Wir essen gern. Wir essen gern auswärts. Wir essen unverschämt gern südindisches Essen, das wir soooo sehr vermissen. Also nutzten wir unseren Aufenthalt in Delhi, um Saravana Bhavan einen Besuch abzustatten. Es war Sonntag. Es war 20Uhr. Und die Massen tummelten sich bereits vor den Toren der Fresshalle, so dass man auf einen Sitzplatz warten musste. Und dort – auf dem Fußweg des äußeren Connaught Circus‘ – fand eine jener Szenen statt, die verwirren, während sie stattfinden, und die man auch nachher eher schlecht als recht einordnen kann:
Die Pforten zum tamilischen Restaurant Saravana Bhavan werden gehütet von einem Mann mit Block und Stift in der Hand. Er fängt dort die Horden ab und erteilt jedem eine Zeile in seinem Block mit Name und Anzahl zu verköstigender Leute. Dann werden sie mit einer ungefähren Wartezeit von dannen geschickt. Dicht daneben steht eine kleine Gruppe Plastikstühle herum, auf der bereits wartende Restaurantbesucher sitzen. Drumherum warten noch mehr Leute: entweder dass ein Wartestuhl oder ein Tisch im Restaurant frei wird, was auch immer zuerst passiert. 😉 Gegenüber dieser kleinen Menschentraube sitzt ein Ramschhändler auf dem Fußweg. Er vertickt Uhren und solchen Kram. Zwei Meter weiter sitzt noch ein Verkäufer auf dem Boden, dessen Sortiment mir glatt entfallen ist.
Plötzlich kommt eine Bettlerin angetrottet. Sie ist in die standardisierte Bettleruniform gehüllt: Lumpen, deren letztes Waschdatum unbekannt und deren ursprüngliche Farbe nicht mehr identifizierbar ist. Sie ist nicht nur mit akuter Armut bestraft, sondern auch mit einem nicht normgerechten Körper. Ihre Beine sind nicht gerade. Man kann das nicht sehen, aber sie staksen komisch unter ihrem Rock herum und verleihen ihr einen torkelnden Gang. Der Höcker auf ihrem gekrümmten Rücken tut sein Übriges. Ihr Hals ragt nach vorn wie bei einem Pferd. Der Kopf wiederum ist in den Nacken gelehnt, sonst würde sie nach unten gucken. Ihre Hände sind seltsam nach innen gekrümmt, zucken unattraktiv und sind verkrampft. Sie verkörpert das, was ich irgendwo in den Weiten dieses Blogs bereits mal als kaputte, weggeworfene Menschen beschrieben habe. Menschen, deren Existenz nur um ihrer selbst willen gerechtfertigt wird, nicht aber um einen höheren Zweck zu erfüllen. Das ist das Tragische daran. Das ist der Grund, weswegen ich Worte benutze, die eine möglichst große Dissonanz hervorrufen sollen. Die unattraktive Bettlerin. Das ist nicht dasselbe wie eine hässliche Bettlerin. Oder eine schmutzige. Obwohl beides zutrifft.
Ihr Gesicht ist mit zu großen Augen, einer zu großen Nase, einem zu großen Mund zugekleistert. Ihre Haut ist pockig und narbig. Ihre Züge sind verzerrt. Es ist ein Gesicht, dass ihr Leben erzählt, nicht unbedingt das Antlitz, mit dem sie auf die Welt kam. Das war vermutlich genau so putzig wie jedes Baby: in den Augen der Eltern das Allerschönste, in den Augen der Welt ein bisschen knittrig oder aufgedunsen oder mit Vernix überzogen. Vielleicht aber hatten die Eltern auch schon ein Dutzend Kinder, von denen fünf oder sechs das 5. Lebensjahr überlebt haben, und als sie sahen, dass es eine Büchse statt ein Schniedel war, und noch dazu mit einem Höcker, war sie vielleicht doch nicht mehr die Allerschönste.
Und dann, dreißig oder vierzig Jahre später, stand sie an einem ganz normalen Sonntagabend vor Saravana Bhavan. Irgendwann zwischen Geburt und diesem Abend hatte sie ihren Verstand verloren. Oder vielleicht war sie so glücklich, ihn nie in vollem Umfang empfangen zu haben. Ist euch schon mal aufgefallen, wie geistig behinderte Menschen von ihrem Umfeld immer als besonders glücklich und fröhlich beschrieben werden? Ganz so, als hätten sie einen Vorteil, die Welt nicht ganz verstehen zu können. Welche Arroganz seitens des Umfeldes, ihnen zu unterstellen, sie wären glücklicher, nur weil sie den lieben langen Tag grinsen. Wenn ich was nicht verstehe, grinse ich auch, aber mein Gegenüber bewertet mich dann als dämlich und selten als glücklich. Aber das nur so als Gedankenanstoß am Rande.
Diese geistig behinderte Frau war weder besonders glücklich noch besonders fröhlich. Sie war besonders arm, besonders dreckig, besonders hässlich, und auf Grund ihrer Behinderung ganz besonders schlecht in der Lage, diese Schicksalsschläge wettzumachen. Durch cleveres Stehlen. Cleveres Arbeiten. Cleveres Irgendwas. Sie war besonders tollpatschig und stolperte da in unsere Runde aus zwei Geschäftsmännern, hungrigen Restaurantbesuchern und zwei Wachmännern: einer bewaffnet mit Uniform, der andere mit Block und Stift (s.o.)
Sie blubberte vor sich hin. Sie war aggressiv. Weil sie schlecht drauf war? Weil sie Hunger hatte? Oder weil das Teil ihres geistigen Zustandes war? Keiner weiß es, keiner will es so genau wissen. Sie war, was man in Indien als „nuisance“ bezeichnet. Eine Belästigung. Einer der Händler (nicht der mit den Uhren, sondern der andere) begann einen Streit mit ihr vom Zaun zu brechen. Arme, schmutzige, verkrüppelte, umnachtete Menschen verursachen nicht unbedingt Sympathie. Man weiß ja nie, was sie als nächstes tun. Anfassen will man sie auch nicht unbedingt, denn ihr Zustand könnte ja ansteckend sein. – Das ist jetzt meine Interpretation der Handlung des Händlers. Vielleicht machte er sich auch nur um die Kaufbereitschaft seines Publikums Sorgen. Jedenfalls schrie er sie an und sie lallte zurück und fuchtelte mit ihren entstellten Gliedmaßen in der kühlen, verunreinigten Luft Delhis herum.
Es war ein hässlicher Streit. Man musste vor Scham nicht, wohin man gucken sollte. Ich als Europäer habe Scham ja als Wert irgendwann im Laufe meines kulturellen Werdeprozesses eingetrichtert bekommen. Nicht der Händler, der auch bloß nicht-reich (aber dafür clever) war. Es war unangenehm: Dieser kaputte Mensch da, der einfach was zu Essen und ein Bett mit Kissen und Zudecke und ein kleines bisschen Liebe wollte – was mache ich mit dem Anblick? Den Impuls, in die Hosentasche zu greifen und einen zerknitterten Schein Wechselgeld herauszuziehen, den unterdrückt man in Indien routinemäßig. Warum? Ist diese Frau Teil der organisierten Armutsmafia? Oder ist sie einfach eine von denen, die die Armut in den Wahnsinn getrieben hat? Ist Wahnsinn ihr einziger noch vorhandener Kindheitsfreund? Oder vielleicht bin ich einfach zu dramatisch? Schaue zu viel Arte? Das dicke indische Fell ist mir hier entschieden zu warm. Da schwitz ich dann nur. Ich werfe mir diese schützende Kutte später im Restaurant über, das für seine arktische Kälte bekannt ist. Mein Thali schmeckt himmlisch. :yes:
Ich bin an diesem Abend besonders glücklich und besonders fröhlich.
Teil 1 – Taxidrama
Teil 2 – Veränderungen in Delhi
Teil 4 das nächste Mal.