Indien: Gewalt gegen Frauen

Es geht einfach nicht mehr weg. Das Thema Vergewaltigung in Indien hält sich seit der grausigen Gruppenvergewaltigung in Delhi Ende letzten Jahres hartnäckig just an der Oberfläche der Dinge, die man mit Indien in Verbindung bringt. In einschlägigen Indienforen wird erbarmungslos darüber debattiert. Gibt es jetzt mehr Gewalt gegen Frauen oder wird nur mehr darüber berichtet? (letzteres) Fallen dieser Gewalt heuer mehr Ausländerinnen zum Opfer oder achten wir nur stärker darauf, weil die mediale Aufbereitung einschlägiger ist? (letzteres) Sollte man nun ganz besondere Vorsicht wallten lassen oder handelt es sich angesichts der schier unglaublichen Einwohnerzahl Indiens um bedauerliche Einzelfälle? (ersteres)

Ich glaube, ich habe zu diesem Thema in diesem Blog bereits viel geschrieben. Vielleicht sogar genug. Als ich aber gestern Abend ein wenig durch ein populäres Forum blätterte, stieß mir die Art und Weise der Klugscheißerei dort derartig auf den Magen, dass ich dem Drang, noch einen Text zur Frauengewalt in Indien zu schreiben einfach nicht widerstehen kann.

Inzwischen wohne ich nicht mehr in Indien. Und das ist gut so. Ich möchte da auch nicht mehr wohnen. Vor allen Dingen möchte ich nicht, dass meine Tochter dort aufwächst. Bei aller Liebe und Hingabe für ein Land, dass mir knapp zehn Jahre so viel gegeben hat, bin ich mir doch besonders nach der Rückkehr bewusst, wie viel Freiheit es mir genommen hat. Ich habe meine gesamten zwanziger Jahre in einem Land verbracht, in welchem ich die Rolle der Frau nur mit einem Wort betiteln möchte: Unterdrückung.

Seit ich wieder in Deutschland wohne, hat mich niemand mehr grob sexuell beleidigt, begrapscht, angebaggert oder mir nachgestellt. Ich habe das Gefühl, wieder als Mensch wahrgenommen zu werden. Ich benutze völlig ohne Angst öffentliche Verkehrsmittel und bewege mich auch nach Einbruch der Dunkelheit noch im Freien und ich gehe sogar in Gegenden, in denen ich noch nie zuvor war. Alleine. Ich schicke meine Tochter ohne Bedenken in die KiTa. Ich fühle mich frei. Ich fühle mich lebendig.

Ja was? War ich vorher etwa tot? Hat man mich in Indien geknebelt und unterjocht? – Nein. Das war ich natürlich selbst. Würde ich behaupten, die indische Gesellschaft hätte mir mit Gewalt Verhaltensweisen bzw. Verbote aufgezwungen, so wäre dies falsch. Vielmehr habe ich völlig freiwillig Regeln befolgt, von denen ich wusste bzw. von denen mich die Gesellschaft in Kenntnis setzte, dass man so-und-so von mir erwartete. Freiwillig. Ich habe mir selbst die Flügel gestutzt. Aus dem Bedürfnis nach Integration und aus dem Bedürfnis mich zu schützen.

Wie meine ich das?

In besagtem Forum las ich zwei Dinge, die mich zu gut Deutsch angekotzt haben.

Erstes Ding:
Es ging um die Schweizerin, die kürzlich beim Zelten auf dem Lande in Zentralindien von einer Gruppe Männer vergewaltigt wurde. Ihr Ehemann war anwesend, konnte sie aber nicht schützen. Die Reaktion der zertifizierten Indienprofis? Ja wie konnte sie nur so doof sein? In Indien zeltet man nicht, schon gar nicht in abgelegenen Gegenden.

Zweites Ding:
Eine selbstbewusste Frau fortgeschrittenen Alters, die seit über zehn Jahren in Nordindien sesshaft ist, brüskierte sich über die im Forum aufgelisteten „Vorsichtsmaßnahmen“ für Frauen auf dem Subkontinent, dass sie ein sehr schönes, angenehmes Leben in Indien führen würde, dass sie sich frei bewegen konnte und dass ihr noch nie etwas passiert war.

Für mich ist es problematisch, so etwas zu lesen. Ich möchte mal sagen, dass es dutzende, ja hunderte Frauen gibt, die in Indien gezeltet haben und unversehrt geblieben sind. Ich selbst habe sogar OHNE Zelt in der indischen Landschaft geschlafen. Jawohl. Unter freiem Himmel. Diese Nacht in der Wüste Rajasthans zählt zu den schönsten Erlebnissen in Indien, und ich habe darüber berichtet.
Wie konnte ich nur so doof sein? Wir waren zwei niederländische Mädchen, eine Deutsche, ein junger Inder, von dem jedermann anzweifelte, er sei mein Ehemann, und ein indischer Reiseführer. Was hätten wir getan, wenn eine Horde Männer mit Filzläusen über uns hergefallen wäre? Hätten wir lesen müssen, dass wir doof waren, dass man in Indien nicht zeltet und dass gleichzeitig Frollein XYZ in Gurgaon noch nie etwas passiert war und man doch mal halb lang machen soll?

– . – . – . – . – . –

Glücklicherweise werde ich die Antwort auf diese Frage nie erfahren.
Ich werde aber auch nicht mehr in Indien zelten. Man will sein Glück ja nicht herausfordern.

Fakt ist: Indien ist groß. Wenn man mit Zahlen spielt, erscheint die Belastung mit Gewaltverbrechen sehr gering, was unter anderem (aber nicht nur) etwas mit der geringen Rate offiziell angezeigter Verbrechen zu tun hat; mit dem geringen Vertrauen in die Polizei, die Justiz und den Staat; mit Konzepten von Ehre und Reinheit.
Fakt ist außerdem, dass Indien ein schönes, wenn auch anstrengendes Reiseland ist. Ich kann es kaum erwarten, zurück nach Indien zu reisen.
Fakt ist aber auch, dass ich nicht mehr dort leben möchte. Das ist mir zu anstrengend. Ich will frei sein. Ich will ein Mensch sein. Und als Frau bin ich in Indien kein Mensch. Ich bin eine Frau. Immer nur eine Frau.

Als ich in den ersten zwei, drei unbeschwerten Jahren durch Indien reiste und dort lebte, verstand ich das noch nicht. Mir war ja schließlich nie was passiert, gelle. Ich konnte tun und lassen, was ich wollte. In späteren Jahren habe ich oft diese Sorglosigkeit vermisst, aber niemals die Unschuld. Niemals die Einsicht. Gern wäre ich wieder so sorglos durch Indien getänzelt, aber meine strengen, hier im Blog oft diskutierten Regeln der Sittsamkeit waren mir zu wichtig: ich weiß, dass alles andere zu gefährlich ist. Man zeltet nicht in Indien. Man trägt auch keine Hotpants. Man lässt seine Brüste nicht aus dem TShirt purzeln. Man tut viele Dinge nicht, nicht als Frau. Man kann ungestraft davon kommen und dann zu Hause erzählen, wie schön es war und dass verklemmte Blogschreiberinnen ja lauter Mist erzählen und ihnen in Indien nichts passiert ist. Oder man wird beim Zelten von einer Horde Dörfler geschändet. Weiß ja vorher keiner.

Aber nachher. Nachher wissen es wieder alle.

Bild12Ältere Beiträge zum Thema:
Die Last, ein Mädchen zu sein

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Noch mehr Gedanken zum Frau-sein

Das Ungewollte Mädchen

Mumbai: Daniela lernt Denken

Service ist Böse

Vor einigen Tagen kursierte das Gerücht durch die indischen Zeitungen, ein Professor des berühmt-berüchtigten Institutes of Management der westindischen Stadt Ahmedabad hätte den Bringservice zu den Wohnheimen des Campus eingestellt. Das heißt, Pizza & Co werden nicht mehr ins Wohnheim geliefert.
Warum machen Professoren solche Sachen?

Die These des Professors war recht simpel: die Studenten würden verwöhnt. Sie würden ihre Hintern nicht mehr bewegen. Das wäre nicht gut für ihren Charakter. Es würde sie für die Zukunft ruinieren. Es würde sie weltentrücken.

Hm. Hmmm. Ich stimme zu, dass die Auswüchse des Service in Indien durchaus charakterliche Schwächen ausbauen können. Faulheit beispielsweise ist Nutznießer Nummer Eis dieser ganzen vermaledeiten Institution. Das liegt auf der Hand, und ich habe bereits davon erzählt, wie angenehm es ist, sich 22Uhr ne Flasche Cola an die Haustür liefern zu lassen.
Weil man Durst hat.
Weil man gerade zu ______ ist, selber aufzustehen.
Weil es möglich ist.

Das heißt nicht, dass ich den Gedankengängen des Professors folgen kann. Wieso würden die Studenten durch Lieferservice für die Zukunft ruiniert? Wieso würde es sie weltentrücken? Ist Service dieser Art nicht ein Grundpfeiler der indischen Gesellschaft? Wer trägt seine Taschen selbst? Wer lässt sich seine Lebensmittel et al nicht vor die Haustür liefern? Wer schnippt nicht mit dem Finger, um die Lästigkeiten des Alltags erledigen zu lassen?

Ich sage ja nicht, dass das richtig und gut und schön ist. Ich sage nur, dass die Gesellschaft großteilig so funktioniert. Service ist billig und allgegenwärtig, und es ist abstrus zu sagen, die Studenten, die sich ihre Pizzen vor die Tür liefern lassen haben, würden sich in der späteren indischen Realität nicht mehr zurechtfinden. Schließlich ist diese spätere indische Realität ihres Erwachsenenlebens genau dieselbe. Nur in den eigenen vier Wänden.

Komisch. Aber ein Beispiel für die Spannungen und gegenteiligen Bewegungen in Indien. Und kauzige Professoren. :))

Anatomie Eines Inders

Kürzlich stand ein sehr interessanter kleiner Text in Mint Lounge, einer sehr empfehlenswerten Publikation übrigens. Das Stück nennt sich Die Anatomie Eines Inders. Es handelt sich für meine Begriffe um eine recht rigorose Abrechnung mit dem Selbstbild, welches Inder oftmals mit sich herumtragen.

Ich stimme dem Autor Aakar Patel durchaus nicht in allen Punkten zu, zumal er selbstverständlich (und notwendigerweise) Verallgemeinerungen durchführt. Wie auch sonst? Dennoch möchte ich den Text mit euch teilen, denn hier spricht ein Inder über Inder – und er ist sehr kritisch mit seinen Landsleuten.
Verfasst ist das Ganze im Frage-Antwort-Format.
Sind Inder Patrioten?
Sind Inder Nationalisten?
Sind Inder Opportunisten?
Sind Inder regligiös?
Lernen Inder Moral?

etc pp

Die Antworten nach Meinung Aakar Patels gibts hier.

Mädchen

Mittwoch Morgen wachten wir zu dieser Überschrift in der Times of India auf:

„Elf Vergewaltigungen in drei Tagen.*“

*nicht in ganz Indien, sondern im Bundesstaat Uttar Pradesh

Gedenkpause.

Als Zusatz stand da noch:

„Normal, meint die Landesregierung.“

Normal nicht im Sinne von „das muss so sein“, sondern im Sinne von: „Das ist hier nun mal so“.
Natürlich sind beide Interpretationen völlig inakzeptabel. Und völlig real.

Diese Fälle stammen aus dem nordindischen Bundesstaat Uttar Pradesh und wurden inzwischen als perverse Form von Wahlkampf ausgelegt, wobei die Opposition in Form der Congresspartei angeblich diese Vergewaltigungen inszeniert, um einen Angriffspunkt in der Rüstung der amtierenden Regierung zu schaffen. Ich finde es empörend, wie die Authentizität des Verbrechens verwässert wird durch dieses politische Spiel. Die Invasion und Degradierung ihres Körpers durch eine unbefugte Person ist doch für das Opfer völlig losgelöst von solchen Nichtigkeiten wie Kausalität. Aber Hurra, die Wahlen stehen vor der Tür. Jedes Mittel ist recht.
Die Opfer?
Als sich ein 14jähriges Mädchen gegen eine Vergewaltigung wehrte, stachen ihr die beiden Angreifer die Augen aus.
Ein 9jähriges Mädchen wurde von zwei Jugendlichen vergewaltigt.
Eine Hausfrau wurde vergewaltigt und lebendig verbrannt.
Ein 13jähriges Mädchen, das seit drei Tagen vermisst wurde, wurde tot und vergewaltigt in einem Feld aufgefunden.
Eine 17jährige wurde von den Brüdern ihrer Freundin vergewaltigt und erhängte sich aus Scham darüber noch am selben Tag.
Und so weiter.
Und so fort.

Maedchen
Mädchen in Indien: Ist die Zukunft gewaltfrei?

Ich bin Mutter einer Tochter.

Gedenkpause.

Heute dann hatte ich eine erhellende Unterhaltung mit meiner Freundin S. (Warum auch immer die Namen fast aller meiner Freunde und Freundinnen mit S. anfangen, ist mir ein Rätsel!) Sie erklärte, dass ihre Tochter (16 Monate) gern zu jedem Danke sagte und einen Handkuss gab. Das war zwar niedlich, passte S. aber überhaupt nicht. Also brachte sie ihrer Tochter D. bei, nur zu Mama und Papa Danke zu sagen oder Handküsse zu blasen. Niemand sonst bekommt ein Danke. Was mit den ganzen Männern? Woher sollte sie denn wissen, welcher von denen ein Perverser sei? In einer Gesellschaft wie dieser? Besser etwas Unhöflichkeit und dafür sicher. Auch verbot sie das, was in Indien völlig normal ist: dass fremde Menschen dem eigenen Kind in die Wange kneifen, es anfassen, etc. pp. „Das ist mein Eigentum“, meinte sie entschuldigend. „Das darf niemand anfassen.“ Paranoid, ja, aber das Kind soll lernen, dass es nicht normal ist, von fremden Männern angefasst zu werden.

Man muss das alles in Relation setzen.
Alles.

Indiens Anti-Korruptionsbewegung

Ich möchte das Thema der Anti-Korruptions-Revolution in Indien etwas genauer beleuchten. Dazu hab ich mich mit jeder Menge Lesematerial eingedeckt und hoffe, dass ich trotz Presslufthammer genügend Konzentration besitzen werde, um wenigstens die Hälfte davon heute zu schaffen.

Bis dahin möchte ich einige Zitate aus dem aktuellen Outlook Magazin mit euch teilen. Wir erinnern uns: Die Inder fahren momentan auf dem „India Against Corruption“-Zug mit. Ausgelöst wurde dies von Anna Hazare, einem Aktivisten aus Maharasthra, und dessen Hungerstreik.
Ausführlich dazu in Teil 1 und 2.

Verschiedene Stimmen haben dazu ihre Meinung kundgetan. Hier ein paar davon:

„Korruption liegt uns im Blut. Sie stammt von unserem Gefühl der Ungewissheit. Wir schmieren nicht nur für Gefälligkeiten, sondern auch, um uns sicher zu fühlen.“
Kushwant Singh, Autor

„Gier ist das Credo Indiens. Niemand steht darüber, eine Abkürzung zu nehmen. Alles hat seinen Preis: von Geburt bis zum Tod.“
Inder Malhotra, Politischer Autor

„Warum können die Korrupten keine Anti-Korruptions-Brigade führen? Du brauchst keine Moral, um zu erkennen, was unmoralisch ist.“
Ashis Nandy, Soziologe
Kürzlich war der Premier Indiens Dr. Manmohan Singh in zynische Kritik geraten, da der Mann, den er als Leiter eines Antikorruptionsausschusses ernannt hatte, schlussendlich selbst der Korruption angeklagt wurde.

„Anil Ambani’s Korruption ist weniger sichtbar als die eines Politikers auf Grund des Schweigens der Medien.“
Yogendra Yadav, Politischer Analytiker
Anil Ambani ist CEO der Reliance ADA Group (dem größten privaten Unternehmen Indiens). Die Geschichte des Aufstiegs seines Vaters kann nachgelesen werden in „The Polyester Prince. The Rise of Dhirubhai Ambani“. Das Buch ist in Indien verboten. :))

„Menschen in tiefer Verzweiflung erfinden erst ihre Dämonen, A. Raja oder Kalmadi. Dann erfinden sie ihren Gott, Anna Hazare.“
Yogendra Yadav
Früherer Telekomminister A. Raja und Vorsitzender des CWG Organisationskomitees Kalmadi sind beide Hauptverantwortliche/Sündenböcke in zwei der größeren Korruptionsskandale der jüngsten Geschichte, nämlich dem 2G-Spektrum Skandal und dem Skandal um die Commonwealthspiele 2010 in Delhi respektive.
Anna Hazare ist das neue Popgesicht des Kampfes gegen Korruption.

„Demonstrationen sollten ausschließlich genutzt werden, um soziale Probleme zu lösen. Die Beseitigung von Korruption bedarf eines Sinneswandels.“
Dr. Aroon Tikekar, Präsident der Asiatic Society

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Diese Zitate sprechen mir aus dem Herzen. Ich finde sie sehr treffend, gehöre ich doch nicht zu den euphorischen „Slacktivisten“ der derzeitigen „Revolution“. Ich frage mich aber, während ich das tippe, wie aufschlussreich diese Zitate für Außenseiter sind? Wie nachvollziehbar die Irrelevanz der derzeitigen Geschehnisse im Bereich „Revolution“ für europäische Beobachter ist? Ich hoffe, ich werde mit einem ausführlichen Bericht etwas Licht ins Dunkel werfen können.
Weitere Erklärungen zu den Zitaten füge ich auf Nachfrage gern bei. :yes:

Selbstmord.

Selbstmord ist in Indien mit über 100.000 Fällen pro Jahr nicht nur ein riesiges Problem, sondern auch ein Verbrechen. Wer einen Selbstmordversuch überlebt, kann verhaftet und bestraft werden. Wer einen Selbstmord unterstütz oder anstiftet, kann ebenfalls verhaftet werden.

Letzte Woche sprang die junge Lehrerin Nidhi in Mumbai vom Dach ihres 19-stöckigen Wohnhauses, aber nicht ohne vorher ihre zwei Kinder (3 und 6 Jahre) vom Dach zu werfen.

Ich möchte nichts über Selbstmord per se sagen. Warum die Rate in Indien seit den 80er Jahren um über 60% angestiegen ist. Warum so viele Hausfrauen und Kinder unter den Opfern sind. Oder weswegen Südindien als die Selbstmordhauptstadt der Welt bezeichnet wird. – Ich habe ein anderes Anliegen. Ich kann nämlich nicht fassen, dass „Anstiftung“ zum Selbstmord ein Verbrechen sein soll.

Nehmen wir doch mal Nidhi Gupta. Sie lebte in einer Großfamilie mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern, ihrem Schwager und dessen Frau sowie ihren Schwiegereltern.
Wenn Selbstmord ein Verbrechen ist, dann wird ein solcher Fall in Indien ganz anders gehandhabt als zum Beispiel in Deutschland. Selbstverständlich möchte man herausfinden, was wohl der/die Auslöser gewesen sein mögen? Doch diese Information hinsichtlich des Grundes für den Selbstmord dient lediglich dem Zweck, einen Schuldigen dingfest zu machen. Und hier kommt das sog. Anstiften ins Spiel.

Nidhi meinte in ihrer letzten Nachricht, niemand trage die Verantwortung für ihren Schritt. Ihr Vater jedoch hat inzwischen mit dem Finger auf Nidhis angeheiratete Familie gezeigt: sie sei psychisch gequält worden. Diese Anschuldigung hat schreckliche Folgen für die Familie Gupta: Der Ehemann sowie die Schwägerin wurde inzwischen verhaftet und sitzen bis zum 21. März in U-Haft, während Schwiegermutter und -vater gegen Rs.50.000 Kaution freigelassen worden sind.

Mich regt das tierisch auf.
Vielleicht stimmt es, dass Nidhi gequält worden ist. Doch das sagte sie in ihrer letzten Nachricht nicht. Sie hat niemanden beschuldigt. Sie hätte Gott und die Welt beschuldigen können, da sie schließlich von dieser Nachricht keinerlei Konsequenzen zu befürchten hatte. Sie ist ja immerhin tot. Stattdessen sprach sie alle frei.

Mutmaßen kann man viel. Doch das Opfer ist tot. Sie kann nichts mehr dazu sagen, und sie hat auch zuvor nichts dazu gesagt. Darum werden die Anschuldigungen auch in Zukunft Mutmaßungen bleiben.

Wie wurde Nidhi gequält?
Welche Argumente hat die Polizei bisher genannt?

„Nidhi’s suicide note says that she did not hold anyone responsible, but it needs to be investigated in detail. The fact that she first threw her children and then jumped off shows the extent of the harassment she was subjected to.“

(Nidhis Selbstmordnachricht sagt, dass sie niemanden für ihren Schritt verantwortlich macht, aber das muss detailliert untersucht werden. Die Tatsache, dass sie erst ihre Kinder vom Dach warf und dann selbst hinterher sprang, zeigt das Ausmaß der Schikane, welcher sie ausgesetzt war.)

Dieses sog. Argument ist ein Beispiel dafür, wie man ein Pferd von hinten aufzäumt. Wenn jemand Selbstmord begeht, ist das nicht zwangsläufig ein Beweis für Schikane, sondern zwingend ein Beweis für psychische Probleme.

„Nidhi felt that her in-laws were not paying adequate attention to her kids. So she never left her kids alone.“
„She had been putting up with the harassment for the last nine years. Her husband had many vices. She had hoped that Pawan would change for the better after the birth of their kids, but her wishes were never fulfilled.“

(Nidhi fand, dass ihre Schwiegereltern ihren Kindern keine angemessene Aufmerksamkeit schenkten. Also ließ sie ihre Kinder nie allein.
Sie hat neun Jahre lang mit diesen Schikanen gelebt. Ihr Ehemann hat viele schlechte Angewohnheiten. Sie hatte gehofft Pawan [ihr Ehemann] würde sich nach der Geburt der Kinder zum Besseren ändern, aber ihre Wünsche wurden nie erfüllt.“)

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Solche Lappalien laufen unter „Anstiftung“ zum Selbstmord. Für solchen Mumpitz kann man seine Karriere, seinen Ruf, sein Leben ruiniert haben.

Was ist denn beispielsweise „angemessene“ Aufmerksamkeit?
Und welche „diese Schikanen“ meint die Polizei?
Gibt es Menschen ohne schlechte Angewohnheiten?
Du kannst Menschen wegen solchem Humbug einen Strick drehen. Und – was noch erschreckender ist – Du selbst könntest morgen hinter Gittern landen, weil irgendwer keinen Ausweg sah und in Indien notwendigerweise jemand dafür den Kopf herhalten muss.

Kann das sein?

Ist das ok?

Inzwischen gibt es ein Meer aus Kerzen für Nidhi. Nidhi, das Opfer. Dass sie eine Doppelmörderin ist, die ihre beiden Kinder kaltblütig ermordet hat, interessiert kein Schwein. Dafür muss niemand gerade stehen. Dass Nidhi vom Dach sprang – ganz allein, ohne geschubst zu werden, und aus freiem Willen – dafür muss jemand gerade stehen.

Unglaublich. :no:

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Rahul übrigens, den dieser Fall schrecklich wütend macht, meinte trocken, die Polizei sei wohl so hinter dem Fall her, damit die Familie in die Enge getrieben werden kann, von wo aus sie dann eine Summe an Bakshish zahlen wird, damit man sie in Ruhe lässt. Man kann nur hoffen, der Betrag ist dann auch angemessen.

Noch ein paar Gedanken zum Thema Frau-sein in Indien

Gestern hab ich jede Menge dazu gesagt, wie man als Frau in Indien hinsichtlich seiner Moral bewertet wird, und dass herabwürdigende Meinungen die Norm anstatt die Ausnahme sind.
Heute möchte ich noch ein paar Gedanken hintenan hängen: Allen voran die Frage, warum man sich überhaupt von solcherlei Realitäten belästigen lässt, wenn man, wie ich das beschrieben habe, glücklicherweise zu denjenigen gehört, die es sich gesellschaftlich eigentlich leisten können, auf stur zu schalten.

Ich tue das absichtlich und bewusst nicht. Warum?

Es liegt auf der Hand, dass man als Teil einer indischen Familie und als festes Mitglied der Gesellschaft natürlich einen Gewissen Grad der Anpassung vorzeigen muss. Das versteht sich von selbst.

Es versteht sich auch von selbst, dass man auf sich aufpasst, damit man in keine mehr oder minder große Fettnäpfe tritt. Beim Kiranawallah um die Ecke Zigaretten gekauft? Den Fehler beging ich nur einmal zweimal, und das vor vielen Jahren. Am nächsten Tag hatte ich einen jungen Mann vor der Tür stehen, der meine Dienste in Anspruch nehmen wollte. Wir erinnern uns: Zigaretten – Schlampe. Es war Abend, es war dunkel, ich war allein zu Hause. Zu sagen, diese Situation wäre mir unangenehm gewesen, ist eine leichte Untertreibung.

Wir zogen um in ein Condominium mit Wachposten: da kann keiner einfach so vor deiner Tür stehen. Und nachdem wir über ein Jahr Stammkunden bei einem Kiranawallah gewesen waren, beging ich den Zigarettenfehler erneut. Diese Verkäufer (wie immer alles Männer) kannten mich. Die kannten auch meinen Mann. Aber dieser Gesichtsausdruck, als ich ne Packung Kippen verlangte, wird mir warnend in Erinnerung bleiben.

Das läuft in Indien so: wenn du fester Teil einer Gemeinschaft bist, fungiert das in zweierlei Richtungen. Du befolgst die Regeln der Gemeinschaft, und als Gegenzug schützt dich die Gemeinschaft. Bin ich also gerade beim Kiranawallah und kaufe ein und es kommt ein „Außenseiter“ und macht mich an, dann wird in diesem Falle der Kiranawallah zu meiner Hilfe eilen. Grundsätzlich funktionieren alle Gesellschaften so, aber in Indien mit seiner Hau-drauf-Mentalität und der prekären Situation als Frau finde ich es viel wichtiger als zum Beispiel in Deutschland, mich als angesehenes Mitglied der Gemeinschaft zu etablieren.

Das ist ein großer Grund für mich, mir keine Freiheiten herauszunehmen, die ich mir eigentlich leisten könnte. Aber es gibt noch einen Grund, und zwar einen, der in die Kategorie fällt: mein Beitrag für eine Bessere Welt.

Vorurteile sind hartnäckig. Sie sind zähe Biester. Nicht nur nimmt man Information, die das vorhandene Vorurteil unterstützt, schneller und intensiver wahr, sondern diese Information speichert man auch deutlicher und ruft sie schneller wieder ab als solche Info, die das Vorurteil in die Enge treiben könnten.

Weiße Frauen sind leichte Mädchen.

Es liegt in meinem persönlichen Interesse, dieses gängige Vorurteil zu zerschlagen. Das geht schlecht, wenn ich es unterstreiche. In Indien gibt es in den Köpfen der Menschen immer noch sehr starke Assoziationen zwischen Kleidung und Moral, und da ich das weiß, werde ich mich auch unter Einschränkung meiner Freiheit anpassen. Es wäre schön, wenn auch Touristinnen dies tun würden und ihre Möpse und Arschbacken besser verpacken würden, aber die meisten betrachten diese Thematik von einem egoistischen Standpunkt aus: mir wird schon nichs passieren.
Das ist zwar schön für die Dame, deren Unterwäsche hervorblickt, aber mit jedem Schritt zementiert sie das Vorurteil ein, und wenn sie nicht dafür zahlt, dann eben jemand anderes.

*

Natürlich wäre es schön, wenn sich die Dinge in Indien ändern. Es wäre schön, wenn man als Frau weniger verdinglicht wäre, als das der Fall ist.
Es ist aber nicht der Fall.
Und so lange das so ist, trage ich viel mehr zu einer besseren Zukunft bei, wenn ich dem Vorurteil des Leichten Mädchens entgegentrete, als dass ich es untermauere. Nur wenn ich die niederen Instinkte der Gaffer nicht mehr befriedige, kann sich etwas ändern.

Es ist mir völlig klar, dass ich damit nicht im Alleingang die Moral des Landes verbessere. Ehrlich gesagt sehe ich das aber auch nicht als meine Aufgabe. Indien gehört den Indern, und mit Rechten kommen Pflichten. Das ist für mich glasklar.
Für mich verhält sich das wie mit dem Plastikbecher, den ich in den Straßengraben werfe. Dort wars vorher schon dreckig, aber jetzt ist es um einen Plastikbecher schlimmer.
Und das ist schlimm.

Und warum regt es mich auf, was andere über mich denken?

Na ja, das ist ein Streitpunkt. Ich könnte sie ja ignorieren. „Lass die Leute reden und hör ihnen nicht zu…“
Aber es ist ja keine Lappalie. Wir reden nicht darüber, dass sich mein Nachbar über meine lila Hose scheckig lacht. Es geht hier um ein echtes Problem: Frauen sind eindeutig Menschen zweiter Klasse in diesem Land. Es ist wichtig, was die Leute/Männer denken. Im Kopf geht das alles los, und im Kopf muss sich zuerst was ändern.

Und nicht zuletzt ärgere ich mich natürlich darüber. Das ist auch wichtig. Wenn ich mich daran gewöhne, wenn es mich nicht jeden einzelnen Tag wurmt, wenn es mich nicht rasend macht: bin ich dann kein stillschweigender Komplize? Mach ich dann nicht indirekt mit?
Ein stilles Opfer ist ein nutzloses Opfer.

Jetzt müssen Inder nur noch die Zusammenhänge erkennen.

Und bis es so weit ist, mach ich weiter, wie bisher. :yes:

Gedanken zum Frau-sein in Indien

Gestern habe ich mir erlaubt, vier gegensätzliche Häppchen zum Thema „Frau“ zu präsentieren. Sie stammten alle aus derselben Quelle und waren nicht älter als eine Woche. Und heute möchte ich mir anlässlich des Frauentags ein paar Gedanken dazu machen.

In Indien ist man immer an erster Stelle männlich oder weiblich, und erst dann folgen die verschiedenen anderen Identitäten. Man ist sich seines Geschlechts jeden Tag sehr stark bewusst. Das liegt m.E. daran, dass sich der Verhaltenskodex für Männer und Frauen in Indien so drastisch unterscheidet. Das Verhalten der Frau unterliegt ständiger Kontrolle, und alles, was sie tut, reflektiert auf ihren Charakter und ihre Moral.
Hat sie männliche Freunde, ist sie freizügig.
Trinkt sie in der Öffentlichkeit Alkohol, hat sie keinen Anstand.
Raucht sie, kommt sie aus einer verlotterten Familie.
Trägt sie kurze Röcke, ist sie ein Flittchen.
Hat sie einen festen Freund, ist es schlimm um sie bestellt.
Geht sie abends tanzen, ist sie kaum mehr zu retten.
Heiratet sie gegen den Willen ihrer Eltern, hat sie keinen Respekt.

So einige meiner früheren Kommilitonen rauchen, trinken, hatten Freunde, bevor sie diese geheiratet hatten, zählen Männer zu ihren Freunden und lassen sich auch in der Öffentlichkeit von Facebook in Hot Pants ablichten. Das sind keine Dinge, die Indien ihnen erlaubt, weil Indien moderner wird. Es sind Dinge, die ihre Familie ihnen erlaubt, weil ihre Familie modern ist. Das ist was ganz anderes.
Die Mehrheit der Gesellschaft wird dafür wenig Verständnis haben.

Es gibt solche progressiven Inder, und obwohl sie anhand alter Maßstäbe bewertet werden, kümmern sie sich nicht darum. Das müssen sie auch nicht, weil sie nicht Teil des großen Indiens sind. Sie können es sich leisten, non-konform zu sein.
Selbiges gilt nicht für die Mehrheit.
Und es gilt auch nicht für diese progressiven Inder, wenn sie sich unglücklicherweise in einer Situation befinden, in der ihre Klasse sie nicht mehr beschützen kann.

Indien ist konservativ. Als Frau gilt es, seine Scham zu schützen. Was zählt ist nicht, wer du bist, was du tust, oder was du denkst, sondern wie der Rest der Welt dich sieht. Sieht er dich spät nachts in Begleitung von Männern aus einem Hotel kommen, dann kann es sein, dass falsche Schlüsse gezogen werden. Gibt man dann lediglich seinen leicht zerknitterten Parkschein ans Personal und lässt sich seinen Benz aus der Tiefgarage holen, ist das natürlich kein Problem. Gedenkt man aber noch ein Stück spazieren zu gehen, und ist just in dem Moment ein Mob zugegen, dann kann das durchaus zum Problem werden. Der Fall, als zwei solcher junger Frauen beim Verlassen eines Hotels von einem angetrunkenen Mob misshandelt wurden, ist in Mumbai bekannt.

Es passiert ständig. Ein Polizist vergewaltigt eine junge Frau. Warum? Nun, die Dame hat einen Freund. Also hat sie Lust auf Sex. Was macht das für einen Unterschied, ob ihr Freund es ihr besorgt oder der Polizist? Ebenfalls traurige Berühmtheit erlangt haben Fälle, in denen die Polizei schmusende Pärchen von bekannten Schmuseorten aufsammelt, zum Beispiel Bandstand in Bandra. Das Paar wird mit aufs Revier genommen: der Mann verprügelt. Mit der Frau macht man, wozu eine solche Frau eben gut ist.

Man mag darüber empört und ungläubig den Kopf schütteln. Woran mags liegen? An mangelnder Sexualkunde? An fortwährender Geschlechtertrennung? An unterdrückter Sexualität? An archaischen Moralvorstellungen? Am „Wert“ der Frauen in Indien? An der Religion?

Während eine Gruppe Frauen nach oben strömt, sich ihre Männer selber aussucht, Kinder später bekommt, Karriere macht und abends tanzen geht, geht es für die meisten Frauen einfach so weiter wie zuvor.
Und während das passiert, strömen immer mehr Bilder und Stimmungen aus dem Glorreichen Westen nach Indien, die zusammenhangslos interpretiert werden. Immer mehr Haut glitzert auf den überdimensionalen Werbetafeln. Das alles sind nur Dinge. Mit der Wertvorstellung passiert rein gar nichts. Zumindest nicht mit der Wertvorstellung der Männer.

Ich hatte schon ein paar heiße Diskussionen zu diesem Thema in diesem Blog. Da wollten mir Leute erzählen, dass Indien moderner wird, dass man jetzt Hand-in-Hand gehen kann oder sich in der Öffentlichkeit küssen kann. Dass man kurze Röcke tragen kann. „Also ich hab ständig Inderinnen in kurzen Röcken gesehen.“ Solcher Mumpitz.
Für mich ist die relevante Frage doch die: Kann ich Bentley in der Öffentlichkeit küssen und umarmen und einen kurzen Rock tragen, ohne dass man mich für eine Schlampe hält? Nein, kann ich nicht.

Nein. Kann. Ich. Nicht.

Mich hat noch keiner in den Busch gezerrt. Mich hat man schon Nutte genannt, mich gefragt, was ich koste oder ob ich mal für eine halbe Stunde mitkomme. Arschlöcher gibts überall. Das war toll. Aber wichtig für mich ist folgendes: fühle ich mich wohl, wenn ich mit Bentley im Touristenbusch wie Jaisalmer in ein Hotel einchecke? Fühle ich mich wohl, wenn ich weiß, dass mir zwar rein gar nichts passieren und ich den Urlaub dort sicher überstehen werde, dass man sich aber über mich das Maul zerreißt? Dass man sich vorstellt, wie es wohl wäre… Dass man sich fragt, wie viel Bentley für mich zahlt? Macht mir das Spaß?

Macht es mir Spaß, wenn man mich im Geschäft ignoriert, weil ich eine Frau bin und keine Ahnung habe?
Macht es mir Spaß, wenn ich für Bentley mal was neckisches kaufen möchte und mich gleich drei männliche Verkäufer umgarnen mit Sabber in der Fresse?

Es macht mir gar keinen Spaß.

Fakt ist: du kannst in Indien so ziemlich alles tun, was du willst. Aber es macht nicht wirklich immer Spaß.

Ich bin auch ziemlich paranoid geworden, was meinen Beziehungsstatus zu Bentley anbelangt. Ich trage immer, immer mein Mangalsutra. Sollen alle wissen, dass ich keinen Stundenlohn von ihm bekomme! Und oft schleppe ich Roma als Alibi mit, obwohl ich sie abgeben könnte. Sollen alle sehen, dass ich ein Baby hab. Ich bin rein. Ich bin eine Mutter. Ich falle darum in Indien in eine geheiligte Kategorie. Ohne Witz: darüber gibts Studien. Sudhir Kakar schreibt, das Image der Frau ist in Indien zweigeteilt: die Hure und die Mutter. Dürft ihr drei Mal raten, in welche Kategorie ich gern falle.

Meine Moral wird regelmäßig überprüft. Mein Wert als Person ist davon abhängig, wie ich mich verhalte. Natürlich kann ich auch die Sau rauslassen, und wenn ich das an einem Ort wie dem Hyatt in Goa tue, wo ich mich im Bikini am Pool bewege und mir abends mit Bentley in der Bar einen hinter die Binde kippe oder in voller Sicht knuddel, dann ist das ok und sicher für mich. Was schere ich mich um deren Wertvorstellung? Die sagen trotzdem alle ganz nette Höflichkeitsfloskeln zu mir und bedienen mich.

Aber was sie denken, das steht auf einem ganz anderen Blatt.

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Dieser Artikel ist keine soziologische Studie. Er reflektiert lediglich meine Sicht der Dinge und beinhaltet meine persönliche Meinung.

Vorurteile und Klischees

Wer kennt es nicht: das Klischee vom freundlichen, aufgeschlossenen, kontaktfreudigen Inder? Heißt es nicht ständig „Come over to my house some time“? Wird man nicht regelmäßig auf der Straße von wildfremden Leuten angesprochen?

Hm, sag ich da jetzt mal. Einfach nur: Hm!

Seit gefühlten Jahrzehnten stapfe ich allabendlich resolut in den Park. Nicht weils dort so schön ist. Nicht weil mir das Spaß macht. Sondern weil ich auf der Suche nach Spielmöglichkeiten und Krabbelkontakten für Roma bin. Es ist ja nicht so, als gebe es hier Mutter-Kind-Treffen, Kindergärten oder andere Aktivitäten für 15 Monate alte Kleinkinder. Nicht wo ich wohne. :no:

Ich ging davon aus, dass es mich maximal eine Woche kosten würde, eine Gruppe von 3-4 jungen Müttern zusammenzubringen, mit denen ich mich dann regelmäßig auch mal am Nachmittag treffen könnte. Die Kinder spielen. Die Mamas trinken Kaffee. Oder Chai, HerrGottnochmal! So dachte ich mir das. Man bemerke meinen auch nach knapp einer Dekade in Indien noch nicht ausgemerzten Optimismus. Realisten würden dazu Naivität sagen. Zyniker würden vermutlich aus der psychopathologischen Fachsprache borgen. ;D Aber egal: ich habe ein Ziel. Ich werde mir eine eigene Mutter-Kind-Gruppe basteln. HarrHarr!

Nun denn. Gleich am ersten Tag der Volltreffer: ich traf eine junge Mutter, deren Sohn in Romas Alter war. Sie waren sich grün. Und – Superzahl im Lotto – ich mochte die junge Frau. Unterhaltung floss ergiebiger als Schwarzgeld im indischen Bausektor. Das lief alles so ausgesprochen prima, dass die Realität uns früher oder später einholen musste. Zwangsweise. Die Dame wohnte nicht in Mumbai. Sie war nur zu Besuch.

Toll.

Macht nichts, beschloss ich. Und ging weiterhin zielstrebig zum Park, um mich auf nichts ahnende Mütter zu stürzen. Problem: Es gibt gar keine jungen Mütter hier, die man ansprechen könnte. Viele der Kinder werden von den Maids in den Park gebracht, weil die Eltern arbeiten. Oder von den Omas. Findet man eine junge Mutter, hängt sie zumeist die gaaaaaanze Zeit am Handy. Oder tituliert ihren Sohn als Idioten. Oder rügt ihre Tochter dafür, mit dem „very small baby“ gespielt zu haben. Ich rang mit mir, die Dame darauf hinzuweisen, dass das winzige Baby kaum durch den Kontakt mit einer Dreijährigen ins Siechtum abgleiten würde, aber da war diese Stimme in meinem Ohr: bei der Hackfresse, die die Dame zieht, gerinnt dir ja die Milch im Chai. Lass sie ziehen. Friede sei mit ihr. |-|

Wo, frage ich mich mittlerweile etwas gereizt, sind denn die jungen Mütter? Die aufgeschlossenen, kontaktfreudigen, jungen Mütter? :??:

Natürlich treffe ich auch ganz Liebe. Eine wohnt im Haus gegenüber. Doch zu regelmäßigen Treffen wird es wohl nur durch übernatürliche Zufälle kommen, denn ihr Kind schläft, wenn Roma wach ist, und umgedreht. Dazu muss man wissen, das Inder eine Aversion gegen geregelte Schlafenszeiten zu haben scheinen. Viele Babies werden bis spät in die Nacht wach gehalten, weil man halt selber so lange wach ist, und schlafen dafür in den Vormittag hinein. Besagtes Baby ist nachts bis 1Uhr wach und schläft natürlich, wenn Roma wach ist.

Bausteine

Was machen die ganzen Kleinkinder den lieben langen Tag eigentlich? Abends gehts mal kurz für zwanzig Minuten in den Park, während Mama/Oma/Maid mit säuerlichem Gesichtsausdruck in die Leere der urbanen Welt starrt oder sich mit der neumodischen Entschuldigung für solches Verhalten befasst: dem Handy.
Und den Rest des Tages? Laut Hörensagen gar nichts.
Treffen die keine anderen Kinder? Doch, doch, wir gehen ab und zu mal zu ihrem Cousin rüber.
Und sonst? Nüschd.

Toll.

Ich beginne mich darüber zu ärgern. Wir haben in Mumbai nun mal keine Familie mit Kindern. Da gibst keinen Cousin, zu dem man rübergehen könnte. Da gibts nur nachtaktive Babies. Oder Megan im dritten Stock. Ach, Megan, Megan, es könnte so einfach sein. Stattdessen ist es eine Tragödie! Megan wird tagsüber von ihren Großeltern betreut, und ich kann mich durchaus damit arrangieren, eine Stunde lang das Röhren von GodTV im Hintergrund zu ignorieren (ich schwörs!). Ich trinke auch noch mal das eklige Brausezeug. Und ich bemühe mich auch eine Stunde lang zähe Konversation auf Halb-Englisch zu machen. Alles würde ich für Roma tun, aber Roma kann Megan nicht ausstehen. Sie will nicht mit ihr spielen. 😐

Es ist unglaublich, wie schwer es ist, hier in der städtischen Pampa in Kontakt mit jungen Müttern von Kleinkindern zu treten. Niemand, der von der Kinderliebe, der Kontaktfreude, der Aufgeschlossenheit der Inder gehört hat, wird mir das glauben. Und bei der Bevölkerungsdichte und Gebärfreudigkeit müsste man doch endlich mal einen Glückstreffer haben, oder etwa nicht?

Gestern war es wieder so weit: ganz nette Frau. Ganz lieber Junge. Perfekte Alterskombination. Aber einmal mehr schlug das grausame Schicksal zu: die Dame war auf Urlaub hier. Von Nairobi. Na da komm ich in naher Zukunft nicht hin, sorry.

Wo ist das Smiley, das sich die Haare ausreißt?

Historiker. Zensur. Mobgewalt. – Das schwer nachvollziehbare Indien.

Indien kehrt gerade wieder seine komplexe, schwer zu verstehende Seite nach außen. Es geht um das Verbot des Buches „Shivaji – Hindu King in Islamic India“ von James Laine. Dieses Buch wurde kurz nach seinem Erscheinen im Sommer 2003 verboten und verschwand vom indischen Markt. Passagen in diesem historischen Wälzwerk hatten Leser, vor allen Dingen aber andere Historiker und – aus Kalkül oder Prinzip – auch Politiker verärgert.

Woran lag das?
Schon allein der Titel des Buches stellte ein Problem dar. Das mehrheitlich Hindu-Indien kann auf gar keinen Fall jemals islamisch gewesen sein, selbst wenn es islamische Herrscher gehabt hat. Und als König kann Shivaji auch niemals ein Hindu gewesen sein. Höchstens als Person. Als König war er säkular.
Wichtiger allerdings war das letzte Kapitel des Buches, in dem sich Autor Laine „undenkbaren“ Fragen widmet. Wie könnte die Legende um Shivaji anders gedeutet werden? Gibt es alternative Interpretationen der Geschichte? Hätte er ein unglückliches Familienleben führen können? Hätte er eventuell überhaupt nicht an der damals gängigen Bhakti Bewegung interessiert sein können? Hätte er ein Harem haben können? Hätte es sein können, dass es schlichtweg in seinem Interesse gewesen war, ein Königreich zu basteln, anstatt eine Nation zu befreien? So lauten die Fragen des Autors. Bewusst provokativ. „Undenkbar“, eben.

Selbstverständlich, und das hätte Laine wissen müssen, gibt es keine alternative Interpretation der Geschichte. Es gibt nur eine Wahrheit.

November 2003

Der Verleger Oxford University Press zieht das Buch freiwillig vom Markt zurück. Noch gibt es dazu keinen wirklich bindenden Anlass, doch vermutlich hatte man gehofft, die Kontroverse so im Keim zu ersticken. Wunschdenken im indischen Kontext.

Gemäß hiesiger Logik kam es nach der Rücknahme des Buches (als es also niemand mehr kaufen und lesen konnte) zu Angriffen auf zum Beispiel das Institut, welches Laine während seiner Zettel- und Faktenwühlerei unterstützt hat.
Nachdem das Buch überhaupt nicht mehr im Binnenmarkt erhältlich war, wurde es verboten. Sowohl Laine als auch der Verlag wurden gemäß Paragraphen 153 und 153A zur Anzeige gebracht.
§153: Wantonly giving provocation with intent to cause riot.
§153A: Promoting enmity between different groups on grounds of religion, race, place of birth, residence, language, etc., and doing acts prejudicial to maintenance of harmony

So richtig bizarr wird es, wenn man bedenkt, dass das Buch im Sommer 2003 zunächst mittelprächtig anlief und gar einige positive Rezensionen in der indischen Presse erhielt. Stand in den Regalen neben Hillary Clintons neuem Wälzer, wurde gekauft, gelesen und weggeräumt. Es dauerte eine ganze Weile, bis jemandem auffiel, dass der nationale Held Shivaji darin absichtlich in die Gosse gezogen wurde.

Juli 2010

Der Supreme Court Indiens hat das Verbot des Buches jüngst wieder aufgehoben, doch der beleidigte Staat Maharashtra weigert sich, das Buch wieder zuzulassen. In anderen, erschütternderen Worten: Die Exekutive hat einfach keinen Bock auf die Anweisung der Judikative. Weil das Buch doof ist und damit Basta!
Um sich in Zukunft nicht mehr von den wirren Herren in ihren Roben reinschnattern lassen zu müssen, erwog Maharashtra in Folge der ollen Panne gar, ein nagelneues Gesetz einzuführen. Zum Schutze ehrwürdiger Personen, deren Ansehen nicht beschmutzt werden darf. „Anti-Defamation Law“ nennt sich dieser Geistesblitz, und ob es je dazu kommen wird, beobachten wir weiterhin.

Doch die eigentliche Frage bleibt doch bestehen. Warum gibt es Figuren, die so „ikonisch“ sind (dieses Wort wird im geplanten Gesetz benützt), dass ich nichts über sie sagen/schreiben darf, das anstößig sein könnte. Wer sind diese Ikonen? Was macht sie so unantastbar? Was ist anstößig? Und wer entscheidet das überhaupt?

Es ist durchaus beängstigend, wenn man bedenkt, dass nicht einmal leichteste Kritik an einem Herrn Shivaji geäußert werden darf. Was würde mit mir passieren, wenn ich einen lustigen (oder auch nicht lustigen) Cartoon über Shivaji zeichne? Oder wenn ich mir einen anderen Nationalhelden vornehme? Vermutlich wäre es reiner Selbstmord (in Indien strafbar!), wenn ich Gandhi mit einer Schüssel Hühnersuppe skizzieren würde. Mit solchen großen Namen ist nicht zu spaßen. Gandhi durfte nicht einmal unbestraft für ein Produkt des Hauses Mont Blanc benutzt werden, da ein Luxusfüllfederhalter nicht zum Spinnradhelden passt. Und versteckt sich in dem nicht existenten, frisch von mir geschöpften Wort Spinnradheld etwa den Mahatma verletztende Ironie? Muss ich aufs Schafott?

Vielleicht ist es ja wünschenswert, wenn man Ikonen pflegt. Wenn eine Nation nichts auf seine Helden kommen lässt. Vielleicht poliert das das nationale Image etwas auf. Definitiv etwas, das Deutschland gebrauchen könnte, was mit seiner beknackten Bildzeitungsattitüde. Doch würde ich für einen solchen das deutsche Ego hätschelnden, unantastbaren Held mit Zensur, Selbstzensur und Gewalt zahlen wollen? Würde ich mir Schuhcreme ins Gesicht schmieren lassen wollen, wie es einem der involvierten Professoren ergangen ist? Doch wohl eher nicht. Lieber seh ich die Kanzlerin, die ich respektiere, in einer Karikatur barbusig unter der Bettdecke schlummern, wie das auf einem alten Eulenspiegelexemplar der Fall war, welches ich jüngst entsorgt habe.

Wir werden den Fall beobachten müssen.