Indien. Das ist ziemlich weit weg, aber ein bisschen weiß der allgemeine Verbraucher trotzdem darüber. Zum Beispiel, dass die Menschen in Indien arm sind. Und Kinderarbeit natürlich. Die armen Kinder. Die arbeiten da unter „sklavenähnlichen“ Bedingungen. Schrecklich. Es ist darum auch völlig unverantwortlich, ein Produkt zu kaufen, dass in Indien gefertigt wurde. Im Zweifelsfall muss man den Herstellungsort nur schnell googeln und man findet garantiert einen Bericht zum Thema Kinderarbeit in genau dem Ort. Das kann kein Zufall sein.
Ich kann nicht genau sagen, welcher Aspekt es nun genau ist, der mich an dieser Herleitungskette gutmenschlicher Argumentationskraft ins Wanken bringt, aber ich gestehe, dass es mir säuerlich aufstößt. Wenn die Welt so einfach wäre, dann wäre es eine andere Welt – ganz eindeutig.
Leider ist „einfach“ schlichtweg zu einfach, um nicht darauf hereinzufallen. So kann es passieren, dass eine Mutti – nennen wir sie Mamamiez vom gleichnamigen Blog – bei dm einkaufen geht und bei der Lektüre des Herstellungslabels einer Textilie gleich einen Sherlock-Holmes-Moment hat. Sie hat eine Sauerei aufgedeckt. Eine große Sauerei: Die Textilie wurde nämlich in Indien hergestellt. Und das ist ganz automatisch eine Sauerei, ganz besonders, wenn man Google hat und den Herstellungsort fix eingibt. Da kommen dann, wie oben zitiert, Berichte von sklavenähnlichen Herstellungsbedingungen in genau dem Ort in Indien. Sauerei! So sieht das die Mutti und ein Großteil der Kommentatoren auf ihrem Blog.
Aber warum eigentlich? Warum ist es per se verwerflich, ein Textilprodukt in Indien herstellen zu lassen, zu verkaufen oder zu kaufen? Und es ist per se verwerflich, denn weder hat die Mutti zuerst bei dm angefragt (und eine Antwort abgewartet), bevor sie gewettert hat, noch irgendeiner der Kommentatoren, die das „heftig“, „entsetzlich“ und „unverschämt“ finden. Das ist ja auch alles völlig unwichtig. Wichtig ist, dass dm in Indien herstellen lässt. Vermutlich, weil es da so schön billig ist. Vermutlich hat die Tasche in der Produktion gerade ein paar Cent gekostet und jetzt verhökert der Herr dm das Teil für 2Euro – dieser schlaue Kapitalist. Es interessiert ja keinen Menschen, dass die Produktion zwar in einem Textilzentrum stattfindet, jedoch von einer unabhängigen Kontrollinstanz auf soziale Faktoren überprüft und zertifiziert wird. Und – was für eine Ironie: mit dem Kauf dieser indischen Tasche unterstützt man ein Projekt zur Reintegration ehemaliger Kinderarbeiter. Ist doch egal. Und was heißt hier zertifiziert – vermutlich ist das eh alles eine Lüge. Also, aus Indien würde ich nie etwas kaufen!
Ja. Das ist eine sozial verantwortliche Einstellung, die doppelt gut ist, da sie nur ein Mindestmaß an Kognition erfordert. |-|
Möchte ich Kinderarbeit verteidigen? Nein, natürlich nicht. Ist sie notwendig? Nicht für uns. Für die Kinder, die in sklavenähnlichen Bedingungen hocken und Taschen für DM Textilien für den indischen und den Weltmarkt nähen? Ja natürlich. Stell dir vor: Es gibt Armut auf dieser Welt, die wir nicht wegradieren, indem wir Fairtrade Bananen kaufen, Kik boykottieren oder den dm-Gründer beschimpfen. Manche Eltern schicken (oder verkaufen) ihre Kinder in Textilmühlen, in denen sie in sklavenähnlichen Bedingungen schufften. Das tun sie meistens nicht, um ihren Bub zu bestrafen, weil der keinen Bock auf Hausaufgaben hat.
Sie tun es meist aus etwas Ekligem, von dem wir (einschließlich mir) nur ein begrenztes Vorstellungsvermögen haben. Gott sei Dank! Es nennt sich Armut und W. Somerset Maugham hatte Recht, als er meinte, es sei nicht Geld, dass die Menschen verderbe, sondern Armut, die sie bitter und zynisch macht. So zynisch (oder verzweifelt), dass sie glauben, es sei besser, in sklavenähnlichen Bedingungen Textilien zu nähen als sofort zu verhungern. Ich würde das jetzt nicht gleich verurteilen. Wobei es Alternativen gibt…. man kann sie ja auch in Ziegelfabriken, Glasfabriken, Feuerwerksfabriken oder auf den Strich schicken oder ihre Hände in siedendes Öl stecken und sie dann zum Betteln an die Kreuzung schicken, wie der Junge, der an der Kreuzung vor unserem Haus in Delhi gebettelt hat. Niemals, egal, wie alt ich werde, werde ich das vergessen: der Anblick seiner Hand, die er in mein Gesicht steckte, und die über die Monate heilte… langsam… Bis sie eines Tages wieder – und dieses Mal bis auf die Knochen – verbrannt war.
Das ist die Welt, in der wir leben. Sie ist ziemlich komplex. Ich habe diesem Bettler nie eine Rupie gegeben. Nicht eine. Ich wollte seine verbrannte Hand nicht legitimieren. Und ich habe noch nie eine Tasche bei dm gekauft, weil die mir zu teuer sind… äh, weil ich zu geizig bin. Dafür hat dm mir mal eine geschenkt, als ich beim Mittermeier-Konzert war. Gratis. Mit Büffet und Sekt. Ich habe also so eine tolle Tasche von Manomama. Ich bin quasi doppelt beschenkt. …. und vom Thema abgekommen. Nein, wirklich, liebe verärgerten Menschen. Ich kann das gut verstehen. Kinderarbeit ist schlecht. Das wissen nicht nur Muttis wie ich. Aber Hunger ist auch ziemlich blöd, vor allen Dingen, wenn man ihn nicht stillen kann. Ein bisschen online Stimmung machen ist dabei allerdings genau so billig wie die Tasche in der Produktion. Und noch dazu völlig sinnlos. Ich finde es immer frech, wenn Leute glauben, nur weil sie irgendwo einen wütenden Kommentar hinterlassen haben, hätten sie etwas Gutes getan. Das ist mir zu eitel.
Eitel ist es auch zu glauben – Armut hin oder her – dass alles von kleinen, geschundenen Kinderhänden genäht wurde, nur weil es aus Indien stammt. Das hat auch mit sozialer Verantwortlichkeit nichts mehr zu tun, wenn man so denkt, sondern mit etwas ganz anderem. Es geht mit I los und endet auf gnoranz. Auch wenn das für Mamamiez und ihre Kommentatoren schier unvorstellbar ist: Auch in Indien gibt es Erwachsene, die arbeiten gehen. Manche können sogar nähen.
Alter, wirklich aaalter Beitrag zum Thema, der – abscheulicherweise – brandaktuell ist:
http://nosianai.blog.de/2006/10/10/keine_kinderarbeit_mehr~1206626/