Aus Indien? Kauf ich nicht!

Indien. Das ist ziemlich weit weg, aber ein bisschen weiß der allgemeine Verbraucher trotzdem darüber. Zum Beispiel, dass die Menschen in Indien arm sind. Und Kinderarbeit natürlich. Die armen Kinder. Die arbeiten da unter „sklavenähnlichen“ Bedingungen. Schrecklich. Es ist darum auch völlig unverantwortlich, ein Produkt zu kaufen, dass in Indien gefertigt wurde. Im Zweifelsfall muss man den Herstellungsort nur schnell googeln und man findet garantiert einen Bericht zum Thema Kinderarbeit in genau dem Ort. Das kann kein Zufall sein.

Ich kann nicht genau sagen, welcher Aspekt es nun genau ist, der mich an dieser Herleitungskette gutmenschlicher Argumentationskraft ins Wanken bringt, aber ich gestehe, dass es mir säuerlich aufstößt. Wenn die Welt so einfach wäre, dann wäre es eine andere Welt – ganz eindeutig.

Leider ist „einfach“ schlichtweg zu einfach, um nicht darauf hereinzufallen. So kann es passieren, dass eine Mutti – nennen wir sie Mamamiez vom gleichnamigen Blog – bei dm einkaufen geht und bei der Lektüre des Herstellungslabels einer Textilie gleich einen Sherlock-Holmes-Moment hat. Sie hat eine Sauerei aufgedeckt. Eine große Sauerei: Die Textilie wurde nämlich in Indien hergestellt. Und das ist ganz automatisch eine Sauerei, ganz besonders, wenn man Google hat und den Herstellungsort fix eingibt. Da kommen dann, wie oben zitiert, Berichte von sklavenähnlichen Herstellungsbedingungen in genau dem Ort in Indien. Sauerei! So sieht das die Mutti und ein Großteil der Kommentatoren auf ihrem Blog.

Aber warum eigentlich? Warum ist es per se verwerflich, ein Textilprodukt in Indien herstellen zu lassen, zu verkaufen oder zu kaufen? Und es ist per se verwerflich, denn weder hat die Mutti zuerst bei dm angefragt (und eine Antwort abgewartet), bevor sie gewettert hat, noch irgendeiner der Kommentatoren, die das „heftig“, „entsetzlich“ und „unverschämt“ finden. Das ist ja auch alles völlig unwichtig. Wichtig ist, dass dm in Indien herstellen lässt. Vermutlich, weil es da so schön billig ist. Vermutlich hat die Tasche in der Produktion gerade ein paar Cent gekostet und jetzt verhökert der Herr dm das Teil für 2Euro – dieser schlaue Kapitalist. Es interessiert ja keinen Menschen, dass die Produktion zwar in einem Textilzentrum stattfindet, jedoch von einer unabhängigen Kontrollinstanz auf soziale Faktoren überprüft und zertifiziert wird. Und – was für eine Ironie: mit dem Kauf dieser indischen Tasche unterstützt man ein Projekt zur Reintegration ehemaliger Kinderarbeiter. Ist doch egal. Und was heißt hier zertifiziert – vermutlich ist das eh alles eine Lüge. Also, aus Indien würde ich nie etwas kaufen!

Ja. Das ist eine sozial verantwortliche Einstellung, die doppelt gut ist, da sie nur ein Mindestmaß an Kognition erfordert. |-|

Möchte ich Kinderarbeit verteidigen? Nein, natürlich nicht. Ist sie notwendig? Nicht für uns. Für die Kinder, die in sklavenähnlichen Bedingungen hocken und Taschen für DM Textilien für den indischen und den Weltmarkt nähen? Ja natürlich. Stell dir vor: Es gibt Armut auf dieser Welt, die wir nicht wegradieren, indem wir Fairtrade Bananen kaufen, Kik boykottieren oder den dm-Gründer beschimpfen. Manche Eltern schicken (oder verkaufen) ihre Kinder in Textilmühlen, in denen sie in sklavenähnlichen Bedingungen schufften. Das tun sie meistens nicht, um ihren Bub zu bestrafen, weil der keinen Bock auf Hausaufgaben hat.
Sie tun es meist aus etwas Ekligem, von dem wir (einschließlich mir) nur ein begrenztes Vorstellungsvermögen haben. Gott sei Dank! Es nennt sich Armut und W. Somerset Maugham hatte Recht, als er meinte, es sei nicht Geld, dass die Menschen verderbe, sondern Armut, die sie bitter und zynisch macht. So zynisch (oder verzweifelt), dass sie glauben, es sei besser, in sklavenähnlichen Bedingungen Textilien zu nähen als sofort zu verhungern. Ich würde das jetzt nicht gleich verurteilen. Wobei es Alternativen gibt…. man kann sie ja auch in Ziegelfabriken, Glasfabriken, Feuerwerksfabriken oder auf den Strich schicken oder ihre Hände in siedendes Öl stecken und sie dann zum Betteln an die Kreuzung schicken, wie der Junge, der an der Kreuzung vor unserem Haus in Delhi gebettelt hat. Niemals, egal, wie alt ich werde, werde ich das vergessen: der Anblick seiner Hand, die er in mein Gesicht steckte, und die über die Monate heilte… langsam… Bis sie eines Tages wieder – und dieses Mal bis auf die Knochen – verbrannt war.

Das ist die Welt, in der wir leben. Sie ist ziemlich komplex. Ich habe diesem Bettler nie eine Rupie gegeben. Nicht eine. Ich wollte seine verbrannte Hand nicht legitimieren. Und ich habe noch nie eine Tasche bei dm gekauft, weil die mir zu teuer sind… äh, weil ich zu geizig bin. Dafür hat dm mir mal eine geschenkt, als ich beim Mittermeier-Konzert war. Gratis. Mit Büffet und Sekt. Ich habe also so eine tolle Tasche von Manomama. Ich bin quasi doppelt beschenkt. …. und vom Thema abgekommen. Nein, wirklich, liebe verärgerten Menschen. Ich kann das gut verstehen. Kinderarbeit ist schlecht. Das wissen nicht nur Muttis wie ich. Aber Hunger ist auch ziemlich blöd, vor allen Dingen, wenn man ihn nicht stillen kann. Ein bisschen online Stimmung machen ist dabei allerdings genau so billig wie die Tasche in der Produktion. Und noch dazu völlig sinnlos. Ich finde es immer frech, wenn Leute glauben, nur weil sie irgendwo einen wütenden Kommentar hinterlassen haben, hätten sie etwas Gutes getan. Das ist mir zu eitel.

Eitel ist es auch zu glauben – Armut hin oder her – dass alles von kleinen, geschundenen Kinderhänden genäht wurde, nur weil es aus Indien stammt. Das hat auch mit sozialer Verantwortlichkeit nichts mehr zu tun, wenn man so denkt, sondern mit etwas ganz anderem. Es geht mit I los und endet auf gnoranz. Auch wenn das für Mamamiez und ihre Kommentatoren schier unvorstellbar ist: Auch in Indien gibt es Erwachsene, die arbeiten gehen. Manche können sogar nähen.

Alter, wirklich aaalter Beitrag zum Thema, der – abscheulicherweise – brandaktuell ist:
http://nosianai.blog.de/2006/10/10/keine_kinderarbeit_mehr~1206626/

Indien: Gewalt gegen Frauen

Es geht einfach nicht mehr weg. Das Thema Vergewaltigung in Indien hält sich seit der grausigen Gruppenvergewaltigung in Delhi Ende letzten Jahres hartnäckig just an der Oberfläche der Dinge, die man mit Indien in Verbindung bringt. In einschlägigen Indienforen wird erbarmungslos darüber debattiert. Gibt es jetzt mehr Gewalt gegen Frauen oder wird nur mehr darüber berichtet? (letzteres) Fallen dieser Gewalt heuer mehr Ausländerinnen zum Opfer oder achten wir nur stärker darauf, weil die mediale Aufbereitung einschlägiger ist? (letzteres) Sollte man nun ganz besondere Vorsicht wallten lassen oder handelt es sich angesichts der schier unglaublichen Einwohnerzahl Indiens um bedauerliche Einzelfälle? (ersteres)

Ich glaube, ich habe zu diesem Thema in diesem Blog bereits viel geschrieben. Vielleicht sogar genug. Als ich aber gestern Abend ein wenig durch ein populäres Forum blätterte, stieß mir die Art und Weise der Klugscheißerei dort derartig auf den Magen, dass ich dem Drang, noch einen Text zur Frauengewalt in Indien zu schreiben einfach nicht widerstehen kann.

Inzwischen wohne ich nicht mehr in Indien. Und das ist gut so. Ich möchte da auch nicht mehr wohnen. Vor allen Dingen möchte ich nicht, dass meine Tochter dort aufwächst. Bei aller Liebe und Hingabe für ein Land, dass mir knapp zehn Jahre so viel gegeben hat, bin ich mir doch besonders nach der Rückkehr bewusst, wie viel Freiheit es mir genommen hat. Ich habe meine gesamten zwanziger Jahre in einem Land verbracht, in welchem ich die Rolle der Frau nur mit einem Wort betiteln möchte: Unterdrückung.

Seit ich wieder in Deutschland wohne, hat mich niemand mehr grob sexuell beleidigt, begrapscht, angebaggert oder mir nachgestellt. Ich habe das Gefühl, wieder als Mensch wahrgenommen zu werden. Ich benutze völlig ohne Angst öffentliche Verkehrsmittel und bewege mich auch nach Einbruch der Dunkelheit noch im Freien und ich gehe sogar in Gegenden, in denen ich noch nie zuvor war. Alleine. Ich schicke meine Tochter ohne Bedenken in die KiTa. Ich fühle mich frei. Ich fühle mich lebendig.

Ja was? War ich vorher etwa tot? Hat man mich in Indien geknebelt und unterjocht? – Nein. Das war ich natürlich selbst. Würde ich behaupten, die indische Gesellschaft hätte mir mit Gewalt Verhaltensweisen bzw. Verbote aufgezwungen, so wäre dies falsch. Vielmehr habe ich völlig freiwillig Regeln befolgt, von denen ich wusste bzw. von denen mich die Gesellschaft in Kenntnis setzte, dass man so-und-so von mir erwartete. Freiwillig. Ich habe mir selbst die Flügel gestutzt. Aus dem Bedürfnis nach Integration und aus dem Bedürfnis mich zu schützen.

Wie meine ich das?

In besagtem Forum las ich zwei Dinge, die mich zu gut Deutsch angekotzt haben.

Erstes Ding:
Es ging um die Schweizerin, die kürzlich beim Zelten auf dem Lande in Zentralindien von einer Gruppe Männer vergewaltigt wurde. Ihr Ehemann war anwesend, konnte sie aber nicht schützen. Die Reaktion der zertifizierten Indienprofis? Ja wie konnte sie nur so doof sein? In Indien zeltet man nicht, schon gar nicht in abgelegenen Gegenden.

Zweites Ding:
Eine selbstbewusste Frau fortgeschrittenen Alters, die seit über zehn Jahren in Nordindien sesshaft ist, brüskierte sich über die im Forum aufgelisteten „Vorsichtsmaßnahmen“ für Frauen auf dem Subkontinent, dass sie ein sehr schönes, angenehmes Leben in Indien führen würde, dass sie sich frei bewegen konnte und dass ihr noch nie etwas passiert war.

Für mich ist es problematisch, so etwas zu lesen. Ich möchte mal sagen, dass es dutzende, ja hunderte Frauen gibt, die in Indien gezeltet haben und unversehrt geblieben sind. Ich selbst habe sogar OHNE Zelt in der indischen Landschaft geschlafen. Jawohl. Unter freiem Himmel. Diese Nacht in der Wüste Rajasthans zählt zu den schönsten Erlebnissen in Indien, und ich habe darüber berichtet.
Wie konnte ich nur so doof sein? Wir waren zwei niederländische Mädchen, eine Deutsche, ein junger Inder, von dem jedermann anzweifelte, er sei mein Ehemann, und ein indischer Reiseführer. Was hätten wir getan, wenn eine Horde Männer mit Filzläusen über uns hergefallen wäre? Hätten wir lesen müssen, dass wir doof waren, dass man in Indien nicht zeltet und dass gleichzeitig Frollein XYZ in Gurgaon noch nie etwas passiert war und man doch mal halb lang machen soll?

– . – . – . – . – . –

Glücklicherweise werde ich die Antwort auf diese Frage nie erfahren.
Ich werde aber auch nicht mehr in Indien zelten. Man will sein Glück ja nicht herausfordern.

Fakt ist: Indien ist groß. Wenn man mit Zahlen spielt, erscheint die Belastung mit Gewaltverbrechen sehr gering, was unter anderem (aber nicht nur) etwas mit der geringen Rate offiziell angezeigter Verbrechen zu tun hat; mit dem geringen Vertrauen in die Polizei, die Justiz und den Staat; mit Konzepten von Ehre und Reinheit.
Fakt ist außerdem, dass Indien ein schönes, wenn auch anstrengendes Reiseland ist. Ich kann es kaum erwarten, zurück nach Indien zu reisen.
Fakt ist aber auch, dass ich nicht mehr dort leben möchte. Das ist mir zu anstrengend. Ich will frei sein. Ich will ein Mensch sein. Und als Frau bin ich in Indien kein Mensch. Ich bin eine Frau. Immer nur eine Frau.

Als ich in den ersten zwei, drei unbeschwerten Jahren durch Indien reiste und dort lebte, verstand ich das noch nicht. Mir war ja schließlich nie was passiert, gelle. Ich konnte tun und lassen, was ich wollte. In späteren Jahren habe ich oft diese Sorglosigkeit vermisst, aber niemals die Unschuld. Niemals die Einsicht. Gern wäre ich wieder so sorglos durch Indien getänzelt, aber meine strengen, hier im Blog oft diskutierten Regeln der Sittsamkeit waren mir zu wichtig: ich weiß, dass alles andere zu gefährlich ist. Man zeltet nicht in Indien. Man trägt auch keine Hotpants. Man lässt seine Brüste nicht aus dem TShirt purzeln. Man tut viele Dinge nicht, nicht als Frau. Man kann ungestraft davon kommen und dann zu Hause erzählen, wie schön es war und dass verklemmte Blogschreiberinnen ja lauter Mist erzählen und ihnen in Indien nichts passiert ist. Oder man wird beim Zelten von einer Horde Dörfler geschändet. Weiß ja vorher keiner.

Aber nachher. Nachher wissen es wieder alle.

Bild12Ältere Beiträge zum Thema:
Die Last, ein Mädchen zu sein

Gedanken zum Frau-sein

Noch mehr Gedanken zum Frau-sein

Das Ungewollte Mädchen

Mumbai: Daniela lernt Denken

Satyamev Jayate oder Wie Aamir Khan Indien aufwecken möchte

Bereits in den vergangenen, wenigen Jahren ist es zunehmend hipp geworden, sich in Indien für diverse gesellschaftliche Verbesserungen einzusetzen. „Causes“ nennt sich das hierzulande und kommt in etwa dem Erwachen eines sozialen Bewusstseins gleich. Ein solches gibt es traditionell in Indien nämlich nicht. Verbunden mit der eigenen Religiosität wird in der Mehrheitsreligion Hinduismus zwar oft gespendet (zum Beispiel Almosen an Arme auf dem Weg zum Tempel etc.), doch das Hauptanliegen solcherlei Aktionen dient weniger dem Wohle der Allgemeinheit als der Verbesserung der eigenen Seele.
Das jedoch ändert sich. Langsam. Gemächlich. Zarte Ansätze sind bereits zu sehen.
Plötzlich wird die zerklüftete Gesellschaft Indiens durch gemeinsame „Causes“ zusammengezogen. Dies betrifft momentan nur einen kleinen Teil Indiens, den satten Teil, der es sich leisten kann. Durchaus verständlich. Doch die Ansätze sind da.

Enter: Aamir Khan. In seiner neuen Sendung Satyamev Jayate (Wahrheit wird siegen) geht es jede Woche um ein neues, brisantes, die indische Gesellschaft negativ beeinflussendes Thema. Es handelt sich um eine Art Talk Show. Dieses Format ist in Deutschland bereits zum Gossenfernsehen verkommen, doch in Indien ist es noch relativ unberührt, zumindest in der Konstellation, dass ein Moderator mit Ottonormalverbrauchern spricht und nicht andere Celebrities interviewt wie die unsterbliche (leider nur im Sinne von: untote) Simi Garewal.
Aamir Khan widmete sich in seiner ersten Sendung dem Thema des Mädchenmordes in Indien.
Etwas neues lernen wir hier nicht. Im Grunde dürfte es schwer für irgendeine Doku/Sendung sein, uns etwas Neues zu erzählen, wenn es um den Mädchenmord geht. Wir lernen nur immer wieder neue Auswüchse, indem mehr und mehr individuelle Fälle und Statistiken ans Tageslicht gezogen werden. Es bleibt zu hoffen, dass die Geschichten, die Aamirs Gäste erzählen, auf kurz oder lang am Gewissen der Menschen nagen und diese Kapsel irgendwann aufbrechen.
So erzählte uns beispielsweise die Mutter einer Tochter, wie ihre Schwiegermutter das Kind im Alter von 3 Jahren einfach die Treppe hinunter schubste in der Hoffnung, das Mädchen würde sich den Hals brechen. Tat es aber nicht.
Solche und weitere Schicksale werden in Aamirs Sendung aufbereitet, es gibt ein paar „Experten“ usw.

In den verstrichenen Wochen hat sich Aamir dem sexuellen MIssbrauch von Kindern gewidmet sowie der Frage, warum Hochzeiten in Indien solche ausufernden Feten sind, die Familien in den Ruin stürzen und zum Mädchenmord beitragen?

Lobenswert ist Aamirs Stunt in jeder Hinsicht. Ich finde es immer wunderbar, wenn Menschen ihren Ruhm dazu nutzen, um sinnvolle Botschaften zu senden oder zu helfen. Inwieweit Aamirs Sendung zu gesellschaftlichen Veränderungen beiträgt, lässt sich nicht sagen. Einen Sturm kann er vermutlich nicht beschwören, weil die Halbwertszeit seiner Sendung so kurz ist. Schließlich gibt es jede Woche ein weiteres Thema, das gesellschaftlichen Umbruchs bedarf. Das überfordert den Zuschauer. Allerdings glaube ich, dass es bereits hilfreich ist, wenn ein Star sich überhaupt den grauen Themen widmet, die in Indien gern als „Underbelly“ abgetan werden wie jüngst in der Kontroverse um Slumdog Millionaire. Man redet halt nicht gern über die Leichen im Keller, und wenn man es doch tut, wird einem ein famoser Mangel an Loyalität und Nationalstolz unterstellt. Das macht jeden Kritiker mundtot. Nicht so Aamir – ihm wird man solchergleichen kaum unterstellen können. Insofern: Daumen hoch für Aamirs neues Projekt.

Warten wir ab, was sich ergibt.

(Die Sendung läuft jeweils Sonntags im indischen Fernsehen, im Internet ist sie auf der Webseite Satyamev Jayate ebenfalls zu sehen. Englisch/Hindi)

Die Last ein Mädchen zu sein

Obwohl es eigentlich gerade sehr viel aktuelle Nachrichten aus Indien gibt, möchte ich nur kurz ein Video verlinken, über das ich heute gestolpert bin. Es geht um den sozialen Status der Frau in Indien, Pakistan und China. Die Doku ist bereits sieben Jahre alt, doch das tut der Dringlichkeit des Themas keinen Abbruch. Im Gegenteil: die Zahlen sind schlimmer geworden anstatt besser.

Ich fand die Doku gut, nicht dramatisiert oder aufgebauscht, und die Journalisten haben m.E. auch versucht, mit Taktgefühl an das doch sehr komplexe Thema heranzugehen. Ein bisschen Zeit muss man allerdings mitbringen: der Film dauert eine knappe Stunde (unglücklicherweise aufgeteilt in sechs Episoden).

Noch ein Wort in eigener Sache:
Ich verspreche hoch und heilig, den Schriftverkehr hier bald wieder aufzunehmen. Momentan habe ich einfach zu viel zu tun, um mich hier noch groß zu engagieren. Doch ich gelobe Besserung.

100% Baumwolle

Gestern fand ich auf YouTube eine weitere gute Dokumentation. Dieses Mal geht es um das Thema Baumwollanbau und den Gebrauch von Pestiziden. Zwar ist das Video bereits drei Jahre alt, doch es hat sich in der Zwischenzeit nicht wirklich etwas verändert. Die Bauern benutzen immer noch viel zu viele Pestizide, ohne sich der Gefahren, denen sie sich damit aussetzen, wirklich bewusst zu sein.

Sprache: Englisch.
Dauer: 30min

Den Gebrauch des Pestizids Endosulfan, welches im südindischen Bundesstaat Kerala zu ganzen verseuchten Landstrichen und etlichen Missbildungen geführt hat, habe ich bereits in einem älteren Bericht einmal ganz kurz angesprochen. Das Problem ist den Politikern zwar bekannt – und natürlich auch den Chemiefirmen, allen voran Bayer, aber das Leben ist in Indien eben billig.

Mangelerscheinungen

Nachdem Roma und ich selbst lange und – zumindest in Romas Fall – recht schwer krank waren, habe ich einen Artikel ausgegraben, der thematisch wie die Faust aufs Auge passt: es geht um Mangelerscheinungen bei Kindern in Indien.

Eine neue Studie hat sich mit dem Thema befasst: HUNGaMA = Hunger and Malnutrition Survey, in deren Kontext 109.093 Kinder unter 5 Jahren in 3.360 Dörfern in neun indischen Bundesstaaten observiert wurden.

Die Ergebnisse:

– 42% der Kinder waren mangelernährt
– 59% der Kinder waren in ihrer Entwicklung gehemmt (zu klein für ihr Alter)

Doch die Hauptaussage der Studie bezieht sich auf die Mütter: In den sechs Distrikten, die in der Studie am besten abschnitten, waren 95% der Mütter zur Schule gegangen.
In denjenigen Distrikten jedoch, die am schlechtesten abgeschnitten hatten, waren es nur 33%.
Je besser der Status, die Bildung, die Gesundheit und das häusliche Mitentscheidungsrecht der Frauen, desto besser ging es ihren Kindern.

Die Studie konzentrierte sich ganz besonders auf 100 Distrikte in Indien, die im Child Development Index 2009 ganz besonders schlecht abgeschnitten hatten. Man fand heraus, dass weniger als 50% Neugeborenen dort Muttermilch als erste Nahrung bekamen. Zum Vergleich: in den besten Distrikten waren es 87%.
58% der Mütter berichteten außerdem, dass sie ihren Babys unter 6 Monaten Wasser gegeben hatten, was besonders hinsichtlich der schlechten Wasserqualität besorgniserregend ist.

Problematisch ist die Tatsache, dass Mangelernährung ein verdrängtes Problem ist. Nur 7,6% der Mütter in den schlechtesten Distrikten hatten das Wort „Mangelernährung“ in ihrer Muttersprache überhaupt schon einmal gehört. (In den besten Distrikten waren es 81%)
Rohini Mukherjee von der Naandi Foundation, Leiterin der Studie, fasste das Problem sehr anschaulich zusammen:
„Mangelernährung hat keine Symptome wie Malaria, es ist nicht ansteckend wie die Grippe, und es gibt keine Impfung wie gegen Polio – und das macht es schwer damit umzugehen.“

Natürlich ist Mangelernährung ein Armutsproblem: nur 47% der Mütter gaben an, sie seien zufrieden mit der Qualität des Essens, das sie ihren Kindern geben konnten, ganz besonders in Hinblick auf Lebensmittel außer Getreide. 93% gaben an, dass besseres Essen außerhalb ihrer finanziellen Möglichkeiten liegt.

Zudem betrifft Mangelernährung eine Gemeinschaft in den meisten Fällen flächendeckend. Das heißt, dass die meisten Kinder in einem Dorf oder einer Region betroffen sind. Und da sie alle gleich aussehen (z.B. zu klein für ihr Alter), wird die Mangelernährung nicht als akutes Problem wahrgenommen, denn schließlich geht man davon aus, die Kinder sähen nun einmal so aus. Es gibt einfach keinen Vergleich.

Es ist dringend notwendig, dass sich die Regierung nicht nur um die Menge des Essens kümmert, die durch das Public Distribution System läuft, sondern auch die Qualität. Schon oft wurde von verrottetem und teilweise kaum mehr genießbaren Lebensmitteln berichtet, die an die Armen verteilt wurden, und natürlich auch von massiven Korruptionsfällen. Andererseits wird die Bereitstellung von besonders nahrhaften Lebensmitteln wie Obst und frischem Gemüse momentan überhaupt nicht angesprochen. Ohne massive Eingriffe gibt es keinerlei Aussichten, dass sich die Situation in absehbarer Zeit oder mit der nächsten Generation ändern wird.

Das Hygiene-Duett

Nach einer unfreiwilligen Blogpause gehts nun weiter mit Indiens Top-Thema: Hygiene.

Das erste Foto entstand in Andheri East, Mumbai. Es zeigt das, was allgemein hin mit einem zynischen Zucken der Mundwinkel von Indien erwartet wird:

Die Öffentliche Toilette.

Das alte Thema der öffentliche Toilette in Indien, die es nicht – oder je nach Betrachtungsweise – überall gibt. An jedem Ort. Open Air.

Doch wie ich das bereits vor etwas längerer Zeit beschrieben hatte, ist das öffentliche Pinkeln nicht immer ein Akt freiwilligen Vandalismus. Jut, es passiert. Auch auf Dächern. Auch direkt vor meinen Augen im Nachbarhaus.
Aber ich bin einfach unverbesserlich in meinem Glauben an das Gute im Menschen: Ich glaube fest daran – vielleicht auch aus einer Laune des Selbsterhaltungstriebs heraus – dass die fürchterlichen hygienischen Zustände schlichtweg auf einen akuten Mangel zurückzuführen ist. Mangel an Aufklärung. Mangel an sanitären Einrichtungen. Mangel an Geld. Mangel an einem Stolzgefühl für öffentliches Eigentum.

Und Indien macht es mir einfach, weiterhin an das Gute in ihm zu glauben. :yes: Guckst du hier:

Die Öffentliche Toilette.

Das ist eine Schlange Männer. Es tut mir ja leid, dass ich sie nicht in ihrer ganzen Länge knipsen konnte. Ich war einfach zu langsam. 😳 Nun, das ist eine Schlange Männer, die ansteht. Vor einem öffentlichen Klo. Im Regen!!!

Nicht nur warten sie also, bis sie sich erleichtern dürfen. :yes:
Nicht nur sind sie dafür bereit eine Rupie zu zahlen. :yes:
Nein. Sie tun das im Regen. :yes:

Ich finde, das muss auch mal raus als Botschaft. :yes:

Mädchen

Mittwoch Morgen wachten wir zu dieser Überschrift in der Times of India auf:

„Elf Vergewaltigungen in drei Tagen.*“

*nicht in ganz Indien, sondern im Bundesstaat Uttar Pradesh

Gedenkpause.

Als Zusatz stand da noch:

„Normal, meint die Landesregierung.“

Normal nicht im Sinne von „das muss so sein“, sondern im Sinne von: „Das ist hier nun mal so“.
Natürlich sind beide Interpretationen völlig inakzeptabel. Und völlig real.

Diese Fälle stammen aus dem nordindischen Bundesstaat Uttar Pradesh und wurden inzwischen als perverse Form von Wahlkampf ausgelegt, wobei die Opposition in Form der Congresspartei angeblich diese Vergewaltigungen inszeniert, um einen Angriffspunkt in der Rüstung der amtierenden Regierung zu schaffen. Ich finde es empörend, wie die Authentizität des Verbrechens verwässert wird durch dieses politische Spiel. Die Invasion und Degradierung ihres Körpers durch eine unbefugte Person ist doch für das Opfer völlig losgelöst von solchen Nichtigkeiten wie Kausalität. Aber Hurra, die Wahlen stehen vor der Tür. Jedes Mittel ist recht.
Die Opfer?
Als sich ein 14jähriges Mädchen gegen eine Vergewaltigung wehrte, stachen ihr die beiden Angreifer die Augen aus.
Ein 9jähriges Mädchen wurde von zwei Jugendlichen vergewaltigt.
Eine Hausfrau wurde vergewaltigt und lebendig verbrannt.
Ein 13jähriges Mädchen, das seit drei Tagen vermisst wurde, wurde tot und vergewaltigt in einem Feld aufgefunden.
Eine 17jährige wurde von den Brüdern ihrer Freundin vergewaltigt und erhängte sich aus Scham darüber noch am selben Tag.
Und so weiter.
Und so fort.

Maedchen
Mädchen in Indien: Ist die Zukunft gewaltfrei?

Ich bin Mutter einer Tochter.

Gedenkpause.

Heute dann hatte ich eine erhellende Unterhaltung mit meiner Freundin S. (Warum auch immer die Namen fast aller meiner Freunde und Freundinnen mit S. anfangen, ist mir ein Rätsel!) Sie erklärte, dass ihre Tochter (16 Monate) gern zu jedem Danke sagte und einen Handkuss gab. Das war zwar niedlich, passte S. aber überhaupt nicht. Also brachte sie ihrer Tochter D. bei, nur zu Mama und Papa Danke zu sagen oder Handküsse zu blasen. Niemand sonst bekommt ein Danke. Was mit den ganzen Männern? Woher sollte sie denn wissen, welcher von denen ein Perverser sei? In einer Gesellschaft wie dieser? Besser etwas Unhöflichkeit und dafür sicher. Auch verbot sie das, was in Indien völlig normal ist: dass fremde Menschen dem eigenen Kind in die Wange kneifen, es anfassen, etc. pp. „Das ist mein Eigentum“, meinte sie entschuldigend. „Das darf niemand anfassen.“ Paranoid, ja, aber das Kind soll lernen, dass es nicht normal ist, von fremden Männern angefasst zu werden.

Man muss das alles in Relation setzen.
Alles.

Punjabs größter Traum: Illegal einwandern.

Es ist wieder so weit: die lokalen Medien erzählen uns vom Leid des illegalen Einwanderers und erwarten, dass wir uns eine Träne für ihn abdrücken. 🙄

Mint hat eine Serie über Illegale Einwanderer begonnen, und in der heutigen ersten Folge ging es um den armen, armen Gary Singh. Der junge Mann hat einen Agenten beauftragt, welcher ihm gegen eine Gebühr die Einreise nach Manila ermöglichte. 500.000 Rupien. Knapp 8.000€ für gefälschte Papiere. In Manila angekommen wurde Gary just entführt und es wurden 2.200.000 Rupien Lösegeld erpresst. 34.000€. Die Familie bezahlte. Gary ist wieder zu Hause. Im Punjab.
Kleine Ironie des Schicksals: diese Entführung wurde vom selben Agenten eingerührt, der Gary nach Manila geschmuggelt hat.

Ich möchte meinen Missmut nicht verstecken, wenn mir solche Geschichten unter der Überschrift „Survivor’s Story“ (Geschichte eines Überlebenden) verkauft werden. Wenn mir vom „Leid“ des jungen Gary erzählt wird.

Im Artikel heißt es, illegale Einwanderung sei im Punjab ein kulturelles Problem. Man tue dies nicht aus Armut, sondern aus Aspiration. „Sie wollen mehr als sie hier haben können“, sagt Krishan Chand, ein Immigrationsgelehrter im Centre for Research in Rural and Industrial Development.
Aspiration ist was Gutes. Es ist faule Aspiration, bei der ich nen Hals kriege.

Jemand, der für eine NGO im Punjab arbeitet, erzählt dem Mint-Reporter dann etwas von Arbeitslosigkeit und unzureichender Bildung. Säße der gute Mann mir gegenüber, ich würde ihm erzählen, was für ne feine Bildung man mit 8.000€ bekommen könnte, wenn man sich bisschen mehr anstrengt.

Im Artikel geht es dann weiter über die weit verbreitete Werbung im Punjab, wo es ganz unverdeckt darum geht, Menschen illegal in andere Länder zu schmuggeln. Laut einer UNODC Studie versuchen wohl 20.000 junge Punjabis jedes Jahr illegal ihr Glück. Laut Interpol überqueren jährlich zwei Millionen Inder illegal diverse Ländergrenzen in der ganzen Welt. Für Papiere ins Vereinigte Königreich sind 900.000 bis 1.200.000 Rupien (14.000-19.000€) fällig. Für Kanada und die USA muss man schon mal 2.000.000 Rupien (31.000€) locker machen.

Die Familien zahlen. Das gehört zur Kultur. In einigen Dörfern im Punjab ist es eine Grundanforderung um heiraten zu können, dass man zuvor im Ausland gearbeitet hat. Früher wurden die Menschen anhand ihrer Kaste etc. bewertet, heute gibt es zwei Gruppen: die Familie mit Angehörigen im Ausland und die Familien ohne solche Angehörige. Laut UNODC sind allein in den letzten 1-2 Jahren 5-6 Menschen pro Dorf in der Doaba Region im Punjab illegal ins Ausland emigriert.

Wenn dann etwas schief geht, wenn diese Menschen gefangen und inhaftiert werden, wenn sie sich betrogen fühlen, dann besitzen sie doch tatsächlich den Nerv, sich darüber zu mokieren. Sie zeigen die Agenten dann wegen Betrugs an. Meiner Meinung nach sollten diese Leute dann gleich mit weggesperrt werden. Sie sind immerhin ganz gewöhnliche Kriminelle.

Familien, die den Sprung geschafft haben und im Land ihrer Träume zu Ruhm und Reichtum gelangt sind, schleppen diese fetten Moneten zurück nach Indien, wo sie sich Schlösser damit bauen und an ihre Haustür schreiben, in welchem Land sie reich wie Croesus geworden sind. Sie basteln sich Flugzeugattrappen, die ein paar Meter groß sind und auf dem Gartenzaun installiert werden. Auf dem Pappflieger steht dann das Land, das für die Gier dieser Menschen bluten musste.

Schön für sie.

Meine Geduld reißt mir bei solchen Berichten. Ich bin recht immun gegen die sog. Leiden von Gary Singh, der zwei Monate in einem fensterlosen rosa Zimmer in Manila ausharren musste, bis er durch eine nicht verschlossene Tür fliehen konnte. Ich kann mir nicht erklären, welche Sorte von Werten hier propagiert wird, wenn man mir weismachen möchte, Gary sei ein „Opfer“.

„Gary Singhs Entführungsqual veranschaulicht die Gefahren für jene, die auf Menschenschmuggler angewiesen sind, um ihren Weg ins Ausland zu finden.“

Angewiesen, ja? Schon klar. 🙄

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Morgen fliegt meine kleine indische Familie nach Deutschland. Legal im Direktflug und nicht in einem sog. „Donkey Flight“ um die halbe Welt, um die Spuren zu verwischen. Wir machen drei Wochen Urlaub. Rahul wird nicht in einer Frittenbude schwarz arbeiten oder anderweitig seinen „Aspirationen“ frönen. :wave: Wir kehren nach den drei Wochen zurück nach Indien und ich verspreche, keinen Pappflieger an meinen Balkon zu basteln. Ein Schloss haben wir ja leider nicht. Na ja, vielleicht überleg ich mir das noch mal mit den Aspirationen. |-|

Indien: Das Ende der Armut

Die Gute Nachricht: Laut den Statistiken der indischen Planungskommission sind nur 25% der Stadtbevölkerung Indiens offiziell arm und daher hilfebedürftig.
Die Schlechte Nachricht: Die Einkommensgrenze, welche zur Berechnung dieser Quote genutzt wurde, liegt so niedrig, dass man dabei nicht von einer Armutsgrenze sprechen kann, sondern von einer Hungergrenze. Genau genommen einer VerHungergrenze.

Normalerweise heißt es, soundso viele Menschen leben von einem Dollar pro Tag. In den Köpfen der meisten Menschen ist ein Dollar eine winzige Summe, und davon auskommen zu müssen, kratzt am Verständnis dessen, was menschenmöglich ist.
Nun denn. Laut Planungskommission ist man mit einem Dollar am Tag nicht arm. Erst wenn man lediglich 20 Rupien pro Tag hat, ist man arm. Das sind nach heutigem Umrechnungskurs 45 US Cent oder 31 € Cent pro Tag.

Die Planungskommission hat 24 Ausgabebereiche gewählt, um die Maximalausgaben zu berechnen, die ein Inder machen kann, um als arm zu gelten. Demnach darf er monatlich zum Beispiel 36,50 Rupien (55 € Cent) für Gemüse und 8,20 Rupien (13 Cent) für Obst ausgeben.
Für Salz und Gewürze fallen 14,6 Rupien (22 Cent) ab.
Linsen und Hülsenfrüchte: 19,2 Rupien (30 Cent)
Kleidung: 38,3 Rupien (59 Cent)
Getreide: 96,5 Rupien (1,50€)
Sprit: 70 Rupien (1,10€)

Wie sieht so ein Leben aus? Wenn jemand weniger als 600 Rupien im Monat zur Verfügung hat, dann kann man davon ausgehen, dass er keine Miete zahlt. Er lebt also auf der Straße. Er kann sich von seinem Obstbudget im Monat drei Bananen leisten. Des weiteren kann er sich 200 Gramm Linsen kaufen. Und drei Kilo Mehl. Er kann von seinem gesamten Gemüsebudget ein Kilo Zwiebeln und ein Kilo Kartoffeln kaufen. Oder ein halbes Kilo Okraschoten. Oder ein halbes Kilo Paprikaschoten. Oder zwei Blumenkohlköpfe.

Vermutlich aber wird er, wie arme Menschen das in Indien häufig tun, sein Geld in Weizenmehl, Chillies und eventuell Linsen anlegen. Dann gibt es einmal pro Tag Fladenbrot mit Chillipaste und ab und an einen Napf voll wässriger Linsensuppe.

Was heißt das für Indien?
25% der städtischen Bevölkerung leben so.

Gedenkpause.

25% der Menschen in indischen Städten führen genau dieses Leben.

Die anderen 75% sind deswegen nicht vermögend. Sie sind nicht einmal nicht arm. Denn wer 30 oder 40 oder 50 Rupien am Tag hat, oder selbst 100, der hat deswegen noch lange kein menschenwürdiges Leben.

Und auf dem Land? Da liegt die obere Ausgabegrenze sogar nur bei 15 Rupien pro Tag. Wer mehr ausgibt, ist nicht arm. Er bekommt keine BPL-Karte (Below Poverty Line) – das offizielle Armutszeugnis sozusagen. Ohne BPL-Karte bekommt er keine subventionierten Lebensmittel in den sog. Ration Shops. Er bekommt keine Krankenversicherung (denn es gibt zumindest auf dem Papier in Indien inzwischen ein KV-System für die Armen). Er bekommt keine Unterkunft gestellt und auch keine Rente.

Die Armutsgrenze liegt also so tief, dass sich kein Mensch so tief ducken kann, um darunter zu passen. Kein Wunder, dass Indien in den letzten Jahren von reduzierten Armutsquoten gesprochen hat: es wurde einfach die qualifizierende Grenze herunter geschraubt.

Ich werde diesen Artikel ebenfalls mit dem Tag „Dinge, die ich nicht verstehe“ kategorisieren müssen. Was auch sonst? :??: