Die Zeiten ändern sich. Auch in Indien. Auch im Einzelhandel. Auch in den Köpfen der Verbraucher.
Derzeit peitscht eine Welle ungebremsten „Fortschritts“ über den Sukontinent, und noch ist man sich nicht sicher, ob man darüber beglückt sein sollte, oder eher nicht. In den letzten Jahren hat sich die Güterwelt Indiens verändert: zunächst öffneten Geschäfte wie Big Bazaar und – in Bangalore – Foodworld ihre Pforten und führten den erstaunten indischen Konsumenten durch eine Welt ordentlich gefüllter Regale, aus denen er sich selbst bedienen konnte – ein Konzept also, das bis dato noch nicht dagewesen war. Zuvor regierten die Tante-Emma-Läden, in diesem Blog als Onkel-Ekram-Läden und in Indien als Kiranawalas bekannt.
Diese Kiranawalas quetschen ihre Ware in penibler Stapelarbeit bis unter die Decke ihrer kleinen Geschäfte. Sie operieren in den Wohngebieten und kennen die meisten ihrer Kunden persönlich, weswegen sie oft nicht nur wissen, was ein bestimmter Kunde bevorzugt, sondern sie gewähren auch Kredit. Ein großes, dickes Büchlein listet einen ganzen Monat lang die kleinen Popelausgaben auf, und man kann in regelmäßigen Abständen bezahlen. Das ist bequem. Hinzu kommt noch kostenloser Lieferservice. Die meisten Kiranawalas beschäftigen boys (was nicht heißt, dass sie zwangsläufig minderjährig sind, sondern die heißen halt so), die nach einem kurzen, knackigen Telefonanruf die gewünschte Ware liefern.
Das ist der gute, alte Kiranawala.
Doch der bietet selbstverständlich keine Oliven an. Keine Pasta. Keine dreizehn Sorten Weizen, Reis und Hülsenfrüchte. Er ist meist auf indische Produkte spezialisiert, gibt aber den MRP (den aufgedruckten Maximum Retail Price) oft ein oder zwei Rupien Rabatt.
Im Juli 2001 berichteten mir die Studenten des Indian Institute of Management voller Stolz, Big Bazaar sei der bis dato größte Supermarkt, in dem man „alles“ bekommt. Wir fuhren nach Koramangala, wo sich der bis dahin einzige Big Bazaar in Bangalore befand. Selbstverständlich war ich völlig unbeeindruckt, aber für Indien hatte die Revolution begonnen. Alles unter einem Dach! Unglaublich. Anfang 2003 begann Big Bazaar in Koramangala, seine Produktpalette auf Lebensmittel auszuweiten. Das lief unter dem Namen Food Bazaar. Zunächst sah alles noch eher wie der Lagerverkauf einer alten Fabrik aus: seltsame, billig aussehende, metallene Regale und alles ein bisschen leer. Das war vor dem großen Sturm importierter Produkte. Damals war der Importladen für Dove Bodylotion, Nutella & Co verantwortlich. Es gab lediglich zwei Kassen, an denen es schleppend voran ging. Doch das Konzept schien sich bewährt zu haben, denn Food Bazaar wuchs und wuchs. Heute gibt es in ganz Indien 56 Big Bazaars.
Gleichzeitig wuchsen andere Ketten wie Foodworld, FabMall, Spencer’s, Subhiksha, Reliance Retail etc pp. Ständig kommen neue Supermärkte dazu. Der indische Konsument wird immer experimentierfreudiger. Ein Trend, der meines Erachtens durch die nach Indien zurückkehrenden IT-Experten geführt wird, die in ein paar Jahren in Europa bzw. den US neue Produkte gerade aufgezwungen bekamen und nach ihrer Rückkehr mit vollen Taschen in Indien feststellen, dass sich ihr Lebensstil geändert hat und dass sie den jetzt gern fortführen würden – in Indien. Allein das Angebot an Cornflakes ist unvorstellbar gewachsen. 2001 gab es Kellogg’s Cornflakes mit und ohne Honig. Jetzt gibts alle erdenklichen Sorten, und die Inder kaufen sogar fleißig Produkte für bis zu 6 Euro. Kürzlich hat Dr. Oetker den großen Schritt über den Hindukush gewagt. Muesli und dergleichen sind heute für zwischen 4 bis 6 Euro pro Packung erhältlich, und es wird gekauft.
Das heißt auch, dass der „Importladen“ schon bald eine Idee der Vergangenheit sein wird. Firmen wie Unilever (in Indien Hindustan Unilever), Nestlé, Masterfoods und wie sie nicht alle heißen, führen immer mehr Produkte nach Indien ein. Sie kommen auf organisierten Wegen nach Indien – nicht mehr in kleinen Mengen zu großen Preisen in die Importläden. Ich brauche in Mumbai beispielsweise keinen solchen mehr aufsuchen, weil der Supermarkt „Hypercity“ (ein exaktes Replika europäischer Supermärkte) alles bietet, was ich brauche. Import/Export, eins der beliebtesten Geschäfte in Indien, wird vielleicht in naher Zukunft kaum mehr rentabel sein.
Neue Produkte werden gern in Südindien eingeführt, in Städten wie Bangalore, Hyderabad und Mumbai, wo der Markt offener, der Konsument mehr gewillt ist, mal was neues auszuprobieren. Die Produktpalette in Delhi/NCR ist vergleichsweise gering. Das bezieht sich nicht nur auf ausländische Produkte, sondern auch auf indische. Wir waren geradezu schockiert zu sehen, was der indische Markt alles zu bieten hat: Dinge, die es in der Hauptstadt überhaupt nicht gibt.
In Südindien ist es auch, wo sich der Supermarkt auf dem Siegeszug befindet. Hier sind einem kürzlichen Report in der Hindustan Times zu Folge immer mehr Inder gewillt, zuzugeben, dass ein Supermarkt verdammt praktisch ist.
Selbstverständlich macht sich unter den Kiranawalas Protektionismus breit. Man möchte, dass der indische Staat die Onkel-Ekram-Läden schützt. Was soll aus diesen Geschäften werden? Vermutlich dasselbe wie aus dem Einzelhandel in Deutschland. Bedauerlich, aber unvermeidlich, wie auch Abhay Pethe, Economist, zugibt. Was will man tun? Nun, da gibt es verschiedene Möglichkeiten: in Navi Mumbai beispielsweise kommt es immer öfter zu Randalen. Erst gestern (22. Nov) wurde eine Filiale der Reliance Fresh Kette angegriffen. Organisiert wurde das Ganze durch die
Bhartiya Janshakti Party (BJP), deren Parteiführer Uma Bharti folgenden Schlachtruf in die aufgewühlte Menge schleuderte: „Es wird kein Flehen mehr geben, nur noch bitteren Kampf.“ Wie sieht so ein bitterer Kampf aus? Steine gegen die Fenster. Ein bisschen kaputt machen. Der übliche Mob eben.
Ähnlich geht es derzeit im nordindischen Bundesstaat Uttar Pradesh zu, wo Chief Minister Mayawati die Reliance Kette bereits herausgeekelt hat. Die Bauern haben ein Problem mit Reliance, weil sie befürchten, eine organisierte Kette könnte ihre Verkaufspreise drücken und ihnen auf lange Sicht schaden, und Mayawati bemerkte, dass Bauern eine viel größere Votebank formen als Reliance. Sämtliche angemietete Ladenflächen wurden bereits abgetreten. Sämtliche Angestellten in U.P. wurden bereits entlassen. Reliance rollt den Teppich ein. Hier ist man nicht willkommen.
Zeitungsberichten zu Folge sind die Bedenken der Farmer unberechtigt, dass große Ketten die Marktpreise für Gemüse und Obst drücken könnten, weil sie größere Volumen abnehmen. Einige der Supermärkte sind gar dazu übergegangen, die Mittelmänner auszuschalten, indem sie direkt mit den Bauern in Kontakt treten, was die Bauern freut (höhere Preise, garantierte Abnahme der Produkte, keine Transportkosten/-Probleme und darum kein Verlust durch verdorbene Ware), aber die Mittelmänner haben natürlich nun einen dicken Hals.
Andererseits betreiben die Supermarktketten in Navi Mumbai falsches Spiel, indem sie nicht umgesetzte Ware zurück auf den Großmarkt werfen und dort zu Niedrigpreisen wieder verkaufen. Obst und Gemüse also, dass nicht rechtzeitig den Weg in den Einkaufskorb des Konsumenten gefunden hat, wird, bevor es vollkommen verdirbt, wieder auf den Großmarkt gekarrt und konkurriert dort mit (teurerer) Frischware.
Es gilt also anzumerken, dass die Supermärkte teilweise durchaus dafür verantwortlich gemacht werden können, dass Farmer/Mittelmänner etc. die Faxen dicke haben. Ein zweiseitiges Schwert, da nur die Supermarktketten wissen, wie lange sie fair spielen wollen.
Gleichzeitig sehen die Kiranawalas den Rupienstrom versickern. Da ist er wieder, der Protektionismus. Im Mumbai-Stadtteil Ghatkopar haben im letzten Jahr bspw. 28 Onkel-Ekram-Laeden geschlossen. Gleichzeitig erzaehlt uns eine Studie, dass 98% des Lebensmittelumsatzes in Indien in traditionellen Geschaeften (sprich: Kiranawalas) zu verzeichnen ist, wovon es 11 Millionen im Land geben soll. Der Kiranawala kann nicht sicher sein, welches Schicksal ihn ereilt. Er sehnt sich nach seiner kleinen Nische, nach seinem warmen Sitz am Ofen, wo alles so schön gemütlich war. Die Schlussfolgerung muss sein, dass die Supermärkte weg müssen. Weg. Alle. Raus. Dann wird alles wieder wie vorher.
Nur wenige Kiranawalas machen sich tatsächlich die Mühe, ihre Produktpalette umzustellen. Oder neuen Service anzubieten. Oder sich mit anderen Kiranawalas zusammenzuschließen, um größere Mengen einzukaufen und dadurch größere Rabatte erlangen und als Appetitshäppchen an den Konsumenten weiterreichen zu können.
Ich erinnere mich sehr gern an unseren Onkel-Ekram-Laden in Bangalore, direkt vor dem Eingang unserer Gated Community. Dort waren wir immer gut aufgehoben. Wir ließen anschreiben, was furchtbar praktisch war. Wir ließen uns die Sachen liefern, was der Faulheit gut tut. South City war ein Sonderfall: es steckte voller IT-Experten, die die Früchte der Welt gekostet hatten und weiterhin auf deren Lieferung befanden. Es steckte voller Ein- oder Zweikindfamilien oder Paaren mit doppeltem Einkommen. Es steckte voller Mieter/Wohnungseigentümer mit dicken Taschen. Die Inhaber des Onkel-Ekram-Ladens (findige, sehr freundliche Muslime aus Kerala), stellten sofort ihre gesamte Produktpalette um. Nun gab es dort Fruchtsäfte, Marmelade, Klopapier, importierte Windeln, abgepacktes Hühnchen, Oliven, Pastasoßen, gefrorene Fertigprodukte, Pasta, Datteln und lauter Krimskrams, der erstens teuer ist und zweitens genau den Geschmack der South-City-Gemeinschaft traf. Ich kaufte über 50% in diesem kleinen Geschäft ein, und ich denke, FoodChoice (so nannte sich der Laden) macht auch heute noch ordentliches Geschäft. Big Bazaar hin oder her, Geschäfte wie FoodChoice werden auf dem Rücken dieser Welle reiten und sich nicht unterkriegen lassen, weil sie innovativ sind, nicht nur meckern sondern „machen“.
Schade, dass auch weiterhin Kiranawalas und Farmer dem Schlachtruf von Uma Bharti & Konsorten folgen werden, anstatt Geschäftsideen zu entwickeln, die in der neuen Umwelt Indiens funktionieren. Erst kürzlich wurde beispielsweise über findige Bauern im Bundesstaat Punjab (Westindien) berichtet, die – anstatt die nächste Reliance Fresh Filiale abzufackeln – diese stattdessen mit ihren eigenen Waffen zu schlagen gedachten. Die Bauern eines Dorfes schlossen sich zusammen: das bietet erstens eine breite Produktpalette, zweitens Unterstützung und drittens größeren finanziellen Spielraum. Sie mieteten ein Geschäft, füllten es mit Regalen, die sie wiederum mit ihrer frischen Ware (ohne jedweden Zwischenhändler) verkaufen. Das Geschäft brummt.
Auf lange Sicht werden die Supermärkte gewinnen, das steht außer Frage. Aber ich hoffe, dass unter den Kiranawalas und Farmern der Geschäftssinn letztendlich die Oberhand über das bockige Kind gewinnt, so dass es mehr FoodChoice und mehr findige Bauern mit ihren eigenen Geschäften geben wird.