Im Jahr 2020 sollen Schätzungen zu Folge 28 Millionen Menschen in Mumbai wohnen. Bereits 1990 lag die Bevölkerungsdichte bei 15.000 Menschen pro km². Zum Vergleich Berlin: 2900 Menschen pro km² – die am dichtesten bevölkerte Stadt Europas. Und einige kleine Portionen Zentralmumbais sollen gar eine komplett unvorstellbare Bevölkerungsdichte von 1 Million menschlicher Körper auf einem Quadratkilometer haben. (Quelle: Maximum City)
Und alle wollen zur Arbeit. Sie alle müssen die Distanz zwischen ihrem Bett und ihrer Arbeit zurücklegen – und zwar täglich. In einer Stadt, die an drei Seiten von Wasser von in Flüssigkeit aufgeweichtem Endmaterial umgeben ist. Schon seit Jaaaahren baut man zwischen Bandra Reclamation und Worli an einer Brücke, die immer noch nicht fertig, immer noch nicht befahrbar ist. Immer noch nicht dazu beiträgt, dass ein kleiner Teil der enormen Menschenmassen auf dem Seeweg, sozusagen, transportiert werden können.
Die Local Trains sind Mumbais oft missverstandenes Geschenk des Himmels. Sie kosten 10 Menschen pro Tag das Leben, aber sie befördern täglich 6 Millionen Pendler.
Bildlink: Das Schienennetz der Local Trains (Schema)
Das Schienennetz in (!) Mumbai ist 300km lang. Und gut so, denn die 409 Züge chauffieren 88% des Pendlerverkehrs in ihren ausgebeulten, mit Paanflecken, Spuckflecken, Müll und Kotze befleckten Waggons. Kein Wunder also, dass Stehplätze an den extra-breiten Türen so beliebt sind. Die verklärte Seeluft in den Haaren. Sonnenstrahlen im Gesicht. Die Hände fest an den eisernen Bügeln verkrallt, die einem den unverkennbaren, unnachahmlichen und unverwüstlichen Metallgeruch auf der Haut verschaffen. Sechs Millionen Menschen schwanken rattatatatt, rattatatt hin und her. Selbst während der Stoßzeiten, wenn man kaum weiter als zur Achselhöhle oder dem Nackenhaar der Copassagiere schauen kann, ist es möglich, genau herauszufinden, in welchem Stadtteil man sich befindet. Kommt der große Schwall fauliger Fische, fliegt man über die Tümpel Bandras hinweg. In den Furzen der Büffel erkennt man Jogeshwari.
Ein Waggon kann 1700 Menschen transportieren. Ein bisschen wie Schindlers Liste. Während der Rush Hour befinden sich drei Mal so viele Pendler in den Abteilen. Dieser Viehtransport schimpft sich „super-dense crush load“. Kein Euphemismus.
Super-dense crush load bedeutet 14 bis 16 Passagiere pro Quadratmeter.
Ich erinnere mich an eine Zugfahrt 7:40Uhr von Borivali nach Churchgate. Reisezeit: 55 Minuten. Der Zug startete ab Borivali, das heißt, er war leer. Als ich einstieg, war kein Platz mehr frei. Ich empfinde es (noch) unter meiner Würde, mich mit anderen Passagieren zu boxen und mich nur für einen Sitzplatz der Gefahr auszusetzen, eins der 3500 jährlichen Todesopfer zu sein, weil ich im Eifer des Gefechts in dem Spalt zwischen Trittbrett und Gleisbett verschwand.
Fotolink: „voll“ nach Definition eines Mumbaikars
Der Waggon ist gerammelt voll. Es ist die 1. Klasse des Damenabteils, das 1992 eingeführt wurde und eine gute Idee ist. Doch man muss sein Vokabular an die Mumbairealitäten anpassen. “ Gerammelt Voll“ im europäischen Sinne – also mit allen Sitzplätzen belegt und vielen im Gang stehenden Passagieren – läuft in Mumbai unter „leer“. „Voll“ im Repetoire Mumbais wird es erst an der folgenden Station „Kandivali“. Dann stehe ich nämlich mit dem Rücken gegen die Wand gepresst. Meine Fersen berühren die Wand. Meine Zehen berühren die Schuhe der Dame vor mir. Wenn ich meinen Kopf nach links drehe, kann ich der Frau neben mir einen Kuss auf die Wange hauchen, ohne mich nach vorn zu beugen. Nach rechts drehe ich meinen Kopf lieber nicht, weil mir die Achselhöhle einer Dame gegen das Ohr drückt. Meine Nase verschwindet im frisch gewaschenen aber nach Kokosöl müffelnden Haar der Dame vor mir. Wir alle krallen uns irgendwo fest und schwingen im Rhythmus des Zuges. Rattatatt. Rattatatt.
Als der Zug noch „leer“ war, also als ich noch zwei Meter voraus gucken konnte, sah ich eine illustre Gruppe Damen, die einen Sitzplatz ergattert hatten, Jalebis essen. Ich liebe Jalebis, aber es war 7:40Uhr morgens und ich glaube, frittierte und in Zuckersyrup getunkte Süßspeisen aus gemahlenen Linsen sind ein denkbar schlechtes Frühstück. Ich simse Rahul, der die nächsten 55 Minuten im Männerwaggon fristet.
Später, als es „voll“ ist, höre ich das laute Würgegeräusch einer Frau. Es ist eine von den Jalebifressern. Für einen kurzen, unglaublich beglückenden Moment nicke ich mir selbst zu. „Sag ich doch. Jalebis isst man nicht zum Frühstück!“ Dann ziehen die Gerüche durch den Waggon. Ich war noch nie so froh, sooo froh meine Nase im Kokosölhaar einer Frau versenken zu können.
Ich kann die kotzende Dame nicht sehen. „Super dense crush load“ sei Dank! Aber ich kann sie hören. Ich weiß, es ist eine der Jalebidamen, weil ich die Stimmen der illustren Damenrunde wiedererkenne. Sie alle sind besorgt. Um sich. Um ihre Kleidung, die, wie ich später hören werden, von oben bis unten vollgekotzt ist, und ein bisschen auch um die Dame, die uns allen ihr Innerstes ausschüttet. Es stinkt. Ich schmiege mich an das Kokoshaar. Um mich herum sehe ich rollende Augäpfel und das Stöhnen angewiderter Passagiere. Einige rufen, die Dame soll raus. Raus. An der nächsten Haltestelle! Aber der Zug ist zu voll. Wer raus will, steht an der Tür. Alle anderen kommen nicht raus.
Churchgate: 8:35Uhr. Der Zug ist „leer“. Ich sehe die Sitzbank, auf der – versteckt unter Zeitungen – Jalebi in Magensäure klebt. Wann wird man das wegwischen können? Während der Stoßzeiten fahren die Züge alle 3 Minuten. An einer Haltestelle steht der Zug zwischen 20 und 30 Sekunden.
Die meisten Mumbaikars empfinden eine Art Hassliebe für die Locals. Sie sind voll. Sie stinken. Sie machen aus einem Menschen ein Tier, dass in einem übervollen Käfig durch die Landschaft scheppert, vorbei an 7 Millionen Menschen, die in Slums direkt an den Gleisen wohnen. Ja, man hasst sie. Aber sie sind der einzige Weg, effektiv zu pendeln. Diese 150 Jahre alten Gleisen auf 4 Strecken ermöglichen es, innerhalb von 55 Minuten zwischen Borivali und churchgate zu pendeln, was im Straßenverkehr mindestens 2 Stunden dauert. Und so ergibt man sich den Blechbüchsen. Den Local Trains Mumbais, die bisher Null Unfälle hatten. Oh ja, 10 Menschen sterben täglich (ich hab schon öfters abgedeckte Körper auf Tragen am Bahnsteig gesehen), aber Zugunglücke gab es bisher noch kein einziges.
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Eine sehr gute Erläuterung des Themas „Local Trains“ findet man hier (Englisch). Einige der Themen werde ich hier später noch einmal selber erklären. Zum Beispiel wie es sich mit „slow“ und „fast“ trains verhält.