Drishtidosham – Das Böse Auge

Indien gehört zu den Kulturen, in denen der Glaube an das Böse Auge – Nazar oder Drishtidosham – fest verankert sind. Was ist das? Der Glaube an Nazar oder Drishtidosham bedeutet, dass ein Blick voll Neid und Missgunst von anderen zu Unheil und Unglück führen kann für denjenigen, der so betrachtet wird.
Ein praktisches Beispiel wäre des Nachbars neuer Schlitten, den man mit so garstiger Eifersucht betrachtet, dass sich darin ein Nazar manifestiert und Nachbar die Karre just in den Graben fährt.

Es stellt sich nicht die Frage, ob Blicke töten können, denn dass sie dies können, ist offensichtlich. Vielmehr stellt sich die Frage, wie man sich vor solcherlei Bösartigkeit schützt?

Wurde man bereits durch neidvolle Blicke anderer verhext, kann man sich nur mit Hilfe eines kleinen Rituals davon reinigen. Doch da Vorsorge bekanntlich besser als Nachsorge ist, gibt es ein paar Mittelchen, damit das Böse Auge gar nicht erst wirksam werden kann.

Limetten zum Beispiel.

Zitronen

Dieser Jahresvorrat gegen Nazar lag an einer Kreuzung in Mumbai herum. Dort nämlich verkaufen fliegende und durchaus illegale Händler diese Waren gegen 2-5 Rupien, je nachdem. Vermutlich fließt hier neben Zitronenlimonade und Marinaden auch ein betrachtlicher Prozentsatz sämtlicher Limetten hin. :yes:
An einem Stückchen Draht oder Faden sind eine Limetten sowie grüne Chillis und ein Stück Kohle aufgefädelt. Das baumelt man sich dann ans Moped, ans Auto, an die Ladentür oder sonst wohin, wo man Drishtidosham vermutet.

Auch Kinder müssen vor dem bösen Auge geschützt werden. Mit Kohl (Kajal) werden die Augen umrundet und ein schwarzer Punkt wird auf Stirn und auf die Wange gesetzt. Zudem werden schwarze und weiße Armreifen getragen.

Armreifen

Ist das Land im Umbruch? Wird diese Tradition aussortiert? Mitnichten. Die Fortführung dieses Glaubens kostet auch den modernen Menschen nicht viel. Ein paar Rupien, um das Auto sicher zu halten? Eine Nazarmaske am Haus? Vier Armreifen für insgesamt 10 Rupien? Schaden kann es nicht.
Ein Zeichen dafür, wie beliebt und lebendig Nazar ist, zeigt sich im recht plötzlichen Import türkischer Nazar-Augensteine oder nazar boncuğu. Diese hübschen blauen Amulette und Schmuckstücke gibt es jetzt in Mumbai an jeder Ecke käuflich zu erwerben.

Bis vor kurzem trug Roma noch keine schwarz-weißen Armreifen, auch wenn ich sie allein vom Aussehen und Klang für sehr hübsch halte. Eine Nachbarin entdeckte uns so und fragte Bentley, warum das arme Kind so ungeschützt dem Nazar ausgesetzt werden würde. Wir sollten bloß nicht so tun, als wären wir modern, denn das würde uns gar nichts bringen. Das Kind brauchte Armreifen, und zwar hurtig!

Ich fand diese Fürsorge dieser älteren Nachbarin sehr niedlich.

Des Nachbars neues Auto

In meiner deutschen Familie gibt es ein neues Auto. Es wurde vom Autohändler geholt, auf den Parkplatz gestellt, und das wars. Jetzt fährt man damit durch die Gegend.

Und als ich die Fotos des neuen Schlittens betrachtete, fiel mir auf, wie unterschiedlich solche Dinge in Indien gehandhabt werden. Ein neues Auto? Zunächst fährt man dieses mit einer anständigen Blumengirlande nach Hause. Dort angekommen führt man eine kleine Pooja durch, denn man will das Ding ja schließlich auch einweihen: Dabei kann man zum Beispiel mit den Reifen Zitronen zerquetschen, Blümchen übers Auto streuen, mit einer Mischung aus Vermillion, Wasser und Turmeric ein Om auf die Motorhaube malen, einen kleinen Ganesha ins Auto setzen – oder halt so, wie in der jeweiligen Familie eben Poojas gerade durchgeführt werden.
Heute übrigens ist der Feiertag Gudi Padwa, das Marathi Neujahr. Darum ist heute der Zeitpunkt schlechthin, um sich neue Sachen zuzulegen: Gold. Haushaltsgerätschaften. Fahrzeuge. Wohnungen und Häuser.

Blumenmeer

Und wenn man diese fürs persönliche Glück durchgeführten Rituale hinter sich hat, muss man seine Freude noch offiziell zum Ausdruck bringen, indem man bei den Nachbarn die Runde macht und Süßigkeiten austeilt. Süßigkeiten auszuteilen ist in Indien die Standardhandlung, um gute Stimmung zu verdeutlich. Ein neues Baby? Eine neue Hochzeit? Ein neuer Job? Neujahr? Alles wird mit der großzügigen und für europäisches Kulturverständnis etwas aufdringlichen Art Abgabe von Süßigkeiten ausgedrückt. Es wird sogar erwartet.

Lebte meine Familie also in Indien, würden sie den ganzen Tag von Haustür zu Haustür stiefeln und ihre Gefühle in Form kalorienhaltiger Lebensmittel verdinglichen. Und nun stelle ich mir vor, wie meine Eltern zu den Nachbarn gehen mit ein paar Stückchen Blechkuchen, die man ordentlich auf einem kleinen Teller arrangiert hat… und wie die Nachbarn die Süßigkeiten annehmen, mit einer Mischung aus Freude/Überraschung/Argwohn und Neid auf das neue Auto gucken, die richtigen Worte finden, und den Teller mit ins Haus nehmen, um 30% der Süßigkeiten darauf zu essen und den Rest wegzuwerfen… und wie dieser Teller dann mehrere Tage bis Wochen im Hause der Nachbarn vergessen wird, bis irgendwer mal dran denkt, ihn zurückzugeben…

Oh, das waren wohl meine eigenen Erinnerungen… 😳

:))

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Beim nochmaligen Lesen fällt mir auf, dass das sehr „Mittelklasse“ ist. Tja, nun ist dieser Beitrag nicht nur kulturell sondern auch soziologisch wertvoll. :yes:

Volkskunst (Commonwealth Games Delhi)

Die Commonwealth Games rücken unaufhaltsam näher, und inzwischen musste man feststellen, dass sich die Bewohner der Gastgeberstadt Delhi nicht wirklich anstandstechnisch aufpoliert haben. Und das trotz einer offiziellen Benimm-Dich-Aktion Der Verantwortlichen, durch welche unter anderem Polizisten, Taxifahrern, Busfahrern und Fahrkartenkontrolleuren binnen eines dreitägigen Kurses Anstand eingetrichtert werden sollte. Auf dem Lehrplan standen einfaches Englisch, höfliche Floskeln und internationale Kniggeregeln. So zum Beispiel auch, dass es nur dem Spuckenden, nicht aber den Beobachtern Spaß macht, große Speichel-mit-Paan-Blubberbatzen durch die Kante zu schießen.

Nun denn. Es hat nicht sollen sein. :no: Delhis Bewohner lassen sich nicht in ihre orale Hygiene pfuschen. Sie reinigen ihre Mundhöhle on-the-go, wie das heute en vogue ist.

Vielleicht wäre es sinnvoll gewesen, die gesamte Stadt mit Götterbildern zuzupflastern. Über die Wirksamkeit dieser Methode berichtete ich anno dazumal.

Nun ist es zu spät dafür. Also werden die bräunlichen Spuren des nationalen Spuckvergnügens kurzerhand zur Volkskunst erklärt – zumindest, wenn man der Satireseite Faking News glaubt. Diese Seite ist eine Fundgrube witziger Darstellungen des aktuellen Tagesgeschehens. Jeder wird auf die Schippe genommen, und das nicht zu knapp. Die Commonwealth Games gehören selbstverständlich dazu. Bemerkenswert finde ich, dass diese „Nachricht“ zwar Humbug ist, aber genau in die vorherrschende Mentalität passt. Schwer vorstellbar ist es für mich jedenfalls nicht, dass die Spuckflecke kurzerhand ein Upgrade erfahren. Vielleicht nicht unbedingt zur Volkskunst, aber der nächstbeste Rang ist ihnen sicher: einheimisches Kulturgut. Dieses welches zu bewahren muss in den identitätsraubenden Zeiten der Globalisierung doch gelobt werden. ;D

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Mehr zu den Spielen unter dem Tag Commonwealth Games Delhi

Ganze Sätze

Ich habe es irgendwo in den Weiten dieses Blogs schon einmal erwähnt: Kommunikation in Indien funktioniert anders.

Wieder einmal bewusst geworden war mir diese die Welt bewegende, unschätzbare Weisheit heute morgen zum Frühstück, als wir zwei Wasserkanister bestellten. Trinkwasser erwerben wir in Ermangelung eines prä-installierten Wasserfilters nämlich im 20-Liter-Kanister käuflich beim Kiranawallah (Tante Emma Laden) unseres Vertrauens. Wir geben unsere Bestellung jeweils telefonisch auf und erhalten das Wasser dann geliefert. Manchmal binnen Minuten. Manchmal drei Tage später. Aber das ist eine andere Geschichte.

Rahul griff zum Handy. Der Kiranawallah nahm ab:
Kiranawallah: „Ja?“
Rahul: „Hier spricht 805. Sir, schicken sie mir einen Bisleri-Tank. Das ist alles.“
Ende des Gesprächs.
Dauer des Gesprächs Monologs: 13 Sekunden

Textanalyse:
805 – Der Leser stelle sich bitte vor, es handle sich dabei um unsere Hausnummer. Es ist nicht unsere tatsächliche Hausnummer. Wichtig fürs Gespräch ist, dass sich Rahul nicht namentlich vorstellte. Ich bezweifle, dass der Kiranawallah überhaupt Rahuls Name kennt. Oder sich dafür interessiert. Gleichsam kennen wir auch den Namen des Kiranawallahs nicht.

Bisleri – Der Markenname des Wassers. Bisleri ist wie Coke und Tempo, wo ein Markenname den tatsächlichen Produktname ersetzt. Wir könnten genausogut nach einem Wassertank fragen.

Ich komme bei solchen Anrufen aus dem Staunen nicht mehr heraus. Dreizehn Sekunden pure Information und Null menschlicher Kontakt. Natürlich stand ein paar Minuten später prompt der Wasserfritze vor der Tür. Es funktioniert also. Aber für mich ist das immer noch, nach all den Jahren komisch, dass Kommunikation so funktional und mechanisch ist. Beinahe nackig.

Oder gar nicht-existent. Immerhin steht der Wasserfritze vor der Tür. Wortkarg, wenn nicht gar wortlos. „Paani, Sir“, sagt er. Wenn ich die Türe aufmache, sagt er gar nix. Ich habe ja schließlich Augen im Kopf. Ich unterhalte das imaginäre Publikum dann meist alleine, so nach dem Motto:
„Oh, das Wasser ist da. Stell den Kanister doch bitte hier hin. Danke.“ – Und reiche den leeren Kanister in die schweigenden Hände. Bekomme im Austausch einen „Kassenbon“. Meist ein Stück Papier mit einem Krakel und der Zahl 70 drauf. Siebzig Rupien reiche ich rüber. Wortlos werden sie in Empfang genommen. Wortlos drückt der Wasserfritze den Knopf des Fahrstuhls. Wortlos schließe ich die Tür.

Bei Rahul läuft das ähnlich. Es liegt nicht an eventuellen Sprachbarrieren. Das ist halt so.

Ein bisschen fassungslos – auch jetzt noch, nach all den Jahren – frage ich mich, woran das liegt? Wo da die fröhlich blubbernde Unterhaltung bleibt?
Wozu, wos doch so prima funktioniert, meint Rahul? Er gibt mir ein Beispiel aus dem Büro. Eine Unterhaltung zwischen zwei Kollegen:

Ramesh addressiert Pankaj: „Pankaj…“
Pankaj (arbeitet am PC, schaut nicht auf): „Hmmm.“
Ein Moment verstreicht.
Ramesh wiederholt: „Pankaj…“
Pankaj (schaut auf): „Sag schon, Arschloch.“

Lektion 1:
Männer haben Humor. Eine komische Sorte. So wie Harzer Käse. Aber Humor. Immerhin.
Lektion 2:
Hemmungsloser Gebrauch von Fäkalsprache zieht sich wie ein roter Faden vom Bier-verkleckerten Stammtisch hin ins Büro.
Lektion 3:
Ganze Sätze werden nur nicht gesprochen. Sie werden auch nicht erwartet. Und schon gar nicht geschätzt.

Hindilernende dürfen das Kapitel zur Satzbildung also getrost überspringen. :yes:

Hindu Sanskars – Zeremonien für Babys

01 Punsavana
Dieses Ritual findet ca. im 3. oder 4. Schwangerschaftsmonat nach. Man betet für den Schutz des Babys. Traditionell handelt es sich allerdings um ein Gebet für einen Sohn.

02 Simantonnyana oder Godh Bharai
Findet im 7. Monat statt und kommt in etwa einer Babyshower gleich. Die werdende Mutter wird mit ihren Lieblingsgerichten bekocht und reich beschenkt.

03 Jatakarma
Diese Geburtszeremonie heißt das Baby willkommen in der Welt. Je nach Interpretation der Zeremonie zeichnet der Vater mit Honig das Wort „Aum“ auf die Zunge des Babys (oder steckt ihm einfachheitshalber einfach nur Honig in den Mund) und flüstert den Namen Gottes in sein Ohr.

04 Ritual zur Entfernung des Evil Eye am 6. Tag
Eine kurze Pooja soll das Evil Eye (durch Neid verursachtes Ungemach) abwenden.

05 Naamkaran
Namensgebung (Beitrag von Okt 2006)

06 Annaprashan
Der erste Reis. Annaprashan markiert den Übergang von flüssiger zu fester Nahrung. Für Jungen wird das Ritual in gerade Monaten, normalerweise dem 6. oder 8. durchgeführt, während es für Mädchen in ungeraden Monaten stattfindet, normalerweise dem 5. oder 7.
Üblicherweise werden Reis mit etwas Butterschmalz und eventuell auch Dal (Linsen) für das Baby gekocht.

07 Mundan
Babys erster Haarschnitt dient, wie so viele Hindurituale, der rituellen Reinigung des Körpers. Man glaubt, dass das Haar eines Neugeborenen unrein ist und darum entfernt werden sollte. Darum wird der Kopf des Babys im ersten oder im dritten Lebensjahr rasiert und das Haar wird geopfert. Abgesehen von diversen Interpretationen dieses Rituals (nämlich dass es den Kopf kühl hält, sämtliche Negativität aus früheren Leben entfernt und diverse Schmerzen lindern kann), glauben viele Hindus, dass das Rasieren des Kopfes die Blutzirkulation anregt und das Haar dicker und gesünder nachwächst.

Es gibt noch eine Reihe weiterer Hindu Sanskars (Sakramente), doch ich habe mich auf die üblichen beschränkt und ganz besonders die weggelassen, welche nur für spezifische Kasten gelten. Wikipedia bietet eine übersichtliche Auflistung aller Sanskars.

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Wir haben keins dieser Rituale durchführen lassen bzw. habe ich nicht vor, weiter in der Zukunft liegende Rituale durchzuführen. Sanskars wie die Namensgebung „Naamkaran“ benötigen ein offenes Feuer, und da Roma bereits mit einem herrlichen Namen gesegnet ist, können wir auf Feuer und Qualm verzichten. Andere Rituale, wie z.B. Mundan, bringen mich kopfschüttelnd auf die Palme. Roma muss ihr Leben vermutlich mit dünnem Haar fristen, bevor ich einen wildfremden Mensch da einen Rasierer mit offener Klinge ansetzen lasse. Oder vielleicht schickt Oma ein paar Packungen Bio-H-Tin aus Deutschland. 😉

Vertrauen ist gut

Es gibt etliche Geschichten, Erfahrungsberichte und Zeigefinger-Schwing-Referate zum Thema, wie man in Indien an jeder Ecke zum Narren gehalten, verkohlt, ausgenommen und hintergangen wird. Vom Rickshawwallah über das Reisebüro hin zum Gemüseverkäufer ist es doch immer dasselbe. Traue niemandem. Tragbarer Polygraph ein absolutes Muss. U-(
Da kann einem schon mal schwindelig werden.

Aber, nachdem ich nun heute meine fünfte und vorerste letzte Fahrstunde hinter mich gebracht habe, kam mir der Gedanke, dass es in Indien auch ein recht extremes Gegengewicht gibt. Wenn Transaktionen und Geschäfte im täglichen Leben ganz ohne Papierkram nur in einer Währung durchgeführt werden: Vertrauen.

Es sind Kleinigkeiten: zum Beispiel die Tatsache, dass ich für die Aufnahme meiner fünf Fahrstunden niemals irgendwo unterschrieb. Ich stand 9:30Uhr bei denen auf der Matte, stieg in den Wagen und preschte los rollte von dannen. Wie ich heiße und wo ich wohne spielte keine Rolle. Die anfallenden Kosten für fünf Fahrstunden sollte ich zur letzten Stunde begleichen, doch ich habe nie für eine Fahrstunde unterschrieben. Es wurde ehrlich gezählt: Heute war die erste Stunde… die zweite… die dritte, usw. Am Ende wurde gezahlt. Cash auf die Kralle ohne Rechnung. Vertrauen wir mal darauf, dass Martin Motor Training School Einkommenssteuer zahlt. ;D
Was wenn ich zur fünften Stunde nicht erschienen wäre? Was wenn ich behauptet hätte, es wären noch gar keine fünf Fahrstunden gewesen?

Das Prinzip Vertrauen funktioniert aber vor allen Dingen im alltäglichen Bereich: Nach einem Morgenspaziergang stellen wir fest, dass wir kein Toast im Haus haben, doch Geld haben wir keins einstecken. Trotzdem schnappen wir uns vom Eckladen eine Packung Toast und rufen dem Verkäufer zu, wir würden das später zahlen. Zwei Tage später erinnern wir uns: Mensch, da war doch was. Der Verkäufer bekommt sein Geld. Er hat sich auch in den zwei Tagen nicht gewundert, ob das der Fall sein würde, weil er wusste, dass es so sein würde. Hat halt etwas länger gedauert, aber das hat ihn nicht gestört. Er hat nicht nervös nach uns Ausschau gehalten.

Dieses Anschreiben ohne Papier & Namen funktioniert in allen Geschäften in der Nachbarschaft, und man muss kein alt eingesessener Hase sein, um diesen Kredit zu erhalten. Mal die Geldbörse vergessen? Kann doch mal passieren. Zahlste halt das nächste Mal.

Als ich die Mückennetze für unsere Fenster beim Schneider um die Ecke abgebe, damit er Klettverschluss ringsherum näht, fülle ich auch kein Formular aus. Ich gebe ihm den Beutel mit dem Klett sowie den Beutel mit dem Mückennetz und frage lediglich noch, wanns fertig sein wird. Am Abend des selben Tages schau ich wieder vorbei: Der Schneider reicht mir den Beutel mit dem fertigen Mückennetz sowie den Beutel mit dem übrigen Klett. Ich frage, was es kostet und vertraue darauf, dass ich nicht beschissen werde. Werd ich auch nicht. :yes:

Auf diese Weise gibt es unzählige kleine Begebenheiten, die vollkommen ohne Nachweis, Abholschein, Adresse, Identitätsnachweis oder ähnlich langweiligem Aufwand einhergehen. Man denkt nicht weiter darüber nach. Man verlässt sich auf ein wortloses Kopfnicken. Und es klappt meistens.

Die Kehrseite dieser sehr bequemen, erfreulichen Medaillie ist natürlich, dass man Betrügern enormen Spielraum bietet. Doch gemessen an der Tatsache, dass wir uns fast täglich auf diese Art von stillen Vertrauensgeschäften verlassen, kommt es doch erstaunlich selten vor, dass wir wirklich auf die Nase fallen. Das ist schön. :yes:

Wunschterminbabys in Indien

oder
„Für mich bitte einen kleinen Krishna“

Lord Krishna ist einer der beliebtesten Hindugötter Indiens und gestern war sein Geburtstag. Für viele Frauen lautete das Stichwort darum an diesem sonst so ereignislosen Donnerstag: Kaiserschnitt! Denn was gibt es schöneres, als den Geburtstag mit Krishna zu teilen?

Es ist durchaus üblich, dass sich Frauen an Hand bedeutungsvoller Daten im Kalender ihrer jeweiligen Religion leiten lassen, wenn es um die Geburt ihrer Kinder geht. Niemand wollte beispielsweise ausgerechnet zur kürzlichen Sonnenfinsternis ein Kind zur Welt bringen, wo doch die Strahlen so schädlich für Mutter und Kind sind. Der Gefahr einer so unglückseligen Geburt gingen sie aus dem Weg, indem sie sich rechtzeitig in den OP-Saal schieben ließen, um einen freiwilligen Kaiserschnitt durchführen zu lassen.

Der umgedrehte Fall geschah gestern: Krankenhäuser sahen einen 50%igen Anstieg von Kaiserschnitten, weil Frauen und ihre Familien unbedingt zu Krishnas Geburtstag ihren kleinen Stammhalter zur Welt bringen wollten. Das ist ein Phänomen, welches Planung forderte: die Krankenhäuser waren bereits Monate voraus ausgebucht für den Bestelltermin eines kleinen Krishnas. Wer nicht rechtzeitig gebucht hatte, durfte die Welt zumindest nicht gestern weiter bevölkern, sondern musste auf heute warten.

Zeitungsberichten zu Folge ist der 24. Dezember ein weiterer Termin, der bei Schwangeren ganz beliebt ist. Dann ritzen sich die Skalpelle wieder rostig, weil Familien es offenbar so schön finden, wenn ihr Nachwuchs den Geburtstag mit populären Leuten teilt.

Heute findet übrigens wieder Dahi Handi statt, das Joghurttopffest mit den menschlichen Pyramiden & Knochenbrüchen.

Morgige Sonnenfinsternis & Hinduismus

Morgen wird zwischen 5:28Uhr und 7:40Uhr in Indien eine Sonnenfinsternis zu beobachten sein. (Für die genaue Bahn der Sonnenfinsternis siehe Karte.) Solch ein Surya Grahan ist auch ein kulturelles Ereignis, welches einige Regelungen mit sich bringt.

Mehrere heilige Schriften Indiens erwähnen eine Sonnenfinsternis, darunter auch Rigveda (welche gemeinhin als älteste der vier Vedas angesehen wird). Neben einigen sehr detaillierten, gelehrten Erwähnungen der Sonnen- bzw. Mondfinsternis und wie Gelehrte darauf reagierten, gibt es auch den recht weit verbreiteten Mythos um den Dämon Rahu, der solche Finsternisse verursacht:

Auf Vishnus Anweisung hin hatten die Götter und Dämonen eine Allianz gebildet, um Nektar aus dem großen Milchozean zu gewinnen. Um den Ozean zu rühren (bzw. buttern), wurde der König der Schlangen Vasuki um den Berg Mandara gewickelt, um so einen Quirl zu formen. Die Götter unter der Leitung von Indra zogen am Schwanz der Schlange, während die Dämonen unter der Leitung von Vali am Kopf der Schlange zogen und so den Ozean in Bewegung setzten.
Wie Allianzen das an sich haben, zerbrechen sie im entscheidenden Moment. So auch diese: Als der Nektar gewonnen worden war, schnappten die Dämonen ihn sich und machten sich aus dem Staub. Daraufhin verwandelte sich Vishnu in die betörende Schönheit Mohini, um die Dämonen zu becircen. Das gelang: Mohini bekam den Nektar zurück und es wurde ihr überlassen, ihn nach ihrem Befinden auszuteilen. Manchmal sind Götter kaum weniger selbstsüchtig als Dämonen, und so teilte Mohini den Nektar ausschließlich an die Götter aus.
Der Dämone Rahu durchschaute diesen Trick, verkleidete sich als Gott und nahm zwischen Sonne und Mond Platz, um auch etwas vom süßen Nektar abzubekommen. Als er gerade die ersten Schlucke zu sich genommen hatte, erkannten Sonne und Mond ihn. Vishnu schlug Rahu zur Strafe den Kopf ab. Durch den rechtzeitigen Genuss des Nektars war Rahu allerdings unverwundbar geworden, so dass sein Kopf als Rahu und sein Körper als Ketu überlebte. Und da Rache fast so süß ist wie Nektar, revanchiert sich Rahu regelmäßig, indem er Sonne und Mond vorübergehend verdunkelt: Grahan oder Finsternisse sind die Folge.

Diese Geschichte findet sich im 35. Kapitel des Bhagavata Purana. Aus dieser Mythologie ergibt sich auch der Begriff grahanan: Greifen. An sich reißen. Rahu und Ketu fahren als unsichtbare Planeten über den Himmel und reißen hin und wieder Sonne und Mond an sich, um sie zu verdecken (Zeichnung, wie das in der vedischen Astronomie ausschaut).

(Übrigens ist dieser gemeine Nektardieb der Ursprung des Namens Rahul, und der hat auch einen süßen Zahn. ;))

Morgen hat Rahu wieder seinen großen Tag und wird die Sonne verdecken. Ein solches Ereignis bleibt für den gläubigen Hindu nicht ohne Folgen:

Rituale & Besonderheiten

Zwölf Stunden vor Beginn einer Sonnenfinsternis beginnt man zu fasten. Das liegt daran, dass Lebensmittel, die während dieser Zeit zubereitet werden, sowieso nicht zum Verzehr geeignet sind. Sie wären verunreinigt. Bei einer Mondfinsternis sind es neun Stunden. Kinder und alte Menschen fasten nur drei Stunden lang.
Man kann sich mittels Pujas (Gebeten) auf die Finsternis vorbereiten. Opfergaben an die Götter in Form von Lebensmitteln sollten vermieden werden. In dieser Vorbereitungsphase nimmt man außerdem ein Bad.
Während die Sonnenfinsternis im Gange ist, sollte auch kein Wasser getrunken werden. Stattdessen werden alle Arbeiten eingestellt, man sitzt an einem Ort und singt das Ashtakshara Mantra zu Ehren Krishnas, Shivas und Vishnus: Shri Krishna ha sharnam mama.
Tempel bleiben während einer Sonnen- oder Mondfinsternis geschlossen und öffnen erst am nächsten Tag nach einer Reihe reinigender Rituale.

Schwangere Frauen dürfen während einer Sonnenfinsternis nicht ins Freie treten, wo sie von den ungünstigen Strahlen der Finsternis getroffen werden können, da diese sonst Abnormalitäten im Kind hervorrufen können. Sie bleiben darum im Haus, welches zudem abgedunkelt sein muss, damit kein Licht durch Fenster und Türen hereintreten kann.

Manche glauben außerdem, dass es zu vermeiden ist, irgendetwas zu schneiden, während Rahu die Sonne verdeckt. Das liegt daran, dass man sich an scharfen Objekten selbst verletzten kann, und während einer Sonnenfinsternis sei der Blutfluss wohl sehr schwer zu stoppen. Aus diesem Grund sind auch Sarinadeln nicht erlaubt: Man soll sie während einer Sonnenfinsternis weder tragen noch zumachen. Für Schwangere gibt es außerdem ein besonderes Mantra: Das Santana Gopala Mantra.

Om Devaki Sudha Govinda Vasudeva Jagath Pathe
Dehimey Thanayam Krishna Thwameham Saranamgathe !
Kadhahaa Deva Deva Jagannatha Gothra Vridhi Karap Prabho
Dehimey Thanayam Sheegram Ayushmantham Yashashreenam !!

Wasser ist während der Finsternis in seiner fließenden Form ganz besonders rein & pur. Darum baden Gläubige in dieser Zeit in heiligen Flüssen, doch auch Wasserfälle sind eine gute Idee.

Ist die Sonnenfinsternis vorbei, nimmt man erneut ein Bad. Dabei behält man die Kleidung an, welche man während der Finsternis getragen hat. Nach dieser Reinigung ist es angebracht, gemäß dem eigenen Einkommen an Bedürftige zu spenden, um die Freilassung von Sonne bzw. Mond zu feiern.

Um die persönliche, rituelle Reinheit zu wahren, ist es verboten, während der Finsternis etwas zu berühren wie Lebensmittel, Kleidung oder andere Gegenstände. Tut man dies dennoch versehentlich, müssen diese Objekte gewaschen oder mit Wasser beträufelt werden.

Betroffen ist man von diesen Regelungen allerdings nur, wenn man in einem Gebiet wohnt, welches in die Bahn der Finsternis fällt. Ein Hindu also, der außerhalb der morgigen Bahn liegt, muss diese Rituale nicht befolgen.
In Mumbai beginnt die Sonnenfinsternis 5:55Uhr und läuft bis 7:20Uhr. Die genaue Zeit des Grahans ist 6:22Uhr.

Verliebte Paare. Das ist ja eklig.

Indien macht echt Spaß und wie überall auf der Welt gibt es auch hier Personen, die eindeutig zu viel Zeit haben. Dreihundert von ihnen wohnen in I.C. Colony, unserem Stadtteil in Mumbai. Sie haben ihre Unterschrift für den Zweck gegeben, in I.C. Colony aufzuräumen. Den Abschaum zu beseitigen.

Der Abschaum – das sind

„junge Paare, Betrunkene und Drogenabhängige“

Zitat: Times of India

Erquickend, dass junge Paare im selben Satz mit Betrunkenen und Drogenabhängigen erwähnt werden. :yes: Ich habe zwar von letzteren hier noch nie welche gesehen, aber das liegt vermutlich daran, dass ich zu wenig Zeit habe.
Diese asozialen Elemente hängen jedenfalls allabendlich an der Bushaltestelle herum, die so ungünstig im Schatten der herrlichen Bäume verborgen liegt und geradezu dazu einlädt, dass sich junge Paare gegenseitig betatschen. Ein striktes No-No in Indien. Die Anwohner umliegender Hausgemeinschaften fühlen sich peinlich berührt und möchten nun, dass die Polizei aufräumt. Daher die Unterschriftenaktion.

Love Not

„Es ist beschämend, jungen Paaren mit ihrem notorischen Verhalten an der Bushaltestelle zu begegnen. Das ist hier zur Normalität geworden und sendet die falschen Signale an unsere Kinder, die durch solche Akte beeinflusst werden.“

Zitat: Vijay Sawant, Anwohner

Aha! 😳 Wie gesagt: Das ist ja voll eklig. U-(

Wessen westlich-verseuchter Gehirnbatzen nun meint, hier hingen Möpse und Pimmel in der dunklen Öffentlichkeit eines Bushäuschens an der frischen Luft, der irrt. Notorisches Verhalten junger Paare ist:
– Händchen halten
– umarmen
– womöglich noch Arme um die Hüfte/Taille legen

Mir wird schon vom Schreiben schlecht. Hat die Jugend denn gar keinen Respekt? Was soll aus den Kindern werden, deren unbedarfte Iris auf solche Obszönitäten fällt? |-|

Ewig währte der Kampf der Anwohner gegen die Ekelhaftigkeit in ihrem hübschen, grünen Stadtteil, doch nachdem die Unterschriften nun hochoffiziell bei Den Verantwortlichen abgegeben worden sind, verspricht die Polizei, die Gegend zu patrouillieren:

„Nachdem wir die Beschwerde erhalten hatten, begannen wir, hart durchzugreifen bei Paaren und Studenten, die in den Abendstunden in dieser Gegend frei herumlaufen. Wir gehen auch gegen Paare vor, die sich unanständig benehmen.“

Krishnaji Gaikwad, Senior Police Inspector

Gott sei Dank! Stellt euch nur vor: frei herumlaufende Jugendliche und Paare. Das hört sich doch verdächtig nach tollwütigen Hunden an, und denen möchte im Dunkeln schließlich auch niemand begegnen. 88|

Über die Drogenabhängigen und Besoffenen sagt der Polizist nichts.

Nun denn. Ich bin ja nur froh, dass jemand aufräumt in der Gesellschaft. :yes: Es wurde auch Zeit. Ständig wird man von freier Liebe belästigt. Der Anblick ineinander verknoteter Hände und die anhimmelnden LiebesBalzblicke junger Menschen verursachen dem gediegenen Geist schließlich Herzklopfen ganz anderer Art. Um nicht zu sagen Kammerflimmern!

Nicht so sicher bin ich mir hingegen, ob ich es jetzt noch wagen darf, mit Rahul abends mal einen Browny essen zu gehen. Das tun wir manchmal: Wenn kein anständiger schokoladenhaltiger Nachtisch im Haus ist, schlüpfen wir aus der Wohnung in die verträumte Dunkelheit der verschlungenen Pfade unserer I.C. Colony und laufen die 500m zum Brownygeschäft. Manchmal nimmt Rahul dabei meine Hand und ich glaube, wir lachen auch mal zusammen. Was nun, wenn in einem solch inopportunen Moment ein Polizist aus dem Gebüsch springt und „hart durchgreift“, weil unsere junge Vertrautheit die nächste Generation in moralische Bedrängnis bringen könnte? – – Nun ich glaube, bei mir purzeln in Zukunft die Pfunde! :))

Aus diesem netten Zeitungsartikel & dem noch netteren Blogbeitrag lernen wir wieder eine ganze Menge:
=> Erstens hatte ich doch Recht und schon breitet sich ein warmes, wohliges Gefühl in mir aus: Indien ist prüde. Es sind nicht nur opportunistische Politiker, die junge Paare zu Staatsfeinden erklären.
=> Zweitens: Christen verkörpern in Indien nicht den Fortschritt. Häufig falle ich dem Vorurteil anheim, Christen wären aufgeschlossener. Stimmt ja gar nicht. Schließlich ist I.C. Colony so eine Art christliches Bollwerk Nordmumbais.
=> Drittens: Offensichtlich passiert recht wenig in Mumbai, dass so eine Lapalie der Times of India drei Spalten und ein riesiges Foto wert sind.

Blogpause (Update)

Vorraussichtlich bis zum 6. Dezember herrscht hier erst einmal Sendepause, da es sich als so umständlich und deprimierend gestaltet, ein Blog vom Internetcafe aus zu führen.
Dabei gibt es so viel zu erzählen und so viele Fotos einzustellen…. von Octave 2008, dem kulturellen Austauschprogramm, welches am Wochenende stattfand und die Kultur, Tradition und Kunsthandwerk aus den nordostindischen Staaten vorstellt. Wir haben uns unter anderem das fantastische Tanzprogramm angeschaut. Rahuls Favorit war der Bihu-Tanz aus Assam (Videos auf YouTube), während ich die Trommler und Bambustaenzer (korrekte Namen sowie Fotos gibts spaeter) besonders mochte.

Desweiteren besuchen wir seit nunmehr zwei Wochen eine Hochzeit nach der anderen. Heute Abend gehts gleich weiter. Da darf ich meine in Mumbai so sträflich vernachlässigten Saris aus der Mottenkiste ziehen.
Zudem habe ich einen ganz feschen Sari von Satya Paul im Schaufenster entdeckt und ueberlege taeglich, mit welcher Begruendung ich ihn einfach kaufen kann.

Ausserdem liefen wir gestern auf einer Kunsthandwerksmesse in Bandra Amok. Tontoepfer aus Uttar Pradesh/Lucknow. Die herrliche Madhubani Malerei aus Bihar. Wunderschöne Armreifen besetzt mit Muschelhaut. Seidenteppiche aus Kaschmir (beinahe waeren wir schwach geworden). Kanthasaris. Herrliche Holzmöbel. Und und und.

Schließlich gabs noch den äußerst unterhaltsamen neuen Bollywoodstreifen Dostana und schon war das Wochenende um.

Ab den 6. Dezember widme ich mich dann der Frage, wie sich Deutschland nach 2,5 Jahren anfühlt. Ich bin schon gespannt auf meine eigene Reaktion.

(Alle oben angesprochenen Themen werden ihren eigenen Blogbeitrag bekommen, ganz besonders Octave und die Kunsthandwerke, denen ich mich im Blog bisher noch nicht gewidmet habe.)

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Update – Mumbai Terror Attack:

Es geht uns sowie unseren Freunden und Bekannten gut. Rahul verließ Südmumbai zwei Stunden vor den ersten Anschlägen, und auch ich war Stunden zuvor am CST, zum Zeitpunkt der Schießereien aber schon längst wieder zu Hause.
Wir hörten Mittwoch Abend zum ersten Mal von den Anschlaegen, und zwar zu einem Zeitpunkt, als sowohl Medien als auch Polizei noch von einem Bandenkrieg ausgingen. Dieser Eindruck änderte sich im Laufe des Abends, und wir hingen bis zum nächsten Morgen 4Uhr vor der Glotze, telefonierten mit unseren Kontakten von Nachrichtensendern, usw. Ein paar von Rahuls Kollegen sitzen seit Mittwoch im Office fest, welches sich direkt hinter dem Oberoi Hotel befindet. Sie sind sicher, können aber nicht raus. Wir hoffen, die Krise ist bald vorbei.