Indische Gesundheitsversorgung für Arme

Über die medizinische Versorgung von einfachen (armen)  Menschen in Indien zu schreiben heißt, sich durch einen unendlichen Wust von Geschichten zu lesen, die immer gleich beginnen. Immer gleich verlaufen. Immer gleich enden.

  • Eine Frau in den Wehen geht zum staatlichen Gesundheitszentrum, wo sie zunächst finanziell erpresst wird und – als sie nicht mehr zahlen kann – auf die Straße geworfen wird, wo sie eine Totgeburt erleidet.
  • Ein Junge mit gebrochenem Bein bekommt im staatlichen Gesundheitszentrum kein Röntgenbild und muss in eine private Klinik, wo er eine stolze Rechnung präsentiert bekommt. Später kommt es zu einer Infektion des Bruches, verzögerte Diagnosen, mehr Rechnungen.
  • Ein Mann, der sich bereits im staatlichen Gesundheitszentrum behandeln lassen wollte, wird erst in einem privaten Krankenhaus mit Tuberkulose diagnostiziert. Die Rechnungen beginnen sich zu stapeln, so dass er seinen Ochsen verkaufen muss, eine Hypothek auf sein Land aufnimmt und von Verwandten borgt. Sein Zustand hat sich nur zu 50% verbessert, und er wird noch ein volles weiteres Jahr teure Medikamente einnehmen müssen.
  • Eine Frau gebärt im Kreißsaal des staatlichen Gesundheitszentrums allein und ohne medizinische Hilfe. Nach der Geburt wird das Baby nicht untersucht. Niemand passt auf, dass es atmet. Ein halbes Jahr später wird das Kind mit starken Hirnschäden diagnostiziert.
  • Kinder sterben an Schlangenbissen, weil die staatlichen Gesundheitszentren kein Gegengift vorrätig haben. Minenarbeiter sterben an Silikose, weil sie im staatlichen Gesundheitszentrum fehldiagnostiziert und falsch behandelt werden.

Die Schicksale wiederholen sich ständig.

Indiens staatliche Gesundheitsversorgung

Indiens staatliche Gesundheitsversorgung soll die Bevölkerung mittels drei Arten medizinischer Einrichtungen erreichen: Community Health Centres (CHC), Primary Health Centres (PHC) und Sub-Centres.
Pro 5.000 Einwohner (3.000 in bergigen Regionen) soll es ein Sub-Centre geben. Das heißt, es sollten 148.303 vorhanden sein, doch es gibt nur 137.311 solcher Sub-Centres.
Pro 30.000 Einwohner (20.000 in bergigen Regionen) soll es ein PHC geben. Statt der 24.717 benötigter PHCs gibt es lediglich 22.842.
Pro 120.000 Einwohner (80.000 in bergigen Regionen) soll es ein CHC geben, doch statt der gebrauchten 7.415 CHC verfügt Indien über weniger als die Hälfte, nämlich 3.043. (Rural Health Services Infrastructure 2000-2001)

Doch selbst da, wo die Infrastruktur vorhanden ist, mangelt es am Personal. Dies lässt sich sehr gut am Beispiel der CHCs zeigen: Von den 3.043 CHCs, die es in Indien gibt, haben lediglich 440 Kinderärzte; 704 Allgemeinärzte, 780 Gynäkologen und 781 Chirurgen. Derselbe Personalmangel trifft auch auf Krankenschwestern, Hebammen, medizinische Assistenten, Apotheker, Labortechniker etc. zu.

Abgesehen vom nicht vorhandenen Personal herrscht auch ein weit verbreitetes Anreiseproblem, so dass Patienten in ländlichen Gebieten oftmals (laut NCAER in 20% der Fälle) 10km und mehr reisen müssen, um die staatlichen Gesundheitszentren überhaupt zu erreichen. Dort angekommen, können sie nicht sicher sein, dass sie behandelt werden.

Seit 1991 hat die Regierung Ausgaben im medizinischen Bereich für den ländlichen Sektor stark zurückgefahren, so dass das Wachstum der staatlichen Gesundheitszentren deutlich zurückgegangen ist. Gleichzeitig beginnen immer mehr Menschen notwendigerweise damit, sich auf das seit den 70er Jahren schnell wachsende, private Gesundheitssystem zu stützen, wohin es auch Ärzte zieht. Immerhin ist der private Sektor lukrativer. Der private medizinische Sektor wächst besonders dort, wo potenzielle Patienten ihn bezahlen können, nämlich vorrangig in städtischen Gebieten und wohlhabenden Dörfern. In den übrigen ländlichen Gebieten sind selbst private Einrichtungen/Ärzte spärlich gesät.

Privatisierung

Die indische Regierung unterstützte den Trend hin zur Privatisierung des Gesundheitssektors.
In den 80er Jahren wurden Zölle auf medizinisches Gerät halbiert. Private Kliniken erhielten kostenfrei Land, wenn sie sich dazu bereit erklärten, 10% ihrer stationären und 40% ihrer ambulanten Patienten kostenlos zu behandeln. Der private Sektor wuchs so rasant, dass 1995-96 54,6% aller stationären Behandlungen in ländlichen Gebieten (56,9% in städtischen Gebieten) im privaten Sektor stattfanden. Bei ambulanten Behandlungen ist das Wachstum sogar noch deutlicher: 81% aller ambulanten Behandlungen in ländlichen Gebieten (82,6% in städtischen Gebieten) fielen dem privaten Sektor zu. In armen Staaten allerdings sind staatliche Gesundheitszentren immer noch wichtiger, auch wenn sie völlig unzureichend ausstaffiert sind, da die Bevölkerung sich private Behandlungen nicht leisten kann und es daher – zum Beispiel in Uttar Pradesh – zu einem deutlich geringeren Wachstum im privaten Sektor gekommen ist.


Kostenloses HAAT-Programm der Regierung

Landesweit erhalten 4.000 HIV-positive Inder kostenlose Medikamente durch ein Regierungsprogramm. (Das Ziel des Programmes liegt bei 100.000 Patienten.) Auf diese Weise erhalten sie Zugang zu hochaktiver antiretroviralen Therapie (HAAT), die sie sich andernfalls nicht leisten könnten. JJ Hospital in Mumbai ist eins der 25 Zentren in Indien, die dieses Programm durchführen, und teilt Medikamente an 1.000 HIV-Patienten aus. Dies ist jedoch nur ein Tropfen auf den heißen Stein in Hinblick auf die Tatsache, dass weitere 250.000 Patienten in Indien diese Medikamente dringend benötigen. Auf dem Markt kosten diese zwischen 2.000 und 7.000 Rupien pro Monat und befinden sich deshalb außerhalb der Reichweite der meisten Menschen in einem Land, in dem das durchschnittliche Monatsgehalt bei 2.000 Rupien liegt. Der Pharmakonzern Cipla schätzt, dass derzeit weniger als 20.000 Inder optimale Medikamentierung für HIV/AIDS erhalten.

Armut durch Krankheit

Unzureichende medizinische Versorgung seitens des Staates sowie teure private Versorgung sind u.a. dafür verantwortlich, dass
Familien in Armut gedrückt werden bzw. sich ihre finanzielle Situation weiter verschlechtert. Die Weltbank schätzt (anhand von Daten der National Sample Survey aus der Mitte der 90er), dass medizinische Kosten 2,2% aller Nutznießer sowie ein Viertel aller stationären Patienten innerhalb eines Jahres in Armut stürzen können. Obwohl der Prozentsatz relativ gering erscheint, steckt dahinter eine große absolute Zahl von Patienten; zudem werden Kranke, die ihre Symptome ignorieren oder keinen Arzt aufsuchen, nicht in dieser Schätzung erfasst.

Eine Studie von 12 Dörfern in den Distrikten Rajsamand und Udaipur in Rajasthan hat gezeigt, dass medizinische Ausgaben für den sozialen Abstieg von 55% von 109 betroffenen Haushalten verantwortlich gemacht werden konnten. In einer Studie von 20 Dörfern in den Distrikten Vadodara (Baroda) und Panchmahal im Bundesstaat Gujarat waren 85% der 134 abgerutschten Haushalte durch medizinische Ausgaben in die Armut gefallen. Im Bundesstaat Andrah Pradesh wurden 36 Dörfer in den Distrikten Nalgonda, Khammam und East Godavari besucht, in denen 335 Haushalte in Armut gefallen waren – 74% von ihnen durch Krankheit und dadurch verursachte Ausgaben.

Für die Verschlechterung der gesundheitlichen Versorgung in Indien können vor allen Dingen drei Faktoren verantwortlich gemacht werden:

Erstens sind die Kosten für Medikamente durch systematische Derugulierung der pharmazeutischen Produktion und Preiskontrolle drastisch gestiegen. (s.u.) Zweitens stagnierten staatliche Investitionen in
den Gesundheitssektor, so dass staatliche medizinische Einrichtungen nicht länger ausreichen, nicht gut ausstaffiert sind, keine Medikamente vorrätig haben und es nicht länger eine gute Alternative zur Privatversorgung gibt. Drittens wurde die Privatisierung des Gesundheitssystems staatlich unterstützt ohne Rücksicht darauf, dass sich ökonomisch schwache Schichten der Gesellschaft diese private Versorgung nicht leisten können und deshalb keinen Nutzen von dieser Entwicklung davontragen. Der Verfall staatlicher Gesundheitszentren hat sich auch in der Nutzung bemerkbar gemacht: zwischen 1987 und 1996 ging der Patientenzustrom in staatlichen Einrichtungen um 30% zurück – sowohl in ländlichen als auch in städtischen Gebieten. Gleichzeitig stieg die Sterblichkeitsrate.

80% der Krankenkosten stammen aus privater Tasche

Nachdem selbst in staatlichen Krankenhäusern sog. User Fees eingeführt wurden, schwand der Zugang zu medizinischer Versorgung für die Armen weiter. In Andhra Pradesh hat die Gesundheitskrise dazu geführt, dass arme Dorfbewohner, meist Farmarbeiter, sich das Leben nehmen, weil sie hoch verschuldet sind. Ein großer Teil ihrer Schulden stammt aus medizinischen Rechnungen, die sie nicht mehr tragen können. Selbst wenn sie im Osmania Hospital in Hyderabad kostenlos behandelt werden können, fallen ihnen die Anreisekosten sowie Arbeitsausfall zur Last. Um Arztkosten abzudecken, sind viele Bauern dazu gezwungen, Kredite von privaten Geldverleihern aufzunehmen, die von solch exorbitanten Zinssätzen begleitet werden, dass an Rückzahlung nicht zu denken ist.

Während in Industrienationen ein Großteil der Gesellschaft Zugang zu medizinischer Versorgung hat und 80% der Kosten derselben entweder durch staatliche Investitionen und/oder durch ein soziales Versicherungssystem abgedeckt werden, tragen in Ländern wie Indien Privatpersonen 70-80% der Kosten für ihre Krankenversorgung: Das indische Gesundheitssystem ist heute 1.500 Mrd. Rupien wert (oder US$ 34 Mrd.), was sich in 1.500 Rupien pro Kopf und 6% des Bruttoinlandprodukts übersetzt. 15% davon werden staatlich finanziert, 4% stammen aus Sozialversicherungen, 1% aus privaten Versicherungen und 80% von Bürgern. 70% davon sind arm und müssen sich die Kosten für ihre Genesung anderswo absparen: am Essen, an der Schulausbildung ihrer Kinder, an Kleidung, usw. Oder aber sie verkaufen ihr Hab und Gut. Oder enden in der Schuldenfalle.

User Fees für Patienten

Eine Umstrukturierung im öffentlichen Gesundheitssystem hat dazu geführt, dass Behandlungen in staatlichen Gesundheitszentren nicht mehr kostenlos sind. Dem Patienten wird eine sog. User Fee abverlangt. Durch die Einführung Gelber Karten, die von der Regierung ausgestellt werden sollten, wollte man verhindern, dass auch sehr arme Menschen zur Kasse gebeten werden, doch dieses System ließ sich in der Praxis nicht durchführen.

Studie: In Bhatinda, einer Stadt mit 270.000 Einwohnern im Bundesstaat Punjab, wurden seit 1996 keine Gelbe Karten mehr ausgestellt, und nur 44 existierende Karten wurden seit 1998 erneuert. Zwischen Juli und Dezember 2000 (Zeitpunkt der Studie) gab es keine einzige kostenlose Behandlung in Bhatinda für Arme. Im Gegenteil, es wurde festgestellt, dass nur eine von 150 Slumfrauen aus der Stadt je von diesen Gelben Karten gehört hatte. Das System hat dazu geführt, dass sich die Bettenbelegung im Krankenhaus um 20% reduzierte, während die Nutzung ambulanter Dienste um 20-40% zurück ging.

Das heißt, User Fees verringern deutlich den Zugang der Armen zu medizinischen Behandlungen. Gleichzeitig haben Studien gezeigt, dass User Fees keine sinnvolle Lösung sind, um Kosten zu sparen. 1992-93 konnten lediglich 1,4% der Krankenhausausgaben durch User Fees abgedeckt werden.

Selbst wenn Krankenhäuser die User Fees erlassen, muss ein Patient weiterhin für diagnostische Tests und Medikamente aufkommen. Staatliche Gesundheitszentren haben häufig keinen Vorrat an Medikamenten, so dass Patienten genötigt sind, Medikamente im privaten Sektor zu kaufen.

Der Preis für Medikamente

1979 lag die Zahl der Medikamente, deren Preis direkt kontrolliert wurde, noch bei 347. 2004 waren es lediglich 74. Inzwischen wird mit den Preisen für Medikamente gespielt, ohne dass sich der Patient dessen bewusst wäre. GSK stellt bspw. Cefuroxime unter zwei Markennamen her: Ceftum und Supacef, wobei Ceftum für Rs. 80.91 und Supacef für Rs. 63.01 verkauft wird. Das heißt, dasselbe Produkt wird mit einer Preisdifferenz von 17 Rupien verkauft. Obwohl diese unverblümte Patientenabzocke bei armen Menschen lebensbedrohlich sein kann, wurde die Preiskontrolle für Medikamente 2002 weiterhin verringert. Verkauft wird den Bürgern diese Strategie unter dem Banner freier Marktwirtschaft und der Annahme, dass Wettbewerb die Preise senken würde, doch es hat sich gezeigt, dass der Marktführer für gewisse Medikamente häufig auch ein teures, nicht selten sogar das teuerste Produkt verkauft.

Anurag Bhargava (LOCOST, „Impoverishing the Poor„) hat ausgerechnet, wie sich diese Medikamentenpreise in die Realität eines Arbeiters übersetzt, der Rs. 60 pro Tag verdient. Er müsste zwei Tage arbeiten, um Halsschmerzen behandeln zu lassen. Mehr als zwei Monate für Blutarmut. Mehr als zwei Jahre für (resistente) Tuberkulose. Und einen Monat für Diabetes.

Aktueller Stand

Für das Finanzjahr 2008-09 wurde das Gesundheitsbudget um 15% erhört. Besonderes Augenmerk soll auf HIV/AIDS, Polio und die Versorung der Armen liegen. In absoluten Zahlen heißt das, dass dem öffentlichen Gesundheitssektor Rs. 165.34 Mrd. zur Verfügung stehen – 1,15% des Bruttoinlandprodukts.

Kürzlich wurde das Universal Arogya Medical Insurance Scheme ins Leben gerufen. Es soll Familien unterhalb der Armutsgrenze versichern. Eine Einzelperson zahlt demnach Rs. 300 im Jahr; eine Familie mit fünf oder weniger Mitgliedern zahlt 545 Rupien und eine Familie mit sieben oder weniger Mitgliedern zahlt 600 Rupien im Jahr. Durch diesen Mitgliedsbeitrag sind Familienmitglieder für sämtliche Krankheiten versichert und erhalten außerdem ihren Arbeitsausfall zurückerstatt. Das Höchstalter für das neue Versicherungsprogramm wurde auf 70 Jahre festgelegt. Zudem werden auch bereits bestehende Krankheiten abgedeckt.

Ähnliche Programme gab es bereits in einigen Staaten, zum Beispiel Kerala, Karnataka und Andhra Pradesh. Inwieweit das neue Programm erfolgreich sein wird, muss sich zeigen.

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Fallstudien rund um Korruption im Krankenhaus, Vernachlässigung, unzureichende medizinische Versorgung in staatlichen Krankenhäusern usw. gibt es (in englischer Sprache) unter dem folgenden Link:
Aus Delhi und Calcutta (Kolkata):
http://infochangeindia.org/200506185561/Agenda/Access-Denied/Safdarjung-Hospital-New-Delhi.html

– Danke fürs Lesen –

Dieser Text kann in Auszügen kopiert und (unter Angabe der Quelle) verbreitet werden. Alle Daten/Zahlen entstammen dem Magazin „Agenda“ (herausgegeben von InfoChange India).

Frau in Indien

Das neue Jahr ist noch nicht mal einen Monat alt, doch schon jetzt zeigt man ein überdurchschnittlich großes Interesse am Thema „Frauen & Sicherheit“. Vermutlich ausgelöst durch diverse Grabschattacken und eine Reihe Vergewaltigungen in Navi Mumbai, Goa und Rajasthan in den letzten Wochen, haben sich die indischen Medien dieses Thema sehr ausführlich zur Brust genommen. In dieselbe Kerbe schlug die Veröffentlichung neuer Statistiken durch das Innenministerium: das National Crime Records Bureau (NCRB) schreckte die Nation mit beängstigenden Zahlen hoch. Demnach werden pro Stunde 18 Frauen in Indien Opfer von Verbrechen.

„Verbrechen“ schließt ein (in Klammern die Fälle für 2006 und der Unterschied zum Vorjahr):
Vergewaltigung – (19.348, +5,4%)
Entführung – (17.414, +10,6%)
Mitgiftmord – (7.618, +12,2%)
Folter – (63.128, +8,2%)
Belästigung – (36.617, +7,1%)
Sexuelle Belästigung – (9.966, -0,2%)
Kinderhandel – (67, -55%)
Sati (-)
Fälle unter dem Immoral Traffic (P) Act, 1956 – (4.541, -23,1%)
Fälle unter dem Dowry Prohibition Act, 1961 – (4.504, +40,6%)
Fälle unter dem Indecent Representation of Women (P) Act, 1986 – (1.562, -46,5%)

Gesamt: 164.765

(Quelle: http://ncrb.nic.in/cii2006/cii-2006/CHAP5.pdf)

Eins der größten Probleme in Indien ist dabei die Zuverlässigkeit von offiziellen Daten wie diesen. Man darf davon ausgehen, dass ein beträchtlicher Teil der tatsächlich stattfindenden Straftaten ungeahnded und ungemeldet bleibt.

Der Nachrichtensender CNN IBN und die Tageszeitung Indian Express taten sich ebenfalls zusammen, um eine eigene Studie auf den Markt zu bringen: Wie sicher fühlen sich Frauen in Indien? (44% fühlen sich unsicher, 53% in Metropolen, 37% in Kleinstädten, 46% in Dörfern)
Weitere Daten dieser Studie gibt es hier.

Einmal in Gang gesetzt, rollte das Thema Frau weiter durch die indischen Medien. Überhaupt scheint es in letzter Zeit sehr viel über indische Frauen zu sagen zu geben.
CNN IBN hat das Programm „State of the Nation“ kürzlich ganz den Damen gewidmet und u.a. die Frage gestellt, wer die moderne indische Frau von heute überhaupt ist.

Oder ob sie sich sicher fühlt. Etc pp.

An den Reaktionen der Leser (als Kommentare auf der Webseite) lassen sich einige Gedanken nachvollziehen. CNN IBN ist in gewissem Sinne eine Art selbsternannter Aufklärungstintenfisch, der seine Tentakel in die Wohnzimmer Indiens zu stecken versucht zwecks Modernisierung. Nicht alle Zuschauer klatschen dabei zuversichtlich in die Hände.

Es ist kaum zu übersehen, wie gewisse Teile der Medien das Thema Frau und alles, was damit zusammenhängt, dieser Tage expandieren bis zum geht-nicht-mehr. Man darf sich aus dieser Überdosis im Brainstorming der Editoren künstlich gezeugter Emanzipation wenigstens erhoffen, dass Indien ein wenig Introspektion betreibt.

Gleichzeitig purzeln Nachrichten aus den Zeitungen, dass sich in den ländlichen Gegenden Indiens immer mehr sog. Nari Adalats bilden. Gerichte von und für Frauen. Das sind keine konstitutionellen Einrichtungen, sondern eine Art para-legale Authoritäten, schreibt die Hindustan Times. 1995 wurde das erste dieser Gerichte in Baroda im Bundesstaat Gujarat ins Leben gerufen. Heute gibt es davon 60 in 9 Staaten. Angaben dazu, wie viele Fälle diese Nari Adalats bisher gelöst haben, variieren je nach Quelle. InfoChangeIndia spricht von 1.200 Fällen zwischen 1995 und März 2001 in Baroda allein.
Diese Gerichte sind im Grunde genommen informell, da sie keine studierten Richter und Anwälte einstellen, aber sie fungieren nach demselben Schema und schaffen Balance im partriarchischen Hinterland, in dem u.a. Gram Panchayats für die Rechtssprechung auf dem Dorflevel verantwortlich sind. In den Nari Adalats werden Fälle von Schlichtern (immer Frauen) gelöst, indem zwischen den Parteien vermittelt wird. Dabei werden auch Morde und Vergewaltigungen behandelt.
Deepa Dhanraj hat einen gleichnamigen Dokumentarfilm über Nari Adalats gedreht, der u.a. auch auf dem Kasseler DokFest 2007 gezeigt wurde.

Weitere (sehr gut ausgewählte und weniger aufgeplusterte) Nachrichten zum Thema „Frauen in Indien“ findet man in regelmäßigen Abständen auf dieser Seite:

Poliofälle im nordindischen Bundesstaat Bihar gestiegen

Nicht zum ersten Mal berichtet die Tageszeitung heute über einen Anstieg in Poliofällen im nordindischen Bundesstaat Bihar: von 61 Fällen im Jahr 2006 auf 139 Fälle im Jahr 2007.

Im vergangenen Jahr gab es ähnliche Nachrichten aus dem angrenzenden Bundesstaat Uttar Pradesh: Die Mehrheit der 325 Poliofälle konzentrierte sich auf diesen Staat, den größten Indiens.
Eine Analyse der Daten machte die Behörden stutzig: 70% der Poliofälle betraf letztes Jahr Muslime, obwohl der muslimische Anteil der indischen Bevölkerung auf gerade mal 13% beschränkt ist.
Die Erklärung war schnell gefunden und noch schneller in den Medien verbreitet:
ultrakonservative muslimische Prediger hatten das Gerücht verbreitet, es handle sich bei dem Polioimpfstoff um eine Verschwörung der Regierung. Man wolle die Muslime sterilisieren, um den muslimischen Bevölkerungsanteil zu verringern.

Natürlich wurde auch erwähnt, dass Uttar Pradesh neben Fatwas gegen Polioimpfstoffe noch ein ganz anderes Problem hat: eine der chaotischsten Verwaltungen im Land. Schlecht ausgerüstete Krankenhäuser. Nicht genug medizinisches Personal. Große Anteile der Bevölkerung fielen schlichtweg wegen Mangel an Koordination, schlechter Infrastruktur und erschütternder Ausstattung durchs Raster.

Dieses Jahr ist Bihar an der Reihe. Das Problem ist dem heutigen Artikel im Indian Express nach ein anderes: Die Vernachlässigung des P3-Stranges. Man hatte sich, so der Bericht, bisher hauptsächlich auf den gefährlicheren P1-Strang konzentriert. Daher der Anstieg in Poliofällen, die meisten davon (105 von 139) P3.

Obwohl die Poliofälle in Indien von 1600 Fällen im Jahr 2002 bereits gefallen sind, muss man sich fragen, welche Hiobsbotschaften uns nächstes Jahr ereilen.

Statistiken des National Polio Surveillance Projects
Situation in Moradabad (Uttar Pradesh)

Kriminelle Kinder

HT veröffentlicht am 10. Dezember einen Artikel zum Thema kriminelle Jugendliche. („Young, restlesss and violent by Urvi Mahajani)
Hauptsächlich lässt HT Zahlen sprechen: Es wird ein sprunghafter Anstieg von kriminellen Vergehen unter Minderjährigen verzeichnet: von 8.888 Fällen 1996 auf 18.939 Fälle im Jahre 2005. Der Anteil jugendlicher Straftaten an der absoluten Zahl geahndeter Verbrechen ist von 0,5% (1996) auf 1% (2005) gestiegen. Die Gesamtzahl der zur Anzeige gebrachten Straftaten lag 1996 bei 1.764.629, 2005 bei 1.822.602. Diese Zahlen entstammen dem National Crime Records Bureau.

Der Artikel ist denkbar oberflächlich. Beispielsweise gibt es nicht einmal ansatzweise einen Abstecher in die Gefilde der Ursachenforschung, mal ganz zu schweigen davon, dass die o.g. Statistiken mannigfaltiger Deutung obliegen können. Ist die Zahl der Verbrechen unter Minderjährigen gestiegen oder wurden lediglich mehr Fälle zur Anzeige gebracht? Ist die Toleranz von kriminellen Jugendlichen in der Gesellschaft gefallen, oder ist die Gesellschaft generell aufgeklärter und aktiver, was die Verfolgung von Straftaten anbelangt? Da Anzeigen in Indien nicht notwendigerweise aufgenommen werden (korrupte Polizeibeamte weigern sich öfters), könnte man genau so gut davon ausgehen, dass die Polizei lediglich effizienter arbeitet?
Gleichzeitig muss man im Hinterkopf bewahren, dass die indische Gesellschaft immer jünger wird. Gibt es heute mehr kriminelle Kinder, oder ist die Zunahme der absoluten Zahl der Verbrechen unter Minderjährigen lediglich auf den prozentualen Anstieg der Jugendlichen an der Gesamtbevölkerung zurückzuführen? Sprich: werden indische Kinder brutaler, oder gibt es schlichtweg mehr Kinder?

Antworten auf diese Fragen stehen zumindest nicht in der Hindustan Times.

Wie auch immer man diese Zahlen nun zu interpretieren wünscht, so sticht doch heute Morgen eine weitere Nachricht ins Auge: Schulschießerei in Gurgaon an der Euro International School. Ein 13jähriger und ein 14jähriger haben ihren Klassenkameraden mit insgesamt fünf Schüssen in Kopf und Brustkorb hingerichtet. Mit einer offen im Fernsehkabinett herumliegenden Pistole. Grund: Sie wurden vom Opfer gehänselt.

Einen Tag später sticht ein Junge seinem Klassenkamerade mit einem Bleistift ins Auge . Grund: Er verdächtigte, gehänselt zu werden.