Satyamev Jayate oder Wie Aamir Khan Indien aufwecken möchte

Bereits in den vergangenen, wenigen Jahren ist es zunehmend hipp geworden, sich in Indien für diverse gesellschaftliche Verbesserungen einzusetzen. „Causes“ nennt sich das hierzulande und kommt in etwa dem Erwachen eines sozialen Bewusstseins gleich. Ein solches gibt es traditionell in Indien nämlich nicht. Verbunden mit der eigenen Religiosität wird in der Mehrheitsreligion Hinduismus zwar oft gespendet (zum Beispiel Almosen an Arme auf dem Weg zum Tempel etc.), doch das Hauptanliegen solcherlei Aktionen dient weniger dem Wohle der Allgemeinheit als der Verbesserung der eigenen Seele.
Das jedoch ändert sich. Langsam. Gemächlich. Zarte Ansätze sind bereits zu sehen.
Plötzlich wird die zerklüftete Gesellschaft Indiens durch gemeinsame „Causes“ zusammengezogen. Dies betrifft momentan nur einen kleinen Teil Indiens, den satten Teil, der es sich leisten kann. Durchaus verständlich. Doch die Ansätze sind da.

Enter: Aamir Khan. In seiner neuen Sendung Satyamev Jayate (Wahrheit wird siegen) geht es jede Woche um ein neues, brisantes, die indische Gesellschaft negativ beeinflussendes Thema. Es handelt sich um eine Art Talk Show. Dieses Format ist in Deutschland bereits zum Gossenfernsehen verkommen, doch in Indien ist es noch relativ unberührt, zumindest in der Konstellation, dass ein Moderator mit Ottonormalverbrauchern spricht und nicht andere Celebrities interviewt wie die unsterbliche (leider nur im Sinne von: untote) Simi Garewal.
Aamir Khan widmete sich in seiner ersten Sendung dem Thema des Mädchenmordes in Indien.
Etwas neues lernen wir hier nicht. Im Grunde dürfte es schwer für irgendeine Doku/Sendung sein, uns etwas Neues zu erzählen, wenn es um den Mädchenmord geht. Wir lernen nur immer wieder neue Auswüchse, indem mehr und mehr individuelle Fälle und Statistiken ans Tageslicht gezogen werden. Es bleibt zu hoffen, dass die Geschichten, die Aamirs Gäste erzählen, auf kurz oder lang am Gewissen der Menschen nagen und diese Kapsel irgendwann aufbrechen.
So erzählte uns beispielsweise die Mutter einer Tochter, wie ihre Schwiegermutter das Kind im Alter von 3 Jahren einfach die Treppe hinunter schubste in der Hoffnung, das Mädchen würde sich den Hals brechen. Tat es aber nicht.
Solche und weitere Schicksale werden in Aamirs Sendung aufbereitet, es gibt ein paar „Experten“ usw.

In den verstrichenen Wochen hat sich Aamir dem sexuellen MIssbrauch von Kindern gewidmet sowie der Frage, warum Hochzeiten in Indien solche ausufernden Feten sind, die Familien in den Ruin stürzen und zum Mädchenmord beitragen?

Lobenswert ist Aamirs Stunt in jeder Hinsicht. Ich finde es immer wunderbar, wenn Menschen ihren Ruhm dazu nutzen, um sinnvolle Botschaften zu senden oder zu helfen. Inwieweit Aamirs Sendung zu gesellschaftlichen Veränderungen beiträgt, lässt sich nicht sagen. Einen Sturm kann er vermutlich nicht beschwören, weil die Halbwertszeit seiner Sendung so kurz ist. Schließlich gibt es jede Woche ein weiteres Thema, das gesellschaftlichen Umbruchs bedarf. Das überfordert den Zuschauer. Allerdings glaube ich, dass es bereits hilfreich ist, wenn ein Star sich überhaupt den grauen Themen widmet, die in Indien gern als „Underbelly“ abgetan werden wie jüngst in der Kontroverse um Slumdog Millionaire. Man redet halt nicht gern über die Leichen im Keller, und wenn man es doch tut, wird einem ein famoser Mangel an Loyalität und Nationalstolz unterstellt. Das macht jeden Kritiker mundtot. Nicht so Aamir – ihm wird man solchergleichen kaum unterstellen können. Insofern: Daumen hoch für Aamirs neues Projekt.

Warten wir ab, was sich ergibt.

(Die Sendung läuft jeweils Sonntags im indischen Fernsehen, im Internet ist sie auf der Webseite Satyamev Jayate ebenfalls zu sehen. Englisch/Hindi)

Zensur in Indien

Einmal mehr wurde in Indien der Rotstift gezückt. Genauer gesagt in Mumbai, wo das Buch „Such a long Journey“ von Rohinton Mistry aus dem Lehrplan für den Bachelorkurs in Englisch an der Universität genommen wurde. Ein Politiker hatte freundlichst darum gebeten.
Warum?
Weil Passagen des Buches negativ über die Partei Shiv Sena berichteten.
Wer war der Politiker?
Aditya Thackeray, Engel Enkel von Bal Thackeray, dem Gründer der Partei Shiv Sena. Aditya zählt 20 Jänner und ist nun reif, in die Politik eingeführt zu werden. Er leitet den Jugendableger der Partei. Vor der Krönungs… äh, pardon… Initiierungszeremonie am Sonntag Abend bedurfte es nur noch etwas Werbung. Kontroversen sind wirkungsvoll und kostenlos. Man spart sich die Kröten für Anzeigen in Zeitung und Fernsehen, denn das übernehmen die Medien dann selbst.
Vor der Mistry-Episode kannte kaum jemand Aditya Thackeray. Jetzt kennen ihn alle. Mission: Erfolgreich.

Während aus einigen wenigen Kreisen der Intelligenzia ohnmächtiger, wütender Protest halblaut wird, fällt bei mir endlich der Groschen, und macht dabei ein viel, viel lauteres Geräusch als die Friede-sei-mit-dir-Aktionen der protestierenden Bürger. Jahrelang habe ich mich gefragt, warum Zensur und Selbstzensur in Indien niemanden juckt außer Leuten, die viel Zeit, viel Geld, und wenig zu tun haben? Warum, fragte ich mich, gehört die Beschneidung öffentlicher Kultur in Indien zum hingenommenen Alltag wie Lärm, Schmutz und stoische Kühe, die zu bemerken bereits ein halbes Schulterzucken zu viel Aufwand ist?

Warum?

Weil es geht. Weil es klappt. Weil Aditya, der vermutlich mehr Eierschalen hinter den Ohren hat als Roma, damit einen Sieg erringen konnte, ohne dass ihm jemand das Bein gestellt hätte. Und weil die Mehrheit der Bürger nichts dagegen unternimmt – entweder aus purer Erschöpfung ob ihrer täglichen dreistündigen Pendelreise zu und von der Arbeit, oder weil sie erkannt haben, dass man Idiotie nicht mit Argumenten, und Dreistigkeit nicht mit Intelligenz besiegen kann.

Kronprinz Aditya beschuldigte Autor Mistry, in seinem Buch nicht nur die Shiv Sena, sondern auch diverse andere indische Persönlichkeiten (die zu benennen er nicht als sinnvoll erachtete) verunglimpft zu haben. Darum gehört das Buch aus dem Lehrplan entfernt.
Vermutlich musste selbst Mistry die beanstandeten Passagen noch einmal lesen. Ist sein Werk doch bereits genau so alt wie Aditya. 😉

Eigentlich könnte man lachen. Aber wenn ein Bully die Brust rausreckt, dann weiß man, es folgen Schläge. Oft genug in der Geschichte Mumbais musste man sich tätliche Gewalt gefallen lassen, weil diversen Forderungen – so banal und lächerlich sie auch geklungen haben mögen – nicht Folge geleistet wurde. Bombay wurde gar ganz ermordet. Um sich solcherlei Ärger zu ersparen, entfernte der Vice Chancellor der Mumbai University das Buch binnen 24 Stunden vom Lehrplan.

Was haben Aktivisten/die Intelligenzia dazu zu sagen?

We are headed towards a fascist ethos, and society, out of fear probably, is tolerating it.

Die Gesellschaft allerdings toleriert das nicht aus Angst, sondern weil sie weiß, dass sich sowieso nichts ändert. Man ereifert sich ein bisschen, man spuckt Galle, man bringt den Blutdruck in Gefahr und leiert den Herzmuskel aus, und was hat man am Ende? Vielleicht gibt’s das Buch bald wieder im Lehrplan, vielleicht auch nicht. Egal wie, Aditya ist nun ein Markenname. Er hat gewonnen. Verlieren kann er ja auch nur, wenn er bestraft werden würde. So etwas ist in der Geschichte Mumbais aber noch nie vorgekommen. Verantwortliche bestrafen? Pfui Teufel.

Warum also sollte man sich sein Frühstück sauer aufstoßen lassen für eine Sache, die von vorn herein verloren ist? „Such A Long Journey“ erfreut sich inzwischen regen Interesses, obwohl die Sena angefragt hat, wie es denn mit einem ganzheitlichen Verbot ausschaut? Das wird noch ein paar Tage Schlagzeilen bringen, und dann bewegen wir uns zum nächsten Thema, bis in ein paar Wochen oder Monaten wieder jemand Publicity braucht.

Das Problem in Indien ist meiner bescheidenen, nicht durch Daten ratifizierten Meinung nach zweifaltig.
Zum Einen ist das Gesetz eine lasche Mimose. Es wird nicht durchgegriffen. Verfahren laufen gegen Plus Unendlich. Strafen fallen wegen mangelnder Beweislast aus. Zeugen werden aufgekauft („turn hostile“). Gefängnisstrafen werden zur Bewährung ausgesetzt oder gleich aufgehoben.
Zum Zweiten wird die Empfindsamkeit der Menschen oder Gruppierungen als unantastbar bewogen. Das mag ursprünglich mal ein Abwehrmechanismus in einer pluralistischen Gesellschaft gewesen sein, die man vor Zerklüftung bewahren wollte. Doch heute ist das mehr so ein Warmduscherkartell. Mag man was nicht, muss man nur laut genug schreien, dass man sich gekränkt fühlt, und schon wird wegrationalisiert, was die zarten Gefühle belastet haben mag. Bücher. Filme. Einrichtungen. Menschen (zum Beispiel Liebespaare in der Öffentlichkeit oder Frauen in der Disko). Alles geht.

Argumente sind vollkommen sinnlos. Du weißt doch, wie das Sprichwort geht: Lege dich nie mit einem Idiot an. Er zieht dich auf sein Niveau runter und schlägt dich dann mit Erfahrung.
Es ist ja süß, wie Mistry sich in einem eleganten Stück in der Zeitung heute gegen Aditya gewehrt hat. Aber vollkommen zwecklos. Aditya weiß ja, dass seine ganze Argumentationsführung kompletter Humbug war. Das tat ihrem Erfolg jedoch keinerlei Abbruch. Im Gegenteil. Je dämlicher die Debatte, desto mehr Quoten bringt sie. Das lohnt sich auch jedes Mal, denn es hagelt keine Strafen.

Als Raj Thackeray im Frühjahr 2008 durch seine aufwiegelnde Rhetorik gewaltsame Auseinandersetzungen in Mumbai und Umgebung verursachte, wurde er festgenommen (Martyrerbonus), verbrachte die Nacht im Gefängnis (doppelter Martyrerbonus) und wurde wieder entlassen. Das wars. Damals ging es um Nordinder, die als Migranten in Mumbai den natürlichen Mumbaikars die Arbeit wegnehmen. Einem Mann wurden damals vom aufgebrachten Mob beide Hände abgehackt. Bekam dieser Mann (oder die zahllos anderen Opfer) jemals Gerechtigkeit?

:))

Eben.

Und darum ist es vollkommen sinnlos, sich über die ganze Episode aufzuregen. Vielleicht hat die rasche Handlung des Vice Chancellors sogar dazu geführt, dass ein paar Studenten/Dozenten nicht verletzt wurden. Dass Inventar nicht kurz und klein geschlagen wurde. Wer weiß? Ich unterstütze weder die Zensur noch die Selbstzensur. Mitnichten. Aber in meinen Adern fließt Gelassenheit. Oder Gleichgültigkeit. Was auch immer es ist, es hält meinen Blutdruck innerhalb des gesunden Grenzwertes.

Was glaubt ihr denn, wen das nächste Woche alles noch interessiert?

Alternativende:

Wie sagte Salman Rushdie so schön?

Was ist Meinungsfreiheit? Ohne das Recht zu Beleidigen, existiert sie nicht.

Erklär das mal einem jungen, aufstrebenden Politiker, der sich mal fix eine Kontroverse basteln muss!

Das Ungewollte Mädchen

Als ich mich während meiner Rückreise nach Mumbai (Bombay) im Wartebereich meines Gates am Flughafen in Dubai niederließ, schlug mir jemand mit aller Wucht in die Magengrube: es war das Bewusstsein, in einer ziemlich frauenfreien Zone gelandet zu sein. Während das Terminal vor Röcken & Burqas nur so wimmelte, dominierten am Gate für den Anschlussflug nach Mumbai die Pant-Shirt-Kombis in einem Maße, dass einem gleich ganz anders wurde. Alles Männer. Überall.

Das alte, leidige Thema krabbelte in meinem Bewusstsein wieder nach oben: Mangelware zu sein. Aber keine Begehrte.

Zehn Millionen. Das ist die Zahl der „fehlenden“ Mädchen in Indien. Es gibt sie einfach nicht. Ein Teil von ihnen wurde nie geboren. Der andere Teil verschied kurz nach der Geburt auf seltsamen Wegen. Nun sind sie nicht mehr da.

Kein Schniedel kein Eintritt

Selektive Abtreibung

Fakt 1:
Ab der 16. Schwangerschaftswoche ist das Geschlecht des Babys mittels Ultraschall zu erkennen/zu erraten. Je nach Erfahrung des Arztes ist die Trefferquote im Erkennen eines kleinen ominösen Stupsels (oder dem Fehlen desselben) recht hoch, und schon wissen die Eltern, was sie erwarten.

Fakt 2:
Bis zur 20. Schwangerschaftswoche ist eine Abtreibung in Indien vollkommen legal. Es gibt seit Herbst 2008 sogar Überlegungen, dieses Limit auf 24. Wochen hochzuschrauben.

Fakt 1 und 2 kombiniert mit der traurigen Stellung des Mädchens in der indischen Gesellschaft macht Summa Summarum zehn Millionen fehlende XX-Chromosomen: Der weibliche Fötus wird abgetrieben.

Aus diesem Grund sind Geschlechtserkennungen während der Schwangerschaft in Indien seit 1994 verboten. Die meisten Kliniken informieren mittels eines Anschlages darüber, und einige Krankenhäuser fordern ihre schwangeren (manchmal sogar die nicht-schwangeren) Patientinnen dazu auf, ein Formular auszufüllen, in welchem sie hoch und heilig versprechen
a) nicht am Geschlecht des Babys interessiert zu sein und
b) den Arzt nicht danach zu fragen.

Dennoch gibt es fragwürdige Spitäler, die sich gegen einen guten Betrag Bakshish auf die andere Seite des Gesetzes begeben. Hin und wieder findet jemand Brunnen voller abgetriebener, halbfertiger Föten. Oder verdeckte Ermittler prangern Ärzte an. Meist allerdings läuft die Praxis einfach weiter, ohne dass man sich großartig um Vertuschungen bemüht. Immerhin werben einige Ärzte sogar dafür, „Heute lieber 5.000 Rupien auszugeben als später 50.000“. Mit den ersten 5.000 Rupien spielen sie auf den Preis einer Ultraschalluntersuchung an. Die 50.000 steht für die später anfallende Mitgift für solche, die nicht schlau genug waren, dem Mädchen rechtzeitig den Garaus zu machen. Die Botschaft ist klar und deutlich.

Die Statistik ebenso.

Gesellschaftliche Werte

Frauen besitzen in Indien einen niedrigeren Status als Männer. Das war (entgegen der Behauptung, es handle sich um einen von den muslimischen Einwanderern verbockten Missstand) schon immer so. Neben Göttinnen und verehrten Herrscherinnen existierten seit jeher Praktiken wie Kinderehen, Sati (Witwenverbrennung), Mitgift und die Tötung weiblicher Neugeborener. Seit Erfindung des Ultraschalls eben auch Abtreibung.

Heute trifft man im „modernen“, urbanen Indien oft Familien, die bezeugen, dass ihre Frauen gleichgestellt sind. Doch das Faszinierende an Diskriminierung ist, dass sie immer subtile Mittel und Wege findet, sich durchzusetzen. Während einer Schwangerschaft zum Beispiel findet zwischen dem dritten und vierten Monat das Punsavana-Ritual statt. Es ist das zweite von 16 wichtigen Ritualen im Leben eines Hindus, welche jeweilige Meilensteine feiern:

Das Punsavana-Ritual dient dazu, gute und göttliche Eigenschaften im Baby zu beschwören. Gleichzeitig allerdings drückt es die Hoffnung auf ein männliches Kind aus, denn nur ein Junge kann Stammhalter sein. Nur ein Junge ist auch ein Erbe, der die Familie fortführt. (Tatsächlich wurden die indischen Erbschaftsgesetze erst im 21. Jahrhundert dahingehend geändert, dass Frauen überhaupt in die Erbschaftsfolge mit einbezogen.)

Punsavana ist nur ein Beispiel dafür, wie der Junge über dem Mädchen steht. Ein anderes Beispiel wäre in etwa die Tatsache, dass Kinder grundsätlich als Beta angesprochen werden – gleich welches Geschlecht. Beta bedeutet Sohn. Beti bedeutet Tochter. Doch um Töchtern Respekt zu zollen, werden sie als Sohn angesprochen. Um das Mädchen gleichzustellen, tut man eben sprachlich so, als hätte sie doch einen Pimmel.

Angebot & Nachfrage

Manchmal wird darüber gesprochen, dass die verschwindenden Mädchen sich eines Tages rächen werden. All die abgesaugten kleinen Menschenkinder in den Mülltonnen im Hinterhof der Krankenhäuser werden ihre Genugtuung genießen, wenn den Männern die Bräute wegbleiben. Wenn Junggesellen keine Partnerin mehr finden können, wird sowohl die Mitgift der Vergangenheit angehören als auch die Tötung der weiblichen Babys.

Trotz eines gravierenden Mangels von zehn Millionen hat sich dieser Tag noch nicht eingestellt. Das Geschlechtsverhältnis folgt keiner marktwirtschaftlichen Theorie. Die Einstellung zu Mädchen, zu ihrer Tötung und Mitgift usw. wird sich nicht ändern, nur weil es weniger Mädchen gibt. Mädchen sind eine Bürde für die Familie, und so geht jeder davon aus, dass doch die anderen die Mädchen gebären und ernähren sollen. Selber hat man lieber einen Jungen.

Bundesstaaten wie Punjab und Haryana beispielsweise tragen ganz besonders schwer an der Last fehlender Mädchen, und es wird nicht besser. Laut Volkszählung 2001 gab es in Punjab 754 Mädchen pro 1.000 Jungen. Am 14. Dezember 2007 berichtete die Tageszeitung The Hindu, diese Zahl sei auf 527 Mädchen gefallen. (Diese Zahlen beruhen auf einer Studie von ActionAid in Zusammenarbeit mit dem kanadischen International Development Reserch Centre.)

In einigen Dörfern Haryanas gibt es bereits gar keine jungen Frauen oder Mädchen mehr. Sie sind wie vom Erdboden verschluckt. Männer kaufen oder mieten sich nun Frauen aus anderen, ärmeren Staaten Indiens und solchen, in denen es noch viele Mädchen gibt (zum Beispiel West Bengalen). Die Mädchen werden von ihren Eltern abgekauft und von Vermittlern in die betroffenen Gebiete gebracht. Dort „heiraten“ sie. Einige von ihnen haben Glück und heiraten wirklich. Andere bleiben nur bei ihrem Gönner, bis sie einen Sohn zur Welt gebracht haben. Dann werden sie entweder vermietet oder weiter verkauft. Und da Bräute schließlich Geld kosten (ca. 5.000 Rupien in Haryana), teilen sich Brüder auch mal eine.

Und so ist die Geburt eines Mädchens eben nicht ganz so schön wie die eines Jungens. Man freut sich, aber man hätte sich über einen strammen Burschen mehr gefreut. Der Junge wird die Familie nicht eines Tages verlassen (ausgestattet mit der Mitgift, die über Jahre hinweg gesammelt wird), sondern er wird im Haus bleiben und die Eltern unterstützen. Er wird sogar ein weiteres Paar helfender Hände mitbringen – seine Frau. Woher soll er sie unter diesen Umständen aber nehmen? Das ist erst mal nicht so wichtig. Hauptsache ein Junge.

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Weiterführende Artikel & Quellen

The Significance of the Lancet Study on Skewed Sex Ratio

Sex Ratio declines further in five States

No girls, please, we’re Indian

Why is the woman’s movement silent on abortion?

Special financial assistance for girl-child, would-be mothers in Assam

Challenges in implementing the ban on sex selection

India’s Missing Daughters

Sprachvielfalt Indiens (Update)

Am 28. August war Stichtag: Sämtliche Geschäfte, Büros und öffentliche Einrichtungen in Mumbai müssen ihre Namen zusätzlich zum häufig nur auf Englisch vorhandenen Logo auch auf Marathi zeigen. Der als rabiat bekannte Politiker Raj Thackeray hatte bereits im Vorfeld angekündigt, Geschäftsinhaber zu bestrafen, die der Anordnung nicht nachkommen wollten. Doch bevor es zu weiteren Ausschreitungen und Attacken auf Ladenbesitzer durch übereifrige MNS-Parteimitglieder kommen konnte, hatte glücklicherweise der Höchste Gerichtshof eingegriffen und Raj Thackeray gewarnt. Das war auch gut so, denn der militante junge Bursche hatte bereits im Februar diesen Jahres durch aufwiegelnde Rhetorik für gewalttätige Übergriffe in ganz Maharashtra gesorgt.

Dennoch besteht das Gesetz: Geschäfte müssen ihren Namen auf Marathi zeigen. Die Stadtverwaltung BMC hat seit dem Ablauf der Frist bereits 1725 Geschäfte gewarnt, die dieser Regelung noch nicht nachgekommen sind. Zu Ausschreitungen ist es glücklicherweise bisher nicht gekommen.

Vorher:
marathi metro
Nachher:
marathi metro 2
Ein Schuhgeschäft im Stadtteil Dadar (East) wechselt seinen Schriftzug aus.

Doch das Sprachproblem Indiens wird nicht gelöst, indem man einen Schriftzug auswechselt. Menschen wie Raj Thackeray, die sich permanent auf Wahlfang befinden und Themen wie die „vernachlässigten“ Lokalsprachen* auffassen, schüren Missgunst unter Indern, die sich leider häufiger anhand ihrer Sprache und Lokalität identifizieren. Wahr ist, dass sich Englisch im städtischen Milieu immer weiter in den Vordergrund drängt. Wahr ist auch, dass man ohne Englisch seltenst einen anständigen Arbeitsplatz bekommt. Es liegt also nicht im Interesse der Bevölkerung, Englisch zu verbannen. Im Gegenteil: es geht um den Erhalt der indischen Sprachen, doch es ist die Herangehensweise, die dem Beobachter Kopfschmerzen verursacht. Während es recht und billig ist, die Namen der Geschäfte in Lokalsprachen anzuzeigen, muss man sich schon fragen, was sonst noch für den Erhalt der indischen Sprachen getan wird, so dass junge Inder zur Abwechslung vielleicht auch mal zu einem Buch in ihrer Muttersprache greifen? Mein guter Freund S. zum Beispiel, gebürtiger Bengali, kaufte sich kürzlich das Buch Chowringhee, das nach über fünfzig Jahren ins Englische übersetzt worden ist. Aus dem Bengalischen. 8| „Sprachvielfalt Indiens (Update)“ weiterlesen

Die große indische Mittelklasse

Jeder spricht von ihr. Jeder schreibt über sie. Große Konzerne träumen von ihr. Aber wer ist die großartige indische Mittelklasse?

Sie hat bereits ein eigenes Kürzel, die Großartige Indische Mittelklasse – GIMC. Nur mit der Definition tut man sich bis heute schwer. Weit verbreitet ist die Zahl 300 Millionen, die nicht nur fantastisch und oft-zitiert ist, sondern neuen Forschungen zu Folge auch ausgemachter Blödsinn.
Der National Council of Applied Economic Research (NCAER) definiert die Mittelklasse nach Einkommen. Demnach fällt ein Haushalt, der jährlich zwischen 200.000 und 1.000.000 Rupien verdient, in die indische Mittelklasse. Heute sind das gerade einmal 5% der Bevölkerung, nämlich circa 50 Millionen Menschen. Der NCAER prognostiziert, dass diese Zahl bis 2025 um das Zehnfache ansteigen wird (auf 43% der Gesamtbevölkerung und 3/4 der städtischen Bevölkerung. Heute zählt nur ein Zehntel der Stadtbevölkerung zur Mittelklasse.)

Einen sehr leserlich zusammengefassten Abriss der neuen NCAER-Studie zum Thema findet man bei McKinsey. Sämtliche Statistiken stützen sich auf die Angaben von 300.000 indischen Haushalten. Die Studie kann außerdem direkt beim NCAER in Neu Delhi gekauft oder bestellt werden. (300Rupien bzw. 25$)

Wer ein Jahreseinkommen von über 1.000.000 Rupien scheffelt, gehört zu den Reichen Indiens: Momentan sind das 0,2% der Gesamtbevölkerung. In realen Dollars entsprechen 1Mio Rupien $21.890, aber im Blickwinkel der Purchasing Power Parity $117.650 Das sind also diejenigen, für die Louis Vuitton, Estée Lauder und Jimmy Choo gerade neue Geschäfte in Indien eröffnet haben.
(Diese Zahlen sind bereits einige Monate alt, sind also weder aktuell inflationsbereinigt noch an den aktuellen Kurs angepasst.)

Trotz der relativ „geringen“ Zahl von lediglich 50 Mio Indern in der Mittelklasse freuen sich internationale Firmen nach wie vor, dass sie hier einen so übermächtigen Absatzmarkt vorfinden; und wenn sie an die Mittelklasse denken, dann flimmert vor ihrem geistigen Auge in etwa dieses Bild:

indiens mittelklasse

Auch hier im Blog spreche ich oft von der Mittelklasse. Das tu ich aus reinem Protektionismus, denn von „dem Inder“ zu sprechen, der dies-und-das tut und so-und-so lebt ist beinahe fatal, weil es immer jemanden gibt, der jemanden kennt, auf den das aber überhaupt nicht zutrifft. adult smileys Also schreibe ich Mitteklasse, denn da niemand so genau weiß, wer das ist, kann auch niemand ningeln.

Dasselbe Prinzip trifft auf „die Medien“ zu, die fleißig über die GIMC schreiben, wobei sie sehr selten darauf eingehen, wen sie damit überhaupt meinen. So schreibt zum Beispiel Shashi Tharoor in einem Essay 2005 mit dem Titel „Wer ist die Mittelklasse?“, dass er keinen Schimmer hat, über wen da alle reden? (Links am Textende.)

Schreibt die Tageszeitung beispielsweise etwas über die im Einkaufszentrum wild gewordene Mittelklasse, die alles aufkauft, was nicht niet- und nagelfest ist, muss man sich fragen, wem diese Shopper die Rechnung schicken? Bei einem Jahreseinkommen von 200.000 Rupien bleibt nämlich am Ende nicht viel übrig, von dem man seine Swatch, Hush Puppies und Axe Deodorant bezahlen kann.

Auch schließen die internationalen Medien durch den Müslikonsum der famosen indischen Mittelklasse allzu häufig auf deren Modernität. Dass Brot im Ansehen gestiegen ist, hat weniger etwas damit zu tun, dass Inder plötzlich keine Parathas und Idlis mehr zum Frühstück essen, sondern dass Mutti arbeiten geht und darum keine Zeit für große Curryfeste im Morgengrauen hat. Und diese neue Arbeitsstelle macht die Familie noch lange nicht modern. Sie benötigen lediglich zwei Einkommen, um ihren Standard aufrechtzuerhalten und jenen zu erlangen, den sie anpeilen.

Laut NCAER teilt sich die indische Mittelklasse in zwei Gruppen auf: die Seekers und die Strivers.
Seekers verdienen jährlich zwischen 200.000 und 500.000 Rupien ($4.380 – $10.940 und in PPP: $23.530 – $58.820).
Strivers verdienen jährlich zwischen 500.000 und 1.000.000 Rupien ($10.940 – $21.890 und in PPP: $58.820 – $117.650).
Obwohl sie so unterschiedlich verdienen, wandeln sie in etwa in derselben Sphere in Hinblick auf die Medien, die sie konsumieren, und damit den Produkten/der Werbung, denen/der sie ausgesetzt sind.

Die Modernität, das Fortwärtsblicken der indischen Mittelklasse, von dem internationale Medien heute so gern schreiben, bezieht sich ausschließlich auf deren Bankkonto. Da stimmt mir nicht nur Shashi Tharoor zu, sondern auch Rowena Robinson. Kulturell ist die indische Mittelklasse so traditionell wie eh und je. Sie glaubt an das Kastensystem und wählt die Partner für ihre Kinder gemäß deren Kastenzugehörigkeit aus. Modern daran ist nur, dass heutige Hochzeitsanzeigen deutlich nach Ärzten, Anwälten, Informatikern suchen und das Wunschgehalt gleich dazu schreiben. Irgendwer muss das neue Handy mit Farbdisplay schließlich bezahlen.

Im Gegenteil: Einige der alten sozialen Übel, deren schneller Abgang eigentlich eine normale Schlussfolgerung des „Fortschritts“ sein sollte, erfahren geradezu eine Renaissance. Mitgiftmorde beispielsweise. Deren Zahl nimmt stetig zu – vor allen Dingen in den Städten, wo Mittelklassefamilien das Potenzial entdeckt haben, das in einer Heirat steckt.

Auch die Religiösität nimmt kaum ab. Hochzeiten werden immer noch auf die alte, vertraute Art geschlossen, auch wenn Rituale mit weniger Sorgfalt befolgt werden. Sie bedeuten im neuen Zeitalter einfach nicht mehr dasselbe, doch es wäre abgeschmackt, sie deswegen gleich ganz wegfallen zu lassen. Was immer schon so war, wird auch so bleiben, nur verschwendet man weitaus weniger Energie. Die Yatra zum Schrein der Göttin Vaishno Devi wird erleichtert durch teure Palkis und Hubschrauber, die einen direkt vor dem Schrein absetzen, da
mit man sich die 14km Fußmarsch sparen kann. Oder noch besser: online spenden. Das geht auch. Und anstatt sich Stunden lang im Tempel in Tirumala anzustellen, steckt man den Richtigen Leuten ein paar Rupien zu, damit man schneller dran ist. Nicht in diesen Tempel zu gehen, würde ihnen hingegen nicht einfallen. „Die große indische Mittelklasse“ weiterlesen

Ambedkar – Kämpfer für die Rechte der Unberührbaren

Morgen, am 14.04.2008, wäre der Vater der indischen Verfassung und Kämpfer für die Rechte der Unberührbaren (Dalits), Dr. Bhimrao Ramji Ambedkar, 117 Jahre alt geworden. Anlässlich seines Geburtstages hat das People’s Vigilance Committee on Human Rights (PVCHR) aus Varanasi das Ambedkar Online Memorial ins Netz gestellt. Auf dieser Seite soll auf die Lebensbedingungen der Dalits heute aufmerksam gemacht werden. Teil des Online Memorial ist eine Sammlung von Fotos, die Kinder aus einem Dalit-Dorf in Varanasi geschossen haben.

Das Ambedkar Online Memorial: http://ambedkaronline.pvchr.org/

Ambedkars Andenkensstätte befindet sich übrigens in Mahim (Mumbai). Um zu seinem Schrein zu gelangen, durchquert man dieses Tor (siehe Foto).

ambedkar memorial

Unten ein YouTube Video mit sehr ernüchternden Einschüben zum Leben der sog. Bangis (das sind diejenigen in der indischen Kastenhierarchie, die Exkremente wegräumen und über die ich bereits geschrieben habe):

Dhobi Ghat in Mahalaxmi, Mumbai (Bombay)

Das Dhobi Ghat neben dem Bahnhof in Mahalaxmi ist eine der berühmtesten 5-Minuten-Seheneswürdigkeiten in Mumbai. Touristen kommen, schauen von der Brücke nach unten, klicken ein Foto, stellen sich die eine oder andere hygienisch motivierte Frage und gehen dann wieder.

Dhobi002

Wir nutzten einen herrlichen Samstag Nachmittag und begaben uns in die Höhle des Weißen Riesen.
Die gemauerten Waschbecken werden von Wäschern (Dhobis) für 300 Rupien monatlich gemietet, damit sie ihrer (geerbten) Tätigkeit nachgehen können. 10.000 Arbeiter gehen in den sieben zusammenhängenden Sektoren des Dhobi Ghats in Mahalaxmi täglich ihrer Arbeit nach und nehmen 10lakh Kleidungsstücke (1 Million) in die Mangel.
Pro Kleidungskombination (jeweils 2 Stk, bspw. Oberhemd und Hose) werden durchschnittlich 10 bis 15 Rupien berechnet.

Der Waschprozess ist in 7 Schritte unterteilt:
1. Abholung der Kleidung vom Auftragsgeber. Das können Privatpersonen sein oder auch Hotels wie das Taj.
2. Die Kleidungsstücke werden mit Anhängern markiert, um sie später identifizieren zu können.
3. Für mehrere Stunden weicht man sie ein.
4. Waschen. Das berühmte „Ausklopfen“ auf einen im Waschbecken eingemauerten Stein mit schiefer Ebene.
5. Spülen.
6. Trocknen.
7. Ausliefern.
Sieben Schritte täglich für eine Million Kleidungsstücke.
Während des Monsuns fällt das Trocknen logischerweise weg. Die Kleidung wird im nassen Zustand ausgeliefert und der Kunde muss sich selbst drum kümmern, wie er die Kleidung schranktrocken bekommt.

Für Aufträge vom chor bazaar (Diebesmarkt) gibt es eine Sonderrate von 3 Rupien pro Sari. Die Herkunft der vom chor bazaar in Auftrag gegebenen Kleidungsstücke ist zweifelhaft, doch einen Waschgang später werden sie frisch verpackt und verkauft. Wir schauen zu, wie Männer in trockenen Waschbecken sitzen und aus dem Kauderwelsch eines bunten Stoffberges Saris ziehen, diese auf Materialfehler, Löcher und Flecken untersuchen, zusammenbinden und fürs Waschen startklar machen. Die Saris werden nicht als offene Stoffbahn gewaschen, sondern wie eine Zieharmonika zusammengefaltet, an einem Ende zusammengebunden und so bearbeitet.

Durch das gesamte Ghat schlängeln sich dünne Wasserrohre. Einige 2cm dick, andere stolze 5cm im Durchmesser. Es handelt sich um legale und illegale Wasserleitungen. Von der Stadtverwaltung (BMC) erhält das Dhobi Ghat nämlich nur eine Stunde pro Tag Wasser. Die restlichen 23 Stunden fließt Wasser durch die illegalen Leitungen und beschert einer vermutlich beachtlichen Menge Beamten eine beachtliche Summe Schummelgelder.

Hier und da riecht es nach Bleichmittel. Wir beobachten ein privates Unternehmen, dessen „Fabrikhalle“ im Dhobi Ghat angesiedelt ist, dabei, wie sie weiße Hemden von Flecken befreien, indem sie großzügig mit Bleichmittel arbeiten. Die Hemden mit hübschen schwarzen Borten aus Samt wurden in Indien genäht. Nach einer Runde im Schwimmbecken erhalten sie neue Etiketten und stammen dann beispielsweise aus der EU. Die Mitarbeiter des „Unternehmens“ führen uns stolz vor, wie sie einen bräunlichen Fleck von einem Hemd bleichen und es dann zum Einweichen in ein naheliegendes Waschbecken werfen. Auf dem Wellblechdach über ihrem Geschäft hängen unendliche Leinen voller weißer Oberhemden mit hübschen schwarzen Samtborten und flattern im Wind. Fertig für den Export.

chor bazaar
Mit diesen (lizensierten) Karren und auf diese Weise in Bündel gewickelt werden die Kleidungsstücke abgeholt und wieder ausgeliefert. (Hier im Chor Bazaar)

Auch Krankenhäuser lassen ihre Laken im Dhobi Ghat waschen. Um für Hygiene zu sorgen, werden diese Laken allerdings zwei Stunden lang gekocht. Wir arbeiten uns unter die Wellblechdächer vor und schauen uns die enormen Kessel an, in denen Handtücher, Laken, etc. schwimmen, während Holz in den Ofen geladen wird, um das Feuer zu halten.

Im Ghat wird nicht nur gearbeitet sondern auch gelebt. Um die Waschbecken herum stehen kleine Blechhütten mit zwei Etagen und wenig Licht. Bis zu 20 Menschen teilen sich so eine Hütte und zahlen dafür Miete, wenn es nicht ihre eigene ist. In einem Nebenraum, der fürs Kochen und Essen gedacht ist, stehen lauter Blechdosen herum. Darin bewahren die Dhobis ihr Hab und Gut auf.
Wenn nicht gewaschen wird, dann wird gegessen und geschlafen. Auf Bänken, in leeren Waschbecken, neben den heißen Kesseln und überall da, wo gerade Platz ist, sieht man Männer schlafen. Andere duschen, waschen sich die Haare in und neben den Waschbecken. Ein Chaiwala (Teeverkäufer) kommt durchs Ghat gelaufen und teilt Teegläser an die Wäscher aus, die sofort eine Pause einlegen – die Füße noch in der Lauge, ihre selbstgebastelte Plastikschürze noch um die Hüfte, der Schweiß noch auf der Stirn. Unter einem Wellblechdach sehe ich zwei rote Zahnbürsten, die dort zur Aufbewahrung hingesteckt worden sind. Überall Zeichen eines Wohnraumes.

Dhobi001

Das Ghat ist den Umständen entsprechend sauber. Hier und da liegen Reis und Dal in der Nähe eines Abflusses, und im Mitteltrog zwischen den Waschbecken steht das Wasser, so dass sich ein suspekter, dunkelgrüner Belag darauf gebildet hat. Aber außer dem Geruch von Bleichmittel rieche ich nichts.

Unsere Gegenwart im Ghat erweckt wenig Interesse. Man geht stoisch seiner Arbeit nach. 120 Rupien werden dafür pro Tag ausgezahlt. Unentwegt kommen frische Ballen voller Kleidungsstücke an. Wird Wäsche gewaschen. Aufgehangen. Gebügelt. Gefaltet. Ausgeliefert.
Hier und da stehen Schleudermaschinen herum. Es sind top-loader Trommeln, in die die nasse Kleidung vorsichtig und mit Fingerspitzengefühl eingestapelt wird, bevor sich die Trommel in Gang setzt. Wir beobachten einen Mann dabei, wie er kleinere Kleidungsstücke in ein großes Laken wickelt und diese Stoffwurst in die Trommel quetscht. Er schlägt mit der Flachen Hand von oben auf die Wurst, drückt dann, quetscht hier und da, schlägt wieder darauf, und hat am Ende eine enorme Kleiderschlange in die Trommel gewürgt, die zuvor nicht den Anschein erweckt hatte, als ob sie jemals dahineinpassen würde.

Während wir uns durch das Ghat führen lassen (100Rupien pro Ticket), werden ohne Unterlass Touristen an das Geländer der Treppen gespült und schauen hinunter auf die Wäscher. Von oben sah alles schmutziger aus, als es im Endeffekt war. Trotz der Einschränkungen wie der inadequaten Unterbringung der Wäscher und ihrer Familien, der schlechten Wasserversorgung et al, läuft das Geschäft im Dhobi Ghat unaufhaltsam weiter.

Ein Fotoessay mit weiteren Fotos vor Ort im Ghat gibt es in Kürze.

Wohin mit Mumbais Slums?

Beachtliche 55% der Bevölkerung Mumbais wohnen in Slums (Quelle: SRA – Slum Rehabilitation Authority). Beim Landeanflug auf Mumbai sieht man diesen graubraunen Knüpfteppich aus schlottrigen Backsteinbaracken und jeder Menge Wellblech. Schön sieht das nicht aus. :no: Selbst beim Blick aus dem 20. oder 30. oder 40. Stock des Millionen-Euro-Apartments in der Innenstadt kann man den Slums nicht entkommen. Schön sieht das nicht aus. :no:
Wäre es nicht herrlich, wenn man diese ähstetischen Patzer aufräumen könnte?

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1995 wurde die SRA ins Leben gerufen, um bei der Planung und Koordinierung der Slumrehabilitationsprogramme (im Kreis Mumbai) alle Fäden in der Hand zu halten. Die SRA ist verantwortlich für die Analyse der existierenden Slums, für die Formulierung neuer Programme, für die Ausführung derselben und dafür, dass alle Stolpersteine aus dem Weg geräumt werden.

Grob skizziert sieht das Rehabilitationsprogramm in etwa so aus: Alle bis 1995 bestehenden Slums fallen in das Programm und können sich in dessen Rahmen bewerben (weitere Kriterien bestehen, s.u.). Dazu müssen mindestens 70% der Bewohner eine „Co-operative Housing Society“ gründen, was prinzipiell heißt, 70% der Bewohner eines Slumabschnittes müssen dem Programm zustimmen. Der Slum wird abgerissen, während die Bewohner in einem Transitcamp wohnen. Das Transitcamp wird vom Bauunternehmen spendiert. Nebenkosen wie Strom und Wasser müssen von den Bewohnern getragen werden.
Das gewonnene Land wird zweigeteilt: 50% fallen an die Slumbewohner. Das (private) Bauunternehmen konstruiert darauf kostenlose Wohnungen für die Slumbewohner. Jede Familie qualifiziert sich für eine ca. 20m² große Wohnung unabhängig davon, wie groß ihre Slumwohnung war. Die Siedlung muss ebenfalls ein Büro für die Hausgemeinschaft, eine Einrichtung für Kinderbetreuung und ein Wohlfahrtszentrum aufweisen, für dessen Konstruktion die Baufirma verantwortlich ist. Die restlichen 50% des aus dem Abriss des Slums gewonnenen Landes fällt an das Bauunternehmen, das darauf Wohnungen bauen darf, die danach auf dem freien Markt zu Profiten verkauft werden können. Zahl und Größe dieser Wohnungen dürfen Zahl und Größe der kostenlosen Wohnungen nicht übersteigen.

Die kostenlosen Wohnungen für die Slumbewohner werden also nicht vom Staat finanziert, sondern indirekt durch das Bauunternehmen, das die Kosten für die Gratiswohnungen durch den Verkauf anderer Wohnungseinheiten auf demselben Grundstück ausbügeln kann.

Klingt theoretisch ganz gut.

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Faszinierend, wie aus dem Schotter passable Wohnungen herauswachsen?

Praktisch will natürlich kaum jemand neben Slumbewohnern, wenn auch ehemaligen, wohnen. Oder auf demselben Grundstück. Vielleicht noch Wand an Wand. U-( Der Verkauf von Wohnungen auf ehemaligem Slumgrundstück ist für die Bauunternehmen darum weniger lukrativ als erwünscht. Es ist einer der Gründe dafür, weswegen das Rehabilitationsprogramm weit weniger erfolgreich ist als ursprünglich geplant. Zur Zeit wird an 900 Einheiten gebaut. Geplant und zur Genehmigung vorgelegte Einheiten: weitere 1100.

Und dann gibt es da noch die bösen Zungen. Besonders Mittelklassefamilien finden es nämlich überhaupt nicht so brillant, dass die Slumbewohner von nebenan plötzlich kostenlose Wohnungen in extrem teuren Gegenden (z.B. Südmumbai) erhalten, während sie selbst in die Röhre gucken. Immerhin sind Grundstückspreise in Mumbai auf ein derart hohes Niveau geklettert, dass eine Eigentumswohnung selbst in Vororten der Stadt weit außerhalb der Reichweite der meisten Mittelklassefamilien liegt. Da kommt böses Blut auf. Immerhin, so das Argument, kommen die Slumfamilien aus ganz Indien nach Mumbai, bauen ihre illegalen Quartiere auf und werden dafür mit einer kostenlosen Wohnung „belohnt“, so fern ihre Namen vor dem 1. Januar 1995 in den Wählerlisten auftauchten.

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Asiens zweitgrößter Slum, Dharavi, beherbergt derzeit circa 1 Million Menschen. Um diesen großen Stinkefleck, der immerhin 857 Morgen (oder 2,1km²) Premiumgrundbesitz blockiert, aus Mumbais Herz zu entfernen, wurde ein Entwicklungsprogramm komponiert, dessen Ausführung $2,1 Milliarden kosten soll – finanziert von privaten Unternehmen. (Quelle: BBC) 70.000 Apartments (in je 7stöckigen Wohnblöcken) zu je 20m² sollen circa 57.000 von Dharavis Familien beherbergen. Zusätzlich fallen natürlich wieder große Kuchenstücke für die Baufirmen ab. Das Prinzip folgt dem Programm der SRA.

Nicht-verschmutzende Industrien sollen erhalten bzw. übernommen werden. Dharavi beherbergt 15.000 Fabriken, die erstaunliches leisten. Jährlich 650 Millionan US$ Umsatz beispielsweise. Und gelegentlich eine kleine Aufstiegsgeschichte, wie der Erfolg von Mr. Kadam, der in einem Bericht des Economist erwähnt wird. (siehe Linkliste)

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Die grüne Linie markiert Dharavi. Der Abstand zwischen den roten Punkten beträgt 1,75km. Dharavi liegt zwischen der Western Line und Central Line – den beiden Local Train Bahnstrecken, und wird von sechs Haltestellen eingekapselt.

Dharavis derzeitige Bewohner freuen sich nicht. Sie sehen ihre Existenz bedroht, denn der neue Entwicklungsplan folgt nicht denselben Linien wie die bisherigen Strukturen, die den Bedürfnissen (und täglichen Arbeiten) der Slumbewohner angepasst sind. Die Wohnungsgröße wird bemängelt. Das Layout wird bemängelt. Der Wegfall von „verschmutzenden“ Industrien wird bemängelt. Und der Zerfall von verschachtelten sozialen Strukturen wird ebenso bemängelt.

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Zusätzlich werden sämtliche Programme der SRA von Korruption (bzw. dem Verdacht der Korruption) verfolgt. Wie so ziemlich alle Sozialprogramme Indiens. Die großen Wahlversprechen der Shiv Sena, 500.000 Rehabilitationswohnungen zu bauen (später haben sie das auf 50.000 runterkorrigiert) wurden selbstverständlich nicht erfüllt. Wo die Programme der SRA landen werden, zu welchem Kuddelmuddel sie führen werden, etc. wird sich zeigen müssen.
Ich stehe der Idee skeptisch gegenüber. Pauschal kostenlose Wohnungen zu vergeben, halte ich nicht für den richtigen Weg, auch wenn er von vielen Seiten als der einzige Weg gesehen wird, an die große Grundstückstorte zu gelangen, die unter Dharavi – einem ehemaligen Mangrovenwald übrigens – verborgen liegt.

Externe Links:
Mega-Slums der Welt
Eine Karte der 30 größten Slums der Welt nach Mike Davis.

Ein florierender Slum
Artikel von The Economist (19. Dezember 2007)

Artikel von National Geographic
Englisch
Deutsch

„Dharavi“ – Film mit Om Puri und Shabana Azmi über einen in Dharavi lebenden Taxifahrer (1992)
Filmkritik

Schattenstadt“ – englischer Blogbeitrag bei Trivial Matters mit jeder Menge Fotos (März 2006)

„Finding a better future for Dharavi“
Alternative Ideen für Dharavi, Monash University

„Wo das Elend kreativ verwaltet wird“
Deutscher Artikel im Südwind Magazin

Reservierungspolitik für niedere Kasten in Indien

Aus inzwischen leicht verblichenem Anlass, nämlich Dr. Ambedkars Gedenktag am 6. Dezember, verlinke ich an dieser Stelle eine Abhandlung zum Thema Reservierungen für benachteiligte Kasten in Indien (ST/SC = Scheduled Tribe bzw. Caste und bezieht sich auf sozial, ökonomisch und anderweitig benachteiligte gesellschaftliche Gruppen). Der Text ist in Englisch verfasst.

Wir erinnern uns an Diskussionen zum Thema in diesem Blog hier (Aufstand der Gujjars/Kastenkrieg)
und hier (Dalitunruhen in Maharashtra, 2006)
und hier (Durchsetzung der Empfehlungen der Mandal-Kommission)
und hier (Reservierungspolitik Indiens)
und hier in Form einer wunderbaren Leserdiskussion.

Ihr seht schon, ich kann das Thema einfach nicht ruhen lassen. Besonders nicht, da ich gerade im Nachrichtenblog über die Dalits berichtet habe, die ohne Schutzkleidung durch die Kanalisation krabbeln. Vielleicht frischen wir die Diskussion wieder auf? Faktische Hintergründe liefert Anu in ihrer Abhandlung (s.o.).

quo vadis

Abschied vom Kiranawala

Die Zeiten ändern sich. Auch in Indien. Auch im Einzelhandel. Auch in den Köpfen der Verbraucher.
Derzeit peitscht eine Welle ungebremsten „Fortschritts“ über den Sukontinent, und noch ist man sich nicht sicher, ob man darüber beglückt sein sollte, oder eher nicht. In den letzten Jahren hat sich die Güterwelt Indiens verändert: zunächst öffneten Geschäfte wie Big Bazaar und – in Bangalore – Foodworld ihre Pforten und führten den erstaunten indischen Konsumenten durch eine Welt ordentlich gefüllter Regale, aus denen er sich selbst bedienen konnte – ein Konzept also, das bis dato noch nicht dagewesen war. Zuvor regierten die Tante-Emma-Läden, in diesem Blog als Onkel-Ekram-Läden und in Indien als Kiranawalas bekannt.

Diese Kiranawalas quetschen ihre Ware in penibler Stapelarbeit bis unter die Decke ihrer kleinen Geschäfte. Sie operieren in den Wohngebieten und kennen die meisten ihrer Kunden persönlich, weswegen sie oft nicht nur wissen, was ein bestimmter Kunde bevorzugt, sondern sie gewähren auch Kredit. Ein großes, dickes Büchlein listet einen ganzen Monat lang die kleinen Popelausgaben auf, und man kann in regelmäßigen Abständen bezahlen. Das ist bequem. Hinzu kommt noch kostenloser Lieferservice. Die meisten Kiranawalas beschäftigen boys (was nicht heißt, dass sie zwangsläufig minderjährig sind, sondern die heißen halt so), die nach einem kurzen, knackigen Telefonanruf die gewünschte Ware liefern.

Das ist der gute, alte Kiranawala.

Onkel Ekram laden

Doch der bietet selbstverständlich keine Oliven an. Keine Pasta. Keine dreizehn Sorten Weizen, Reis und Hülsenfrüchte. Er ist meist auf indische Produkte spezialisiert, gibt aber den MRP (den aufgedruckten Maximum Retail Price) oft ein oder zwei Rupien Rabatt.

Im Juli 2001 berichteten mir die Studenten des Indian Institute of Management voller Stolz, Big Bazaar sei der bis dato größte Supermarkt, in dem man „alles“ bekommt. Wir fuhren nach Koramangala, wo sich der bis dahin einzige Big Bazaar in Bangalore befand. Selbstverständlich war ich völlig unbeeindruckt, aber für Indien hatte die Revolution begonnen. Alles unter einem Dach! Unglaublich. Anfang 2003 begann Big Bazaar in Koramangala, seine Produktpalette auf Lebensmittel auszuweiten. Das lief unter dem Namen Food Bazaar. Zunächst sah alles noch eher wie der Lagerverkauf einer alten Fabrik aus: seltsame, billig aussehende, metallene Regale und alles ein bisschen leer. Das war vor dem großen Sturm importierter Produkte. Damals war der Importladen für Dove Bodylotion, Nutella & Co verantwortlich. Es gab lediglich zwei Kassen, an denen es schleppend voran ging. Doch das Konzept schien sich bewährt zu haben, denn Food Bazaar wuchs und wuchs. Heute gibt es in ganz Indien 56 Big Bazaars.

Gleichzeitig wuchsen andere Ketten wie Foodworld, FabMall, Spencer’s, Subhiksha, Reliance Retail etc pp. Ständig kommen neue Supermärkte dazu. Der indische Konsument wird immer experimentierfreudiger. Ein Trend, der meines Erachtens durch die nach Indien zurückkehrenden IT-Experten geführt wird, die in ein paar Jahren in Europa bzw. den US neue Produkte gerade aufgezwungen bekamen und nach ihrer Rückkehr mit vollen Taschen in Indien feststellen, dass sich ihr Lebensstil geändert hat und dass sie den jetzt gern fortführen würden – in Indien. Allein das Angebot an Cornflakes ist unvorstellbar gewachsen. 2001 gab es Kellogg’s Cornflakes mit und ohne Honig. Jetzt gibts alle erdenklichen Sorten, und die Inder kaufen sogar fleißig Produkte für bis zu 6 Euro. Kürzlich hat Dr. Oetker den großen Schritt über den Hindukush gewagt. Muesli und dergleichen sind heute für zwischen 4 bis 6 Euro pro Packung erhältlich, und es wird gekauft.
Das heißt auch, dass der „Importladen“ schon bald eine Idee der Vergangenheit sein wird. Firmen wie Unilever (in Indien Hindustan Unilever), Nestlé, Masterfoods und wie sie nicht alle heißen, führen immer mehr Produkte nach Indien ein. Sie kommen auf organisierten Wegen nach Indien – nicht mehr in kleinen Mengen zu großen Preisen in die Importläden. Ich brauche in Mumbai beispielsweise keinen solchen mehr aufsuchen, weil der Supermarkt „Hypercity“ (ein exaktes Replika europäischer Supermärkte) alles bietet, was ich brauche. Import/Export, eins der beliebtesten Geschäfte in Indien, wird vielleicht in naher Zukunft kaum mehr rentabel sein.

Neue Produkte werden gern in Südindien eingeführt, in Städten wie Bangalore, Hyderabad und Mumbai, wo der Markt offener, der Konsument mehr gewillt ist, mal was neues auszuprobieren. Die Produktpalette in Delhi/NCR ist vergleichsweise gering. Das bezieht sich nicht nur auf ausländische Produkte, sondern auch auf indische. Wir waren geradezu schockiert zu sehen, was der indische Markt alles zu bieten hat: Dinge, die es in der Hauptstadt überhaupt nicht gibt.

In Südindien ist es auch, wo sich der Supermarkt auf dem Siegeszug befindet. Hier sind einem kürzlichen Report in der Hindustan Times zu Folge immer mehr Inder gewillt, zuzugeben, dass ein Supermarkt verdammt praktisch ist.

Selbstverständlich macht sich unter den Kiranawalas Protektionismus breit. Man möchte, dass der indische Staat die Onkel-Ekram-Läden schützt. Was soll aus diesen Geschäften werden? Vermutlich dasselbe wie aus dem Einzelhandel in Deutschland. Bedauerlich, aber unvermeidlich, wie auch Abhay Pethe, Economist, zugibt. Was will man tun? Nun, da gibt es verschiedene Möglichkeiten: in Navi Mumbai beispielsweise kommt es immer öfter zu Randalen. Erst gestern (22. Nov) wurde eine Filiale der Reliance Fresh Kette angegriffen. Organisiert wurde das Ganze durch die
Bhartiya Janshakti Party (BJP), deren Parteiführer Uma Bharti folgenden Schlachtruf in die aufgewühlte Menge schleuderte: „Es wird kein Flehen mehr geben, nur noch bitteren Kampf.“ Wie sieht so ein bitterer Kampf aus? Steine gegen die Fenster. Ein bisschen kaputt machen. Der übliche Mob eben.

Ähnlich geht es derzeit im nordindischen Bundesstaat Uttar Pradesh zu, wo Chief Minister Mayawati die Reliance Kette bereits herausgeekelt hat. Die Bauern haben ein Problem mit Reliance, weil sie befürchten, eine organisierte Kette könnte ihre Verkaufspreise drücken und ihnen auf lange Sicht schaden, und Mayawati bemerkte, dass Bauern eine viel größere Votebank formen als Reliance. Sämtliche angemietete Ladenflächen wurden bereits abgetreten. Sämtliche Angestellten in U.P. wurden bereits entlassen. Reliance rollt den Teppich ein. Hier ist man nicht willkommen.

Zeitungsberichten zu Folge sind die Bedenken der Farmer unberechtigt, dass große Ketten die Marktpreise für Gemüse und Obst drücken könnten, weil sie größere Volumen abnehmen. Einige der Supermärkte sind gar dazu übergegangen, die Mittelmänner auszuschalten, indem sie direkt mit den Bauern in Kontakt treten, was die Bauern freut (höhere Preise, garantierte Abnahme der Produkte, keine Transportkosten/-Probleme und darum kein Verlust durch verdorbene Ware), aber die Mittelmänner haben natürlich nun einen dicken Hals.
Andererseits betreiben die Supermarktketten in Navi Mumbai falsches Spiel, indem sie nicht umgesetzte Ware zurück auf den Großmarkt werfen und dort zu Niedrigpreisen wieder verkaufen. Obst und Gemüse also, dass nicht rechtzeitig den Weg in den Einkaufskorb des Konsumenten gefunden hat, wird, bevor es vollkommen verdirbt, wieder auf den Großmarkt gekarrt und konkurriert dort mit (teurerer) Frischware.
Es gilt also anzumerken, dass die Supermärkte teilweise durchaus dafür verantwortlich gemacht werden können, dass Farmer/Mittelmänner etc. die Faxen dicke haben. Ein zweiseitiges Schwert, da nur die Supermarktketten wissen, wie lange sie fair spielen wollen.

Gleichzeitig sehen die Kiranawalas den Rupienstrom versickern. Da ist er wieder, der Protektionismus. Im Mumbai-Stadtteil Ghatkopar haben im letzten Jahr bspw. 28 Onkel-Ekram-Laeden geschlossen. Gleichzeitig erzaehlt uns eine Studie, dass 98% des Lebensmittelumsatzes in Indien in traditionellen Geschaeften (sprich: Kiranawalas) zu verzeichnen ist, wovon es 11 Millionen im Land geben soll. Der Kiranawala kann nicht sicher sein, welches Schicksal ihn ereilt. Er sehnt sich nach seiner kleinen Nische, nach seinem warmen Sitz am Ofen, wo alles so schön gemütlich war. Die Schlussfolgerung muss sein, dass die Supermärkte weg müssen. Weg. Alle. Raus. Dann wird alles wieder wie vorher.

Nur wenige Kiranawalas machen sich tatsächlich die Mühe, ihre Produktpalette umzustellen. Oder neuen Service anzubieten. Oder sich mit anderen Kiranawalas zusammenzuschließen, um größere Mengen einzukaufen und dadurch größere Rabatte erlangen und als Appetitshäppchen an den Konsumenten weiterreichen zu können.
Ich erinnere mich sehr gern an unseren Onkel-Ekram-Laden in Bangalore, direkt vor dem Eingang unserer Gated Community. Dort waren wir immer gut aufgehoben. Wir ließen anschreiben, was furchtbar praktisch war. Wir ließen uns die Sachen liefern, was der Faulheit gut tut. South City war ein Sonderfall: es steckte voller IT-Experten, die die Früchte der Welt gekostet hatten und weiterhin auf deren Lieferung befanden. Es steckte voller Ein- oder Zweikindfamilien oder Paaren mit doppeltem Einkommen. Es steckte voller Mieter/Wohnungseigentümer mit dicken Taschen. Die Inhaber des Onkel-Ekram-Ladens (findige, sehr freundliche Muslime aus Kerala), stellten sofort ihre gesamte Produktpalette um. Nun gab es dort Fruchtsäfte, Marmelade, Klopapier, importierte Windeln, abgepacktes Hühnchen, Oliven, Pastasoßen, gefrorene Fertigprodukte, Pasta, Datteln und lauter Krimskrams, der erstens teuer ist und zweitens genau den Geschmack der South-City-Gemeinschaft traf. Ich kaufte über 50% in diesem kleinen Geschäft ein, und ich denke, FoodChoice (so nannte sich der Laden) macht auch heute noch ordentliches Geschäft. Big Bazaar hin oder her, Geschäfte wie FoodChoice werden auf dem Rücken dieser Welle reiten und sich nicht unterkriegen lassen, weil sie innovativ sind, nicht nur meckern sondern „machen“.

Schade, dass auch weiterhin Kiranawalas und Farmer dem Schlachtruf von Uma Bharti & Konsorten folgen werden, anstatt Geschäftsideen zu entwickeln, die in der neuen Umwelt Indiens funktionieren. Erst kürzlich wurde beispielsweise über findige Bauern im Bundesstaat Punjab (Westindien) berichtet, die – anstatt die nächste Reliance Fresh Filiale abzufackeln – diese stattdessen mit ihren eigenen Waffen zu schlagen gedachten. Die Bauern eines Dorfes schlossen sich zusammen: das bietet erstens eine breite Produktpalette, zweitens Unterstützung und drittens größeren finanziellen Spielraum. Sie mieteten ein Geschäft, füllten es mit Regalen, die sie wiederum mit ihrer frischen Ware (ohne jedweden Zwischenhändler) verkaufen. Das Geschäft brummt.

Auf lange Sicht werden die Supermärkte gewinnen, das steht außer Frage. Aber ich hoffe, dass unter den Kiranawalas und Farmern der Geschäftssinn letztendlich die Oberhand über das bockige Kind gewinnt, so dass es mehr FoodChoice und mehr findige Bauern mit ihren eigenen Geschäften geben wird.