Hallo, Tourist!

Gestern Abend bekritzelte ich eine wunderschöne Postkarte mit dem Viktoria Terminus in Sepia. Bombay 100 Years Ago heißt das Set, dem die Karte entnommen war. Und als ich den herrlichen Schnappschuss von Anno Dazumal betrachtete, schoss es mir durch den Kopf: Reisen. Sehen. Erklären. Fühlen. Schmecken.
Ich war schon lange kein Tourist mehr in Mumbai, und es juckt mir in den Zehen und in den Fingern und überall, endlich diese Alltagskutte loszuwerden und die maroden Bauten von einer anderen Seite zu betrachten. Die überfüllten Gehwege. Die Ruinen. Die schiefen Straßenschilder. Die olfaktorisch-überwältigende Mixtur aus Dingen-die-nicht-zusammen-gehören. Es ist schon so, so lange her.
Sich treiben lassen. Ziellos.
Sich Geschichten erzählen lassen. Endlos.
Sich mitzerren lassen. Wahllos.
Sich verführen lassen. Hemmungslos.

Und natürlich den Auslöser drücken.
Rigoros!

Linen
Leinen.

FruitMedley
Früchtetraum.

Carrot and Stick
Carrot & Stick

ShoeVille
Effemination

The Itch
Juckreiz

Ehre, wem Ehre gebührt. Bentley war der Meisterfotograf. :wave:

Schritte am Morgen

An einem klaren Morgen, als die Hitze des Tages noch eine bloße Vorahnung ist, ziehen wir die Sneakers über und traten in das Gewirr von schmalen, gewundenen Straßen und Sackgassen hinaus, aus dem unsere versteckte Ecke Mumbais gebastelt ist.

Es war 7Uhr – eine Zeit, wenn Maids die Stufen vor den alten, träumerischen Bungalows oder die Balkons der Apartments mit ihren störrigen Reisigbesen in eine wirbelnde Staubwolke hüllen. Vor dem Geschäft eines Kiranawallahs um die Ecke unseres Hauses türmten sich die Zeitungen, die dort sortiert und mit Hausnummern versehen werden. Immer wieder kommt ein Junge mit Fahrrad vorbei und lädt sich wieder einen Stapel auf den Gepäckträger, um ihn auszutragen: vor Haustüren zu werfen oder kunstvoll zusammengerollt in die Türklinke zu stopfen – je nachdem, wie viel Zeit er an diesem Tag hat. Meist erreicht uns die Zeitung nicht vor 8Uhr.

Gleich daneben hat eine Transporterrickshaw (eine der knatternde Piaggios) mehrere riesige Plastikwannen voller Milchtüten abgeladen. Auch diese werden nach und nach ausgetragen: vor die Tür geklatscht oder in Plastikbeutelchen gesteckt, welche von den Bewohnern an ihre Türklinke oder an den Gartenzaun gebastelt wurden.

Durch das straff organsisierte Chaos dieser logistischen Aktivitäten eines ganz normalen Morgens hindurch flitzt hier und da ein Jogger. Eine Maid im geschickt zur Arbeit gewundenen Sari migriert zur nächsten Wohnung, um durchzuwischen und abzuspülen. Blumenverkäufer verteilen Ellenlängen Jasmingirlanden, die als Haarschmuck oder als olfaktorische Dekoration des Hauses genutzt werden. Und an der Bushaltestelle stehen schon fünf, sechs Leute Schlange – wie das in Mumbai, und nur hier, an der Bushaltestelle Tradition ist. Gedrängelt wird anderswo.

Während wir um Kurven biegen, an gestutzten Hecken, vernachlässigten Bungalows, neuen Fußwegen und prächtigen Gartentoren vorbeilaufen, hechtet ein Rudel Straßenhunde auf uns zu. Sie verfolgen imaginäre Schnitzel/Reispatties. Zwei von ihnen verlangsamen ihre quirligen Schritte und gucken uns an: so ein Hund weiß immer, wer ihnen wohlgesonnen ist. :yes: Einer der Flohbesen (ich hab ihn noch nie gesehen) springt an mir und hinterlässt ein nettes Druckmuster auf mir. Der andere schlappert mir mal eben die Hand ab. Lecker! 🙄

Natürlich sind wir nicht die einzigen Spaziergänger, sondern es watscheln ganze Trupps an gutgelaunten Morgenfreunden an uns vorbei. Über uns in den Wipfeln der Bäume zwitschert und raschelt es verdächtig, so dass wir unsere Schritte beschleunigen. Und aus den Fenstern einiger Wohnungen dringt das schrille (und auf Dauer unangenehme) Läuten heller Glöckchen, die zur Morgenpuja benutzt werden.

An den Häusern unserer Siedlung, die zu einer der ältesten Enklaven Mumbais gehört, prangen Namen, die man nur hier (oder in anderen christlichen Vierteln zum Beispiel in Bandra) findet: Casa Bello. Mary Immaculate Apartments. William’s Burg. Crystal Rose. Oder auch Lorenzo Mansion. Fast wie Goa. Nur ohne Strand. 😉

Eine Stunde später taucht die Sonne die Straßen in ein anderes Licht: es ist Zeit, sich in den Schatten des Hauses zurückzuziehen. Zurück vorbei an Leuten, die mit Gartenschläuchen ihre üppige Blumenlandschaft bewässern. Katzen, die faul auf ihren Säulen, Fenstervorsprüngen und niedrigen Dächern sitzen und auf den Machliwallah warten. Alles erwacht ganz langsam, macht sich gemächlich fertig für den Tag oder träumt bei einer Tasse Chai in den Vormittag hinein.

Der Raddiwallah 1 (Altpapier-/Müllhändler)

Jeden Tag am späten Vormittag bevölkern sie die Geräuschkulisse meines Indiens: Die Raddiwallahs. Die Altpapierhändler. Sie kommen mit ihren Karren oder mit einem Fahrrad, an dessen Gepäckträger Jutesäcke gebunden wurden, und schnüffeln die Landschaft nach Beute ab. Dies tun sie unter lauten „Paper„-Rufen.

Sie sind nicht wie die Machliwallahs, die Fischverkäufer. Oder die Chakkuwallahs, die Messerschleifer. Die bieten ihre Ware bzw. ihren Service auch als fahrende Händler an und trotten durch die Gassen auf der Suche nach Kundschaft, ihren Schlachtruf trällernd. Aber nein, die Raddiwallahs sind ganz anders: Ich glaube, sie sind alle heimlich gern singende Spitzbuben, deren melodisches Hobby sie dazu treibt, krähend durch die Landschaft zu fahren. Wie kann man sonst erklären, dass wir jeden Morgen zwei Stunden lang von so vielen Raddiwallahs heimgesucht werden, dass man unmöglich davon ausgehen könnte, sie würden auch nur einen einzigen alten Zeitungsschnipsel finden? Vielleicht funktionieren sie ja wie der Rattenfänger von Hameln, diese Zeitungsflöter von Mumbai?

Nein, es ist so: Am späten Vormittag beginnen die Paperrufe. Jeder Raddiwallah hat seinen eigenen Klingelton, sozusagen. Einer trällert „Paper-Raddiwallah“ und hängt manchmal ein Lalala hinten an. Ein anderer stönt laut „Ahhhhhh-Paperwallahhhh!“ und dreht so seine Runden. Manchmal gibts das in Dolby-Surround von allen drei Seiten (wir sind auf drei Seiten von Gassen umgeben), und sie rufen zeitlich versetzt, während sie der Sonne und den Vogelärschen (Es trifft nie die Anderen!) trotzen und warten, dass jemand den Kopf zum Fenster raussteckt und ruft: Stopp, ich hab da was!

Karren
Solche Karren (wie diese hier neben dem Dhobighat in Südmumbai) nutzen Raddiwallahs, um ihre Ware zu transportieren. Normalerweise sollte jeder dieser Karren über eine Registrierungsplakette verfügen. Die Karren auf dem Foto hatten jeweils eine, aber ich bin noch nicht zum Raddiwallah runter auf die Straße gehüpft, um zu schauen, ob er sein Gefährt auch registriert hat. 😉

Die Raddiwallahs kaufen nicht nur Altpapier, sondern u.a. auch leere Flaschen, Kartons und alte Kanister wie die für Speiseöl, da man in Indien Speiseöl im 20-Liter-Vorratskanister kauft. Wie Bier in Deutschland. Zum Beispiel. Oder Limo. Jedenfalls sind sie doch recht vielfältig und man kann jede Menge alten Krempel loswerden. Dagegen gibts Bares. Pro Kilo Zeitung 5 Rupien. 8 Rupien für eine leere Bierflasche. Voll nimmt er sie sicher auch, aber mehr gibts dafür auch nicht. 😉 Und 10 Rupien für einen Karton (hübsch gefaltet).

Wir sind treue Kunden eines Raddiwallahs, keine Gelegenheitsdiebe. Zu Beginn riefen wir immer mal wieder einen Raddiwallah nach oben, wenn der Turm alter Zeitungen zu arg zu schwanken begann. Die fahrenden Raddiwallahs bieten häufig weitaus bessere Konditionen an als die, die ich oben zitiert habe. 7 oder 8 oder gar 9 Rupien für ein Kilo Papier. Um diese sündhafte Großzügigkeit ihrerseits wieder auszugleichen, tragen sie allerdings Waagen bei sich, die gut und gern 10 Kilo unterschlagen. Es hat uns immer geärgert. Trotz des Pfennigkrams gehts ums Prinzip! :yes: Und so hörten wir auf, unser Glück mit den fahrenden Raddiwallahs zu versuchen. Etwa zur gleichen Zeit eröffnete Rishabd sein Geschäft. Rishabd fackelt nicht lang: 5 Rupien pro Kilo, mehr nicht. Dafür geht seine Waage genau. Seine Telefonnummer klebt bei mir am Schrank, und wenn der Zeitungsberg zu groß und der Flaschenwald zu dicht geworden sind, dann rufen wir ihn an. Er kommt innerhalb von 20 Minuten mit seinem knatternden Rickshawmobil vorbei und holt die Ware ab. Sein Geschäftsmodell gefällt mir besser: erstens ist es mit Ausnahme der Rickshaw lautlos, und zweitens steht er auf Abruf bereit und er ist ehrlich.

Zurück zu den singenden Raddiwallahs: Warum ziehen sie um die Fassaden und singen jeden Tag ihr Lied? Meist sind ihre Jutesäcke und Karren leer. Aber die Antwort liegt auf der Hand: Was sollen sie den ganz Tag tun, in ihrer kleinen Hütte sitzend, Tee trinkend, auf Kundschaft wartend? Aus purer Langeweile fahren sie um die Häuser. Und ich bin sicher, die meisten Haushalte pflegen Geschäfte mit nur einem treuen Raddiwallah, nach dessen Schlachtruf sie dann die Lauscher aufstellen.

Es ist so leicht. So simple. So faszinierend!
In der DDR gabs auch gutes Geld fürs Altpapier, und ich zog mit meiner Kinderschubkarre durchs Dorf, um den Krempel zu verkaufen. Manchmal putzte man bei den Nachbarn die Klingel, um zu fragen, ob sie noch paar Blätter über haben. Grundgütiger, ich bin eine Raddiwallih! 8|

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Es gibt in Mumbai eine Straße, in den alten Gassen der Bazaare, die sich vollkommen auf die Endverwertung dieser Abfälle spezialisiert hat. Ich wollte sie besuchen, seit der arrogante Sanjeev Bhaskar in seiner grauenhaften Indienserie darüber berichtet hat – so abfällig, wie das nur jemand kann, der nicht zu schätzen weiß, dass jemand den Müll wegräumt. Aber trallala, ich war immer noch nicht dort.

Indien in Bildern: Billis bester Freund

Billis bester Freund – das muss der Machliwallah sein.
billi = Katze
machli = Fisch

billis best friend

Dieses Foto ist in der Chapel Road in Bandra (West) entstanden, wo ich kürzlich spazieren ging, um den alten Charme Mumbais in diesem letzten Stück Dorf im sonst überlaufenen, lauten, nervtötenden Bandra zu schnuppern. Hier finden sich gewundene Gassen, alte, alte Häuser und der in Mumbai ewig präsente Machliwallah – Billis bester Freund.

Katzen sind in Mumbai viel weiter verbreitet als in Städten wie Bangalore und Delhi, in denen wir zuvor gewohnt haben. Man sieht jeden Tag einen dieser geschmeidigen, häufig roten Vierbeiner durch die Gassen streifen. Auf der Suche nach ihm. Dem Fischerverkäufer, der seine Ware in einer Plastewanne auf dem Kopf balanciert und vor brüsken Hausfrauen und Maids auspackt. Wir kaufen manchmal Garnelen von diesen Händlern. Die muss man zwar zu Hause noch mal säubern, was häufig eine stinkende halbe Stunde in Anspruch nimmt, aber die schmecken einfach besser als die TK-Garnelen und sind billiger als die im Supermarkt. :yes: Gedanken wegen der Frische muss man sich nicht machen.

Was ist ein Chawl?

Chawls sind ein integrierter Teil Mumbais: billige günstige Arbeiterunterkünfte, deren Aufstieg vor circa 100 Jahren begann. Es handelt sich um Ein-Raum-Wohnungen, häufig gerade 20m², die durch einen offenen Balkon miteinander verbunden sind. Häufig bestehen diese Blöcke aus 4 bis 7 Stockwerken und circa zehn Zimmern pro Etage. Jede Wohnung hat sowohl eine Kochnische als auch eine Waschecke. Wasser aus dem Hahn gibt es jeweils für einige Stunden am Tag. Für den übrigen Bedarf wurde Wasser in Fässern gebunkert.

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Häufig besteht ein Chawl aus einer Gebäudegruppe, in deren Mitte bzw. zwischen denen sich eine Art Hof befindet. Dort findet buchstäblich das Leben statt. Chawlbewohner sehen sich als Großfamilie. Bedingt durch Platzmangel in den Zimmern horten sich die Bewohner in Altersgruppen zusammen und verbringen den Tag draußen. In Abwesenheit privater Freiräume ist man in allen Stadien des täglichen Lebens miteinander verbunden: Festivals wie das Drachensteigen am 14. Januar werden zusammen auf dem Dach des Chawls gefeiert. Hochzeiten und Beerdigungen begeht man ebenfalls zusammen, und da man sich schlecht aus dem Weg gehen kann, werden Nachbarn zur Familie.

Die ersten Chawls wurden von Grundbesitzern gebaut, die während des Ersten Weltkriegs viel Geld gemacht hatten und diesen Gewinn in Einzelzimmer für Arbeiter investierten. Auch der Bombay Improvement Trust (BIT) und Bombay Development Directorate (BDD) bauten Chawls, deren Struktur solide und deren Fassade häufig aufwendig verziert war. Als Mieter kamen die Fabrikarbeiter in Frage, die zunächst ohne ihre Familien aus dem Hinterland nach Bombay gekommen waren und sich die Zimmer teilten. Nicht nur wurden die Wohnungen von mehreren Arbeitern geteilt, sondern wenn einer seine Schicht arbeitete, schlief ein anderer an dessen Stelle, bis es Zeit für den Schichtwechsel war. Als später die Familien der Arbeiter nachzogen, bewohnten sie diese Chawls und das enge soziale Gefüge dieser Ministädte begann sich zu entwickeln.

Im Parterre nisteten sich kleine Geschäfte ein. Lebensmittelhändler. Telefongeschäfte, die sich hier Public Calling Office (PCO) nennen. Usw.

Doch neben den Verstrickungen eines quasi ständig öffentlichen Lebens (denn die Zimmertüren standen den ganzen Tag offen und im Sommer wurde auf dem Balkon geschlafen), litt man besonders während der Morgenstunde, wenn man vor den Gemeinschaftsklos Schlange stehen musste. Drinnen im Sanctum Sanctorum des Verdauungsprozesses ließen sich viele Chawlbewohner zum Bidirauchen verleiten, um diverse andere Gerüche zu übertünchen.

Dieser Mangel an Privatsphäre führte nicht nur zu der viel gepriesenen, romantisierten sozialen Verflechtung unter den Chawlbewohnern, sondern sie brachten so manchen Bewohner um eine Braut, da es nicht wünschenswert ist, als junges Paar zusammen mit der Großfamilie in einem Zimmer zu wohnen. Der Film Piya Ka Ghar aus den 70ern beschreibt die Nöte eines jungen Paares in solch einem Chawl.
Und das ist auch der Grund, warum Bombays Jugend am Strand, im Kino und in ähnlich öffentlichen Plätzen turteln muss – immerhin ist der Strand anonymer als der Chawl, wo immer ein Nachbar, immer ein Verwandter, immer ein Kumpel zur Tür herein schaut.

Weitere Filme, die im Chawl spielen:
Katha mit Nasseruddin Shah und Farooque Sheikh.
Pran Jaaye Par Shaan Na Jaaye mit Raveena Tandon.

Chawls waren schon immer Brutstätte der unteren Mittelklasse, aber sie beherbergten auch heutige Stars, wie Jackie Shroff (Bollywoodschauspieler), der 25 Jahre in einem Chawl in Walkeshwar Road lebte. Außerdem Anil Kapoor (ebenfalls Bollywoodschauspieler) und Mukesh Ambani (heute einer der reichsten Männer der Welt).

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Kauf das, du Wurm!

Inder sind furchtbar nette Menschen. Und sie sind fantastische Verkaufstalente. Unumstößlicher Fakt. Weiß jeder. Wurde man erst einmal durch die dezenten Lockrufe sympathischer Schlepper freischaffender Marketingagenten in die Hallen vergnüglicher Konsumwut gelotst, zieht einem jemand die Beine weg und der Hintern plumpst auf einen bereitstehenden Stuhl, wodurch sanft und unaufdringlich impliziert wurde, man möge es sich doch bitte bequem machen. Ein Glas Tee, Wasser, Kaffee, Limonade und unendliche Lungenvolumen Räucherstäbchen später hat man einen Berg Produkte vor sich, aus dem man sich schon aus Scham etwas aussucht.

So. Oder so ähnlich. Läuft das.

Als wir also kürzlich ein Fotofachgeschäft betraten, um uns zu informieren, waren wir vorbereitet, nur um schlussendlich überrascht zu werden: Die Türe mussten wir schon selber öffnen. 😉 Drinnen empfing uns dann trotzdem die Abgaswolke süßer Räucherstäbchen. Nur die Stühle ließen auf sich warten. :??:

Der Geschäftsinhaber, ein rundlicher Mann, dessen protziger Charakterstrang gleichmäßig über seine Gesichtszüge verteilt offen lag, lümmelte auf dem Thresen und fertigte die Kunden ab, die in diesem geschäftstüchtigen Teil Mumbais nach Wegen suchen, ihre vielen Rupien loszuwerden. Wir fragten nach den Charakteristiken zweier Kameras, deren Vor- und Nachzüge wir uns erklären ließen. Den Kostenvoranschlag gabs auf einen kleinen Notizzettel geschmiert.

„Mit Rechnung oder ohne?“, fragte Bob, der Verkäufer, der nicht wirklich Bob hieß, aber wie ein Bob aussah.

Wir: forum smileys

Bob: „Mit Rechnung x Rupien. Ohne Rechnung x Rupien minus Zoll, Mehrwertsteuer und Octroi.“

Wir: forum smileys

Bob: „Kauf das Gehäuse auf Rechnung. Wegen Garantie und so. Und das Objektiv ohne.“

Offene, freundliche, hilfsbereite Verkäufer.

Wir näherten uns der sensiblen Frage, was mit einer der alten Kameras zu tun ist. Eigentlich wollten wir das Ding verkaufen. Dass wir für ein vier Jahre altes, also im Prinzip bereits prähistorisches Modell keine Moneten scheffeln, ist uns klar, aber dass irgendein angehender Hobbyfotograf für wenige Rupien ein Modell zum Testen seiner neuen Freizeitbeschäftigung kaufen sollte, wollte Bob nicht so ganz einleuchten. Als er das Objekt der Diskussion zu Gesicht bekam, gab er einen Laut von sich, der mich spontan und unerklärlicherweise an ein frivol grunzendes Schwein im Akt des Fressens erinnerte, bis er seinen Gesichtsausdruck wieder so weit unter Kontrolle hatte, als dass er nur noch ganz leicht hämisch aussah. In etwa so: forum smileys

Ich warf Rahul einen prüfenden Blick zu, um zu sehen, welches Ungemach dieser Coup de Grace verursacht hatte, und war froh, dass Rahuls Hände gefüllt waren mit seiner prähistorischen und dennoch heiß verehrten Kamera, so dass er dem sichtbaren Impuls, Bob zu meuchelmorden, in diesem Moment nicht nachgehen konnte. forum smileys

Gut für Bob.

Bob hielt uns dann noch einen Vortrag über die Erbärmlichkeit unserer momentanen Kamera, zeigte uns die Rechnung des Kunden vor uns (über 200.000 Rupien), um ein Gefühl tiefer Demut, Nutz- und Minderwertigkeit in uns zu schüren, nur um dann galant zurück zum Thema Rechnung vs. Keine Rechnung zu kommen, und damit auf den Kauf einer neuen, supertollen, brandaktuellen Kamera zu schwenken.

Ein Meister seines Faches also. forum smileys

Wir verließen das Geschäft mit Gesichtsausdrücken, die nur unter Aufbringung höchster Selbstdisziplin in eine ausdruckslose Mine zurechtgerückt werden konnte, und brachen draußen auf dem Fußweg in gröhlendes Gelächter aus. Rahuls kurzer Ausflug in die Gefilde echter Wut verwandelte sich in einen Anfall höchster Belustigung. Ich weiß ja nicht, welcher Gattung Einfaltspinsel man zugehörig sein muss, um sich durch solch ungehobelte Taktiken bearbeiten zu lassen, aber unterhaltsam war das schon. :))

Diese Geschäftstaktik haben übrigens viele drauf, vor allen Dingen natürlich diejenigen, die exklusive und/oder teure Ware verkaufen.

Bombay gibts nicht mehr

bombay mumbai
Das ist nicht dasselbe.

1995 verpuffte Bombay ins Nichts. In die staubige, süßsaure Luft der Inselstadt. Und wart hernach nicht mehr gesehen.

Die rechtsaußen stehende politische Partei Shiv Sena war mit Hilfe der sorgfältig geplanten und rigoros durchgeführten Straßenschlachten und -massaker (Bildlink) an der muslimischen Bevölkerung in Mumbai 1993 (als Reaktion auf die zuvor durch Muslime gezündeten Bomben (Bildlink) in den Local Trains) an die Macht gelangt und erklärte, Bombay sei verschieden. Stattdessen lebe Mumbai, die Bezeichnung der Stadt, die schon immer von den Marathen und Gujaratis benutzt worden war.

Das Fischerdorf Mumbai auf einer der sieben ursprünglichen Inseln, die später von den Briten aufgeschüttet worden waren, wurde bereits von den Portugiesen namentlich gemeuchelt. Sie nannten die schöne Bucht schlicht Bombaim, was kein Brite korrekt aussprechen konnte und darum in Bombay wandelte. Solch eine Schmach konnte die Shiv Sena, selbsternnante Retter und Kulturerhalter der Marathen, natürlich nicht auf der finanziell erfolgreichsten Stadt Indiens sitzen lassen. Wer 40% der gesamten Einkommenssteuer Indiens zahlt, darf sich auch seinen Namen selbst aussuchen.  Nun heißt Bombay seit über elf Jahren offiziell Mumbai.

Das hat sich aber noch nicht bei der gesamten Bevölkerung herumgesprochen. Museen, Firmen, Bildungseinrichtungen und gar Ämter und Gerichtshöfe frönen der britischen Namensverschandelung und weigern sich, in ihrer Nomenklatur der Schutzgöttin der Stadt – Mumbadevi – zu huldigen. [praiseyou Zu dumm.

Aus diesem Grund ziehen die Erretter des Marathentums bzw. deren arbeitslose, visionslose jugendliche Parteianhänger ähnlich den militanten Kannadakräften Bangalores mit Farbtöpfen durch die Stadt und erinnern zum Beispiel Firmen wie Bombay Dyeing, die es nicht nur bereits vor der öffentlichen Umbenennung der Stadt sondern auch vor der Gründung gewisser politischer Parteien gab, an ihre Pflicht der Schutzgötting äh der Shiv Sena Schrägstrich Maharashtra Navnirman Sena gegenüber. [praiseyouBildlink: Das Ende einer sagenhaften Firma. Bombay Dyeing am Boden.

Auch der Bombay High Court sollte sich das mit dem B-Wort noch mal überlegen, meinte Bal Thackeray kürzlich, obwohl man davon ausgehen kann, dass seine Hirten Schafe davon absehen werden, mit ihrem Malkasten auf diesen abtrünnigen Gerichtshof loszuziehen. :doh:
(Bal Thackeray ist Parteigründer und -vorsitzender der Shiv Sena, die sich nicht von ungefähr als SS abkürzen lässt.)

Ob es Folgen für den SENSEX (Aktienindex) hat, wenn der Bombay Stock Exchange umbenannt wird? Die Bombay Scottish School im Stadtteil Mahim musste bereits dran glauben.

Das Restaurant Bombay Blue hat sich die Warnungen der Shiv Sena bereits zu Herzen genommen und das gelb leuchtende Schild Bombay seiner Filiale im südlichen Stadtteil Kala Ghoda mit Papier abgedeckt. Auf einem kleinen Brettchen steht in Marathi „Mumbai Blue“.
Mumbai Blue ist natürlich ein arger Akt des Vandalismus an den literarischen Qualitäten des alten Namens und sollte zum Erhalt derselben in Mumbai Maroon umbenannt werden.

mumbai blue

In diesem Blog heißt Bombay ebenfalls Mumbai. Ich halte nicht viel von der Umbennung von Städten, halte es aber für eine noch viel sinnlosere Energieverschwendung, mich darüber aufzuregen oder – noch infantiler – dagegen zu sträuben. Die Umbennung etablierter Insitutionen et al ist allerdings eine ganz andere Sache. Es geht nicht um den Erhalt einer Sprache oder das respektvolle Verhalten gegenüber einer Stadt, sondern das präzise Kräftemessen und Wahlfangverhalten einer politischen Partei und der systematischen Unterdrückung einer Freiheit, die zunehmend bedeutungsloser zu werden scheint.

Teil 2 „Bombay ist tot“ gibts demnächst.

Mumbai – Leben im Zeitraffer

In Mumbai, so sagt man, geht alles ratzfatz. Mumbai, so sagt man, ist schnelllebig. In Mumbai, so sagt man, hat niemand Zeit. Und die Stadt schläft nie.

Das Bild vollgestopfter Local Trains hat sich für immer ins Hirn des Mumbaibesuchers gefressen. Flinke Karawanen aus Arbeitern fitzen sich durch die Stadt, und dabei wird – Daumen hoch – viel weniger geschubst als in anderen Städten. Alle Welt gleitet über die Bahnsteige, Treppen rauf und runter, durch Gassen und über Straßen – ganz Mumbai, die ganzen 19 Komma Nochwas Millionen Menschen, scheint auf einem Mal unterwegs zu sein, um die reichste Stadt, den Großverdiener Indiens, am Laufen zu halten.

Man kann sich das wie den guten alten Ottomotor vorstellen: ständig neue Massen quetschen sich in die öffentlichen Verkehrsmittel, die Straßen, in Fahrstühle, usw. und ständig explodiert dieses Gewühl aus Menschen und trotzdem finden sie immer ihren Weg. Man muss sich die Zahl von 19,3 Millionen auf der Zunge zergehen lassen, und sich dann vorstellen, wie diese unvorstellbar große Ansammlung lebender Organismen in die Adern dieser Stadt verpufft. Unaufhaltsam. Sie werden, wie der Müll aus Malpe, ständig und mit jeder Welle an Land gespült: in ihre Büros. In ihre kleinen Geschäfte. Dahin, wo sie ihren Lebensunterhalt verdienen, und obwohl Mumbai eine marode, von den Maden politischen Unwillens zerfressene Gosse ist, funktioniert das alles blendend. Es ist schier unglaublich, wie ein so ausgeleiertes System immer noch mehr oder minder effizient arbeiten kann. Immerhin ist es leicht zu sagen, dass in Mumbai alles schlecht, alles alt, alles pfui ist, aber ich finde es bemerkenswert, vielleicht auch ein bisschen beängstigend, wie die Bürger verbissen und mit Gleichgültigkeit über die Steine hüpfen, die ihnen von allen Seiten in den Weg geworfen werden.

Oft beobachtet man die ungeschriebenen Regeln dieser Großstadt, in der Menschen, die sich nicht kennen und die nichts miteinander zu tun haben, im großen Kessel Buntes zurechtzukommen versuchen: freiwilliges Anstellen an Bushaltestellen zum Beispiel. In einem Land, dass den Ellenbogenkampf patientiert zu haben scheint, gibt es an den erstaunlichsten Orten zivilisierste Silberstreifen am nach Fäkalien schnuppernden Horizont.
=> Freiwillige, geordnete Schlangen gibt es auch für Rickshaws. Ungefragt stellen sich die Passagiere in einer Reihe auf. Ungefragt kommen die Rickshaws eine nach der anderen angefahren und nehmen ohne zu Murren den ersten Fahrgast auf. Kein Drängeln. Kein Schubsen. Kein Maulen.
=> Auch das System des Wechselgeldes ist verpönt. Wechselgeld zusammen sammeln kostet schließlich Zeit, also steht beispielsweise an den meisten Fahrkartenschaltern, man solle doch bitte den passenden Betrag parat halten.
=> Ähnlich ist es beim Bezahlen an der Verbindungsbrücke zwischen Mumbai und Navi Mumbai. Hat man die 25 Rupien für eine Fahrt (mit dem privaten Auto) nicht passend, hält man wenigstens den Schein aus dem Fenster, mit dem man zu zahlen gedenkt, so dass der Mann am Schalter schon sehen kann, wie viel Wechselgeld er rauskramen muss, während der Vordermann noch den Gang einlegt und losfährt. Kommunikation ist auf das Geben und Nehmen beschränkt. Kein Hallo, kein Lächeln. Hurtig, hurtig. Man wird auch dazu angehalten, das Wechselgeld oder den Beleg später einzusortieren. Erst mal hastig auf den Beifahrersitz klatschen und Platz für den Nächsten machen. Der Mann am Schalter wedelt einen ungeduldig weiter: Schneller, schneller!
=> In der Rickshaw hat man den Fahrpreis am besten auch schon parat, wenn der Fahrer am Zielort anhält. Ich hab schon Leute in einer einzigen, gleitenden Bewegung aus der noch rollenden Rickshaw schlüpfen sehen. Schneller, schneller!

Das ist das Bild von Mumbai, dass in vielen Köpfen herumschwirrt. Das Bild eines enormen Zappelphillips, der einfach nicht still sein kann und der keine Trägheit dulded. Nun, wer den enormen Luxus „Zeit“ besitzt, der kann sich in der Welle dieses Wahnsinns treiben lassen und beobachten. Es gibt sie – Menschen, die sich nicht ausschließlich im Laufschritt fortbewegen. Menschen, die das tun, was man so oft sieht, wenn man durch die indische Landschaft braust und was in Reiseführern als der langsam fließende, genießende, nicht-hektische Lebensstil Indiens verklärt worden ist: Karten spielen. Auf Charpoys rumliegen und träumen. Rumgucken. Ein Nickerchen machen. Niemand spricht von diesen Leuten, aber es gibt sie auch in Mumbai. Vermutlich haben Mumbaikars das Wort Schnelllebigkeit nicht ohne einen gewissen Stolz für ihre Stadt verbucht, auch wenn sie sich immer so viel niedliche Mühe geben, es möglichst dramatisch auszumalen. Siehe oben. Und dann … siehe unten.

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