendessen einnimmt und dabei gern ihre Hirnzellen ganz mild nur stimuliert wissen möchte. Das gibt mir zu denken.
Selbstverständlich darf man über dieses „Ritual“ ebenso bestürzt sein wie über jenes, in dem Eltern ihre Kinder von Dächern in ein Auffangtuch werfen. Oder in dem Gläubige sich Kokosnüsse auf dem Schädel aufschlagen lassen, weil das Glück bringt. So absurd dieses Verhalten auch sein mag, so beschämend ist es für Indien als Gesellschaft, dass man sich wenig dafür interessiert, Bildung bis in den letzten Winkel zu tragen, als dass man diese Begebenheiten als guten Gag für zwischendurch ansieht, während man sich konzentriert die Zahnzwischenräume nach dem Dinner reinigt.