Gestern habe ich mir erlaubt, vier gegensätzliche Häppchen zum Thema „Frau“ zu präsentieren. Sie stammten alle aus derselben Quelle und waren nicht älter als eine Woche. Und heute möchte ich mir anlässlich des Frauentags ein paar Gedanken dazu machen.
In Indien ist man immer an erster Stelle männlich oder weiblich, und erst dann folgen die verschiedenen anderen Identitäten. Man ist sich seines Geschlechts jeden Tag sehr stark bewusst. Das liegt m.E. daran, dass sich der Verhaltenskodex für Männer und Frauen in Indien so drastisch unterscheidet. Das Verhalten der Frau unterliegt ständiger Kontrolle, und alles, was sie tut, reflektiert auf ihren Charakter und ihre Moral.
Hat sie männliche Freunde, ist sie freizügig.
Trinkt sie in der Öffentlichkeit Alkohol, hat sie keinen Anstand.
Raucht sie, kommt sie aus einer verlotterten Familie.
Trägt sie kurze Röcke, ist sie ein Flittchen.
Hat sie einen festen Freund, ist es schlimm um sie bestellt.
Geht sie abends tanzen, ist sie kaum mehr zu retten.
Heiratet sie gegen den Willen ihrer Eltern, hat sie keinen Respekt.
So einige meiner früheren Kommilitonen rauchen, trinken, hatten Freunde, bevor sie diese geheiratet hatten, zählen Männer zu ihren Freunden und lassen sich auch in der Öffentlichkeit von Facebook in Hot Pants ablichten. Das sind keine Dinge, die Indien ihnen erlaubt, weil Indien moderner wird. Es sind Dinge, die ihre Familie ihnen erlaubt, weil ihre Familie modern ist. Das ist was ganz anderes.
Die Mehrheit der Gesellschaft wird dafür wenig Verständnis haben.
Es gibt solche progressiven Inder, und obwohl sie anhand alter Maßstäbe bewertet werden, kümmern sie sich nicht darum. Das müssen sie auch nicht, weil sie nicht Teil des großen Indiens sind. Sie können es sich leisten, non-konform zu sein.
Selbiges gilt nicht für die Mehrheit.
Und es gilt auch nicht für diese progressiven Inder, wenn sie sich unglücklicherweise in einer Situation befinden, in der ihre Klasse sie nicht mehr beschützen kann.
Indien ist konservativ. Als Frau gilt es, seine Scham zu schützen. Was zählt ist nicht, wer du bist, was du tust, oder was du denkst, sondern wie der Rest der Welt dich sieht. Sieht er dich spät nachts in Begleitung von Männern aus einem Hotel kommen, dann kann es sein, dass falsche Schlüsse gezogen werden. Gibt man dann lediglich seinen leicht zerknitterten Parkschein ans Personal und lässt sich seinen Benz aus der Tiefgarage holen, ist das natürlich kein Problem. Gedenkt man aber noch ein Stück spazieren zu gehen, und ist just in dem Moment ein Mob zugegen, dann kann das durchaus zum Problem werden. Der Fall, als zwei solcher junger Frauen beim Verlassen eines Hotels von einem angetrunkenen Mob misshandelt wurden, ist in Mumbai bekannt.
Es passiert ständig. Ein Polizist vergewaltigt eine junge Frau. Warum? Nun, die Dame hat einen Freund. Also hat sie Lust auf Sex. Was macht das für einen Unterschied, ob ihr Freund es ihr besorgt oder der Polizist? Ebenfalls traurige Berühmtheit erlangt haben Fälle, in denen die Polizei schmusende Pärchen von bekannten Schmuseorten aufsammelt, zum Beispiel Bandstand in Bandra. Das Paar wird mit aufs Revier genommen: der Mann verprügelt. Mit der Frau macht man, wozu eine solche Frau eben gut ist.
Man mag darüber empört und ungläubig den Kopf schütteln. Woran mags liegen? An mangelnder Sexualkunde? An fortwährender Geschlechtertrennung? An unterdrückter Sexualität? An archaischen Moralvorstellungen? Am „Wert“ der Frauen in Indien? An der Religion?
Während eine Gruppe Frauen nach oben strömt, sich ihre Männer selber aussucht, Kinder später bekommt, Karriere macht und abends tanzen geht, geht es für die meisten Frauen einfach so weiter wie zuvor.
Und während das passiert, strömen immer mehr Bilder und Stimmungen aus dem Glorreichen Westen nach Indien, die zusammenhangslos interpretiert werden. Immer mehr Haut glitzert auf den überdimensionalen Werbetafeln. Das alles sind nur Dinge. Mit der Wertvorstellung passiert rein gar nichts. Zumindest nicht mit der Wertvorstellung der Männer.
Ich hatte schon ein paar heiße Diskussionen zu diesem Thema in diesem Blog. Da wollten mir Leute erzählen, dass Indien moderner wird, dass man jetzt Hand-in-Hand gehen kann oder sich in der Öffentlichkeit küssen kann. Dass man kurze Röcke tragen kann. „Also ich hab ständig Inderinnen in kurzen Röcken gesehen.“ Solcher Mumpitz.
Für mich ist die relevante Frage doch die: Kann ich Bentley in der Öffentlichkeit küssen und umarmen und einen kurzen Rock tragen, ohne dass man mich für eine Schlampe hält? Nein, kann ich nicht.
Nein. Kann. Ich. Nicht.
Mich hat noch keiner in den Busch gezerrt. Mich hat man schon Nutte genannt, mich gefragt, was ich koste oder ob ich mal für eine halbe Stunde mitkomme. Arschlöcher gibts überall. Das war toll. Aber wichtig für mich ist folgendes: fühle ich mich wohl, wenn ich mit Bentley im Touristenbusch wie Jaisalmer in ein Hotel einchecke? Fühle ich mich wohl, wenn ich weiß, dass mir zwar rein gar nichts passieren und ich den Urlaub dort sicher überstehen werde, dass man sich aber über mich das Maul zerreißt? Dass man sich vorstellt, wie es wohl wäre… Dass man sich fragt, wie viel Bentley für mich zahlt? Macht mir das Spaß?
Macht es mir Spaß, wenn man mich im Geschäft ignoriert, weil ich eine Frau bin und keine Ahnung habe?
Macht es mir Spaß, wenn ich für Bentley mal was neckisches kaufen möchte und mich gleich drei männliche Verkäufer umgarnen mit Sabber in der Fresse?
Es macht mir gar keinen Spaß.
Fakt ist: du kannst in Indien so ziemlich alles tun, was du willst. Aber es macht nicht wirklich immer Spaß.
Ich bin auch ziemlich paranoid geworden, was meinen Beziehungsstatus zu Bentley anbelangt. Ich trage immer, immer mein Mangalsutra. Sollen alle wissen, dass ich keinen Stundenlohn von ihm bekomme! Und oft schleppe ich Roma als Alibi mit, obwohl ich sie abgeben könnte. Sollen alle sehen, dass ich ein Baby hab. Ich bin rein. Ich bin eine Mutter. Ich falle darum in Indien in eine geheiligte Kategorie. Ohne Witz: darüber gibts Studien. Sudhir Kakar schreibt, das Image der Frau ist in Indien zweigeteilt: die Hure und die Mutter. Dürft ihr drei Mal raten, in welche Kategorie ich gern falle.
Meine Moral wird regelmäßig überprüft. Mein Wert als Person ist davon abhängig, wie ich mich verhalte. Natürlich kann ich auch die Sau rauslassen, und wenn ich das an einem Ort wie dem Hyatt in Goa tue, wo ich mich im Bikini am Pool bewege und mir abends mit Bentley in der Bar einen hinter die Binde kippe oder in voller Sicht knuddel, dann ist das ok und sicher für mich. Was schere ich mich um deren Wertvorstellung? Die sagen trotzdem alle ganz nette Höflichkeitsfloskeln zu mir und bedienen mich.
Aber was sie denken, das steht auf einem ganz anderen Blatt.
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Dieser Artikel ist keine soziologische Studie. Er reflektiert lediglich meine Sicht der Dinge und beinhaltet meine persönliche Meinung.