Am 28. Juli 2009 wurde das Thema Ehrenmord zum ersten Mal im indischen Parlament angesprochen: Mehrere Minister verschiedener Parteien verlangten, dass sich die Regierung mit dem wachsenden Problem auseinandersetzen solle. Man möchte, dass separate Gesetze erarbeitet werden, die sich ausschließlich mit Ehrenmorden auseinandersetzen.
Worum geht es?
Ehrendmorde treten in den westlichen Medien fast ausschließlich in Verbindung mit dem Islam auf. In Indien allerdings handelt es sich um ein Phänomen, welches auch im Hinduismus und im Sikhismus vertreten ist. In den letzten Wochen hat es einige Fälle gegeben, die Aufmerksamkeit verdient hätten, doch die Schweinegrippenpanik verhinderte, dass sich diese bedenklichen Fälle auf mehr als einer Hand voll Titelseiten sozial engagierter Nachrichtenmagazine wiederfanden.
9. August 2009
Sandeep Singh (22) und Monika (16) baumeln an einem Strick von einem Baum in Siwana im Jhajjar Distrikt, Haryana. Sie wurden erschlagen und danach aufgehangen.
6. August 2009
Im Rohtak Distrikt, ebenfalls Haryana, wird ein Paar von der Brautfamilie zu Tode geprügelt.
22. Juli 2009
Ved Pal Maun (27) wird im Dorf Singhwal im Jind Distrikt, Haryana, von einem Mob erschlagen. Er war zum Haus seiner Schwiegereltern gekommen, um seine Frau Sonia abzuholen, die dort gefangen gehalten wurde. Die fünfzehn Polizisten, die er als Begleitschutz dabei hatte, konnten sein Leben nicht retten. Von Sonia fehlt jede Spur.
Das Blut dieser drei jüngsten Fälle ist noch frisch. Es handelt sich um Ehrenmorde. Niemand verlor in diesen Fällen mal kurz die Beherrschung oder handelte gar unüberlegt, spontan, im Affekt. Ein Ehrenmord ist kein „herkömmlicher“ Mord, sondern ein Todesurteil, welches von der Gemeinschaft vollstreckt wird, beispielsweise einem beträchtlichen Teil des gesamten Dorfes.
Was sind Khap Panchayats?
Panchayats sind Dorfräte, diezum traditionellen, dezentralisierten Verwaltungssystem Indiens gehören. Es sind vollkommen legitime, demokratisch gewählte, gesetzlich anerkannte Körperschaften, die u.a. administrative Aufgaben besitzen.
Dann gibt es noch eine andere Struktur, die sich Khap Panchayat nennt bzw. Kastenpanchayat. Diesen Vereinigungen gehören ausschließlich Männer an. Es handelt sich um Räte, die aus mehreren Kasten gebildet werden und deren Einzugsgebiet sich über mehrere Dörfer oder ganze Distrikte erstreckt. Diese Gruppierungen werden entweder nach der dominanten Kaste oder der Region benannt. Sie sind nicht legitim und besitzen keinerlei gesetzlich anerkannte Position/Funktion. Dieser Umstand hält sie allerdings nicht davon ab, in ihrem Einzugsgebiet als gesetzgebende Einheit zu funktionieren.
Der Khap Panchayat repräsentiert das soziale Gesetz der Region. Es gibt ihn in den nordindischen Bundesstaaten Haryana, Punjab, Uttar Pradesh sowie Rajasthan, und er ist mächtig. Seine selbsternannte Aufgabe ist es, die moralischen Gesetze der Gemeinschaft zu schützen. Dies tut er in Sitzungen, Verhandlungen und Richtersprüchen: Was die Vorsitzenden des Khap Panchayats beschließen, hat innerhalb des Geltungsbereiches des bestimmten Khaps Gesetzeswert.
Verbotene Hochzeiten
Indiens extrem traditionelle Gesellschaft duldet keine Liebeshochzeiten. Das liegt u.a. daran, dass einer Liebeshochzeit die freie Entscheidungsgewalt eines jungen Paares zu Grunde liegt, und diese freie Entscheidungsgewalt bedeutet gleichzeitig, dass der Einfluss der älteren Generation schwindet. Die alten Normen zerbröckeln. Alte Macht verfällt. Dies ist ein Umstand, den kein Ältestenrat freiwillig dulden kann. Es gilt daher, Liebeshochzeiten zu verhindern.
Im Hinduismus gibt es Kasten und Clans. Traditionell ist es nicht erlaubt, dass Angehörige unterschiedlicher Kasten heiraten. Gleichzeitig ist es den Angehörigen derselben Kaste untersagt sich zu ehelichen, wenn sie demselben Clan angehören. Ähnlich dem Christentum, in dem davon ausgegangen wird, dass die Menschheit von Adam und Eva abstammt und somit irgendwie verwandschaftlich verbunden ist, gibt es ein vergleichbares Prinzip, wonach Angehörige einer Kaste, die im selben Dorf oder Distrikt wohnen, zum selben Clan gehören. Dieser Clan nennt sich Gotra. Eheliche Beziehungen innerhalb derselben Gotra werden als Inzest betrachtet, was strengstenst verboten ist und sehr starke, emotionale Reaktionen hervorruft.
Die Todesurteile des Khap Panchayats
Wenn ein Paar nach eigenem Gutdünken heiratet, kommt es manchmal vor, dass sie zum selben Clan oder Gotra gehören. Der Khap Panchayat hat daraufhin einen gesellschaftlich anerkannten Grund, eine solche Ehe als nichtig zu erklären. Nach einer solchen „Verhandlung“ des Khaps wird das Paar dann gezwungen, die Ehe aufzulösen. Manchmal muss die Frau am Handgelenk ihres Ehemannes ein Rakhi binden, um ihn als ihren Bruder anzuerkennen. So wurde schon so manche Ehe „geschieden“, selbst wenn das Paar bereits Kinder hatte. Sie dürfen nicht mehr zusammen wohnen. Sie sind ja eigentlich Geschwister.
Nicht immer fügen sich die abtrünnigen Paare einem solchen Beschluss. Im Jahr 2007 beschloss der Khap, dass Mahesh und Gudiya Singh nicht rechtmäßig verheiratet seien, da sie zum selben Clan gehörten. Als sich das Paar weigerte, den Beschluss des Khaps anzuerkennen, verhing dieser ein Todesurteil, welches wenige Stunden später ausgeführt wurde. Das Paar wurde in Stücke gehackt. Die Leichenteile wurden verbrannt.
2007 beschloss der Banwala Khap, die Ehe zwischen Manoj und Babli aus dem Dorf Karoda sei nicht rechtens. Ein Todesurteil wurde verhängt und ausgeführt. Derselbe Khap beschloss das Todesurteil für Ved Pal am 22. Juli 2009.
Geld & Landgewinn
Es ist nicht zwingend notwendig, dass ein Paar zum selben Clan gehört, um den Khap zu verärgern. Schon allein die Tatsache, überhaupt ohne den Segen der Älteren geheiratet zu haben, kann den Khap dazu bewegen, ein Paar schlichtweg als zum selben Clan gehörend zu erklären – unabhängig davon, ob das nun zutrifft oder nicht. Das Urteil bleibt gleich: Scheidung. Verbannung der gesamten Familie aus dem Dorf. Oder ein Todesurteil.
Besonders lohnenswert ist es für den Khap, eine Familie zu verbannen. So geschah es der Familie Gehlout im Dorf Dharana. Der in Delhi lebende Enkelsohn Ravinder hatte ohne Erlaubnis Shilpa geheiratet. Ob das dem Khap nicht passte, weil beide zu verschwägerten Clans gehörten, zwischen denen es ein „Nichtheiratsabkommen“ gab, oder ob sich der Khap zur Empörung bewogen fühlte, da die Familie Gehlout über beträchtliche Massen fruchtbaren Farmlandes verfügte – wer weiß? Wen juckts? Fakt ist, dass der Khap die Familie Gehlout bestrafte, indem eine Verbannung ausgesprochen wurde. Die gesamte Familie Gehlout hat das Dorf Dharana zu verlassen. Praktischerweise fällt das zurückgelassene Land an den Khap.
Diverse Urteile
Khaps befassen sich mit allerlei Dingen, die das gesellschaftliche Leben ihrer Unterlinge betreffen. Im Distrikt Rohtak im Bundesstaat Haryana beschloss der Ruhal Khap im März 2007, dass während Hochzeiten keine DJs mehr auflegen dürften. Als Grund hierfür wurde angegeben, dass die laute Musik die Milchkühe stören würde. Der eine oder andere mag sich auch dadurch gestört fühlen, dass Musik in Verbindung mit einer Tanzfläche häufig dazu führt, dass sich junge Männer und Frauen näher kommen.
Einen Monat später wurde im Distrikt Jind in Haryana Cricket verboten, da das englische Spiel die jungen Männer des Dorfes irreführen würde. Die sollten lieber kabaddi und kho-kho spielen. Wer dennoch Cricket spielt, dessen Familie muss für sieben Generationen Strafe zahlen.
Diese Urteile sind noch recht banal und unterhaltsam. Weit besorgniserregender ist ein Urteil aus dem Jahre 2004, welches vom Tevatia Khap in Ballabhgarh im Distrikt Faridabad (in unmittelbarer Nähe der Hauptstadt Delhi) verhängt worden ist: Familien mit weniger als zwei Söhnen dürften den Khap nicht mehr um Hilfe bitten, wenn es Zwistigkeiten gäbe. Seitdem tun Dorfbewohner in Ballabhgarh alles, um keine Töchter zu bekommen. Das Geschlechterverhältnis ist von 683 Mädchen pro 1.000 Jungen im Jahre 2004 auf 370:1.000 im Jahre 2008 gesunken.
Unterstützung für den Khap Panchayat
Dorfbewohner verehren ihren Khap. Für sie ist er eine Institution, die bekannte Werte und Normen schützt, das tägliche Leben regelt, Streitigkeiten aus der Welt schafft und in gewisser Weise für Recht und Ordnung sorgt. So kommt es, dass sich so viele Dorfbewohner an der Vollstreckung z.B. der Todesurteile beteiligen.
Am 9. Mai 2008 hatte man die schwangere Sunita und ihren Mann Jasbir an einen Baum gefesselt und mit einem Traktor überfahren. Die Leichen wurden vor Sunitas Haus aufgehangen, um andere junge Burschen zu warnen, nicht denselben Fehler zu begehen und unerlaubt im selben Clan zu heiraten. Dies geschah im Dorf Balla im Distrikt Karnal, Bundesstaat Haryana.
Faszinierend und verstörend zugleich ist die Reaktion der Dorfbewohner. „Was sonst soll man mit solchen Kindern machen?“, fragt Kamal, deren Mann einer der Hauptverdächtigen ist. Jai Sing, ein Mitglied des hiesigen Khaps, meint dazu: „Eltern solcher Kinder sollten sie einfach stillschweigend töten. Nicht viele bekommen die Möglichkeit geboten, ihre Loyalität gegenüber der Bruderschaft zu beweisen.“ Damit meint er den Khap und die Gemeinschaft, die dieser darstellt.
Warum tut der Staat nichts dagegen?
Khaps sind mächtige Gemeinschaften. Ihnen folgen tausende wahlberechtigter Bürger. Selbstverständlich macht der Khap Panchayat während einer Wahl auch den Namen des Politikers bzw. der Partei publik, welche/n die Zustimmung des Khaps genießt. Die Dorfbewohner, die dem Khap angehören, machen ihre Wählerkreuzchen dann an der entsprechenden Stelle. Es ist einer politischen Karriere im Einzugsgebiet eines Khaps nicht dienlich, die Institution und Machenschaften desselben zu kritisieren oder gar die illegalen Aktivitäten unterbinden/ahnden zu wollen. Daher überrascht es kaum, dass Chief Minister von Haryana, Bhupinder Singh Hooda, zum Fall Ved Pal nur so viel zu sagen hatte: „Es ist eine gesellschaftliche Angelegenheit und die Gesellschaft hat das Recht zu entscheiden.“
Bereits 2006 nannte der Supreme Court Indiens die Khap Panchayats „barbarische Institutionen“, denen jede legitime Existenzgrundlage fehlte. Als das Thema am 28. Juli 2009 zum ersten Mal im indischen Parlament angesprochen wurde, reagierte Innenminister Chidambaram passend bestürzt. Das Land müsse den Kopf in Schande beugen, meinte er. Doch zu separaten Gesetzen für Ehrenmorde wollte er sich nicht festlegen.
Soziale Aktivisten allerdings bestehen darauf, dass es notwendig ist, Ehrenmorde vor dem Gesetz von „normalen“ Morden zu trennen, wie das auch bei der Witwenverbrennung Sati getan wurde. Nur so wird das Problem der stetig zunehmenden Ehrenmorde anerkannt und kann folglich addressiert werden. Bisher werden Ehrenmorde nicht separat gelistet und es gibt keine verlässlichen Daten, wie viele solcher Morde stattfinden. Das Nachrichtenmagazin Tehelka zitiert NGOs, die von mindestens vier Todesurteilen durch Khaps pro Woche ausgehen. Am 23. Juni 2008 erklärte Richter Kanwaljit Singh Ahluwalia vom Punjab und Haryana High Court, dass die Gerichte in den vergangenen fünf Jahren von tausenden Hilfeanfragen von jungen Paaren überschwemmt worden waren: Paare, die das Gericht um Personenschutz baten, weil sie bedroht werden. Das hatte auch Ved Pal getan. Der High Court hatte ihm fünfzehn Polizisten zur Verfügung gestellt. Genützt hat ihm das wenig.
Weiterführende Links:
Tehelka: „Taliban In Our Backyard – A Journey Through The Diktat Lands Of Rape And Murder“
Frontline: „In The Name Of Honour“