Die Spannung steigt

Sonntag, 5:53Uhr
„Mama? Ich will Cornflakes.“
Ein leises Stimmchen bohrt sich in mein Ohr. Verdammte Amygdala. Glaubt der winzige Hirnglibber doch tatsächlich, diese Information sei wichtig, und lässt mich davon aufwachen. |-|
Was mach ich jetzt? Nachdenken. Zeit schinden. Gute Idee!
„Wie heißt das?“
„Bitte.“ Ein wenig Petulanz mischt sich dem Stimmchen bei. Verflixt und zugenäht. Schnelle Auffassungsgabe… nicht gut. :no:
„Hmmpf.“

5:57Uhr
„Mama! Ich will jetzt Cornflakes!“
Hmmm. Bin ich doch tatsächlich weg ge dö….st.
„Mama! Gib mir jetzt Cornflakes.“
Ah, die Kunst zu schlafen. Immer. Überall. Egal wie laut die Umgebung. Herrlich. :yes:

So ein Sonntag ist eine ziemlich dämliche Erfindung. So viel Zeit. So unendlich viel Zeit.
Fingerfarben.
Wasserfarben.
Glückwunschkarte für Uroma basteln.
Boah, ist nicht bald mal Abend?
:yawn:

Tick. Tock. Tick. Tock. 23. Februar. Rechne, rechne. Kopfrechne. …
„Mama?“
Rechne….
„Mama!“
Noch ziemlich genau….
„Mama, ist heut Angucktag?“
„Was?“
„Ist heut Angucktag?“
8| „Nein.“ Rechne… Zehn… zwanzig…
„Aber ich will was angucken.“
„Nein.“ Reichlich zwei Wochen bis zur Prüfung. 88|
„Aber ich will!“
Minus Wochenende. Kindergartenfreitage. Feiertage. Faschingshalbtage. U-(
„Aber ich will angucken!“

Shrek Teil 1.
Memokarten durchgehen.
Weiß ich.
Weiß ich nicht.
Ich habe wunderschöne, übersichtliche, farblich codierte Memokarten zum Lernen gemacht. Das ist sinnvoll, pädagogisch äh… sinnvoll. Und man meint, man würde nebenbei was lernen. Und natürlich versetzt der Glaube Berge, einschließlich Berge zu bewältigenden Prüfungsstoffs. Nur nicht notwendigerweise auf den Weißich-Berg.

Mittag. Sonntag Mittag. Das Highlight der Woche.
Ich bereite voller Liebe eine Mahlzeit aus Pasta mit Zucchini und Shrimps zu. Wenig später lächelt uns auf den Tellern der heißeste Anwärter auf das miserabelste Essen 2014 an.
Oh Jerbina, wenn du wüsstest, wie sehr wir dich vermissen. Nach all der Zeit. :yes:

Nachmittag. Höhle bauen. Memory spielen (Kind gewinnt. Wir werden alt.) Basteln. Spielplatz. Baden.

Prüfungsfragen durchschauen. Weiß ich nicht. Weiß ich nicht. Weiß ich nicht. |-|

17:30Uhr
Endlich. Abendessen. Da niemand kochen wollte, gab es nur Käsebrot. Ich weiß nicht, was köstlicher war: Bentleys Gesichtsausdruck oder der Fraß vom Mittag. :))
18:30Uhr
Juhu. Madam entschindet in ihr Bett. Tasse Milch. Geschichte. Schicht im Schacht.

Happy Hours.

Um mich herum türmen sich Memokarten, Ordner, diverse Bücher. Ein strategisch platziertes Kissen federt den Aufschlag meines Schädels ab, als er nach hinten wegknickt. Lernen. Jetzt? :**:
Die Worte kullern im Kopf hin und her. Aber die Farben sind echt schön. Gelb für Intelligenz. Braun für Methodik. Rot für…. Die Wäsche muss noch in den Trockner! Schlurf. Schlurf.
Plötzlich wird alles klar: ich geh einfach schlafen. Der Gedanke allein ist kuschlig schön. Bentley rügt mich, dass 10 Stunden Schlaf eine ziemlich blöde Idee sind. Blöd sagt man nicht! :>>
Ist es wirklich erst 20:30Uhr? :zz:

Die Autorin, die früher einmal recht elegante Blogbeiträge verfasste, zögerte den Tag dank Game of Thrones noch bis 22Uhr hinaus, überflog das orangene Kapitel (Selbstkonzept & Selbstwertschätzung) und stempelte dann aus.
Sonntage. Gehören in der Prüfungszeit verboten. :yes:
Zusammen mit Samstagen. Feiertagen. Kindergartenschließtagen.
Und überhaupt.
:yes:

Sinn & Unsinn

Es ist Ewigkeiten her.
Und damit ist nicht mein letzter Blogbeitrag gemeint (über welchen Fakt ich drüberbürsten werde, indem ich einfach nüschd dazu sage).
Nein, es ist Ewigkeiten her, dass mein Englischlehrer in weißichnichtmehrwelcher Klasse sich einmal in einem dieser tragischen Monologe, denen Lehrer mitunter verfallen, darüber mokierte, dass Schüler Englisch einfach 1:1 ins Deutsche übersetzen würden. Oder umgekehrt.
Tja.
Lieber Herr IhrenNamenhabichleiderauchvergessen, wenn Sie nur wüssten! Schüler, sagen Sie? Alle! sage ich.

Es ging um den englischen Ausdruck „That doesn’t make sense“ oder „That makes no sense“. Herr — ging an die Decke: „Das ergibt keinen Sinn!“ donnerte er. „Im Deutschen macht man keinen Sinn. Man ergibt ihn. Man hat ihn. Aber man kann ihn nicht machen!“

Ich erinnere mich wie gestern. Ich schmücke das jetzt mal nachträglich aus: Die Schüler gaffen ihn verblüfft an. Schulischer Realismus pur, sozusagen. Diese jugendliche Mischung aus Ungläubigkeit und Faszination: Wie jetzt, die Hälfte meines Vokabulars soll falsch sein? Kann gar nicht sein! :yes:

Es ist Ewigkeiten her. Die Schüler von damals sitzten jetzt als Redakteure in Zeitungen, als Moderatoren im TV und als Dozenten an der Uni. Wobei man da steht. Ist auch gesünder. Und anders als ich haben diese Schüler von damals den epischen Ausdruck von Herrn — vergessen, so dass man heute liest und hört: „Das macht Sinn.“
Überall.

Ich weiß nicht, wann ich begann, darauf zu achten, doch inzwischen durchrieselt mich jedes Mal ein Schauer linguistischen Ekels. Vokabelneurotiker. ;D Kann ich nix für. :yes: Und nein: ich sehe auch keinen Zwiespalt darin, bereits über 1.600 Zeichen über dieses Thema philosophiert zu haben und gleichzeitg solche Sätze zu schreiben. Die hier. Ohne Verb. Ich darf das. Es ist nämlich nicht mein Beruf. Und Kohle krieg ich erst recht nicht dafür. Aber Die Anderen dürfen das nicht. :no:

Übrigens: es ist toll, wieder zu schreiben. :wave: Sollte ich öfter tun.*

*Ich darf auch ohne Objekt!

Blümchenblog

… es war mal wieder Zeit für etwas Schönes. Etwas Unschuldiges. Etwas bar jeden Aufregerpotenzials. Also lehnte ich mich über die Balustrade des Balkons oder steckte besser gesagt den Kopf zwischen den Anti-Einbruchs-Gitterstäben hindurch und sah sie dort unten im Kreis flattern. Turteln. Flirten. Sich näher kennenlernen. Zwei blaue Schmetterlinge. Wirklich einfach nur ein herrliches Kobaltblau im Gezweig des Baumes drei Stockwerke unter mir. Awwwwww, dachte ich mir. Was rege ich mich so auf? Ist doch alles schön hier! :yes:

Schmetterling

Diese Aufnahme stammt übrigens aus Mahuli. Ach Mensch, das ist schon wieder über ein Jahr her. Erst gestern wurde ich recht ruckartig daran erinnert, dass unser Goa-by-Car-Urlaub schon zwei Jahre zurückliegt. Kann gar nicht sein. Fühlt sich an wie gestern. Mit einem nicht ganz unbegründeten, nicht ganz unerwarteten Anflug von Bedauern denke ich an all die Orte, die ich in Indien noch nicht gesehen habe. Ich will reisen, reisen, reisen! Vor dem Gefühl, jetzt gleich sofort die Taschen zu packen, werde ich lediglich abgehalten, indem ich ganz bewusst an all die herrlichen Orte denke, die ich gesehen habe. Das ist eine ordentliche Liste. Das kann man durchgehen lassen. :yes:

Selbstmord.

Selbstmord ist in Indien mit über 100.000 Fällen pro Jahr nicht nur ein riesiges Problem, sondern auch ein Verbrechen. Wer einen Selbstmordversuch überlebt, kann verhaftet und bestraft werden. Wer einen Selbstmord unterstütz oder anstiftet, kann ebenfalls verhaftet werden.

Letzte Woche sprang die junge Lehrerin Nidhi in Mumbai vom Dach ihres 19-stöckigen Wohnhauses, aber nicht ohne vorher ihre zwei Kinder (3 und 6 Jahre) vom Dach zu werfen.

Ich möchte nichts über Selbstmord per se sagen. Warum die Rate in Indien seit den 80er Jahren um über 60% angestiegen ist. Warum so viele Hausfrauen und Kinder unter den Opfern sind. Oder weswegen Südindien als die Selbstmordhauptstadt der Welt bezeichnet wird. – Ich habe ein anderes Anliegen. Ich kann nämlich nicht fassen, dass „Anstiftung“ zum Selbstmord ein Verbrechen sein soll.

Nehmen wir doch mal Nidhi Gupta. Sie lebte in einer Großfamilie mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern, ihrem Schwager und dessen Frau sowie ihren Schwiegereltern.
Wenn Selbstmord ein Verbrechen ist, dann wird ein solcher Fall in Indien ganz anders gehandhabt als zum Beispiel in Deutschland. Selbstverständlich möchte man herausfinden, was wohl der/die Auslöser gewesen sein mögen? Doch diese Information hinsichtlich des Grundes für den Selbstmord dient lediglich dem Zweck, einen Schuldigen dingfest zu machen. Und hier kommt das sog. Anstiften ins Spiel.

Nidhi meinte in ihrer letzten Nachricht, niemand trage die Verantwortung für ihren Schritt. Ihr Vater jedoch hat inzwischen mit dem Finger auf Nidhis angeheiratete Familie gezeigt: sie sei psychisch gequält worden. Diese Anschuldigung hat schreckliche Folgen für die Familie Gupta: Der Ehemann sowie die Schwägerin wurde inzwischen verhaftet und sitzen bis zum 21. März in U-Haft, während Schwiegermutter und -vater gegen Rs.50.000 Kaution freigelassen worden sind.

Mich regt das tierisch auf.
Vielleicht stimmt es, dass Nidhi gequält worden ist. Doch das sagte sie in ihrer letzten Nachricht nicht. Sie hat niemanden beschuldigt. Sie hätte Gott und die Welt beschuldigen können, da sie schließlich von dieser Nachricht keinerlei Konsequenzen zu befürchten hatte. Sie ist ja immerhin tot. Stattdessen sprach sie alle frei.

Mutmaßen kann man viel. Doch das Opfer ist tot. Sie kann nichts mehr dazu sagen, und sie hat auch zuvor nichts dazu gesagt. Darum werden die Anschuldigungen auch in Zukunft Mutmaßungen bleiben.

Wie wurde Nidhi gequält?
Welche Argumente hat die Polizei bisher genannt?

„Nidhi’s suicide note says that she did not hold anyone responsible, but it needs to be investigated in detail. The fact that she first threw her children and then jumped off shows the extent of the harassment she was subjected to.“

(Nidhis Selbstmordnachricht sagt, dass sie niemanden für ihren Schritt verantwortlich macht, aber das muss detailliert untersucht werden. Die Tatsache, dass sie erst ihre Kinder vom Dach warf und dann selbst hinterher sprang, zeigt das Ausmaß der Schikane, welcher sie ausgesetzt war.)

Dieses sog. Argument ist ein Beispiel dafür, wie man ein Pferd von hinten aufzäumt. Wenn jemand Selbstmord begeht, ist das nicht zwangsläufig ein Beweis für Schikane, sondern zwingend ein Beweis für psychische Probleme.

„Nidhi felt that her in-laws were not paying adequate attention to her kids. So she never left her kids alone.“
„She had been putting up with the harassment for the last nine years. Her husband had many vices. She had hoped that Pawan would change for the better after the birth of their kids, but her wishes were never fulfilled.“

(Nidhi fand, dass ihre Schwiegereltern ihren Kindern keine angemessene Aufmerksamkeit schenkten. Also ließ sie ihre Kinder nie allein.
Sie hat neun Jahre lang mit diesen Schikanen gelebt. Ihr Ehemann hat viele schlechte Angewohnheiten. Sie hatte gehofft Pawan [ihr Ehemann] würde sich nach der Geburt der Kinder zum Besseren ändern, aber ihre Wünsche wurden nie erfüllt.“)

8|

Solche Lappalien laufen unter „Anstiftung“ zum Selbstmord. Für solchen Mumpitz kann man seine Karriere, seinen Ruf, sein Leben ruiniert haben.

Was ist denn beispielsweise „angemessene“ Aufmerksamkeit?
Und welche „diese Schikanen“ meint die Polizei?
Gibt es Menschen ohne schlechte Angewohnheiten?
Du kannst Menschen wegen solchem Humbug einen Strick drehen. Und – was noch erschreckender ist – Du selbst könntest morgen hinter Gittern landen, weil irgendwer keinen Ausweg sah und in Indien notwendigerweise jemand dafür den Kopf herhalten muss.

Kann das sein?

Ist das ok?

Inzwischen gibt es ein Meer aus Kerzen für Nidhi. Nidhi, das Opfer. Dass sie eine Doppelmörderin ist, die ihre beiden Kinder kaltblütig ermordet hat, interessiert kein Schwein. Dafür muss niemand gerade stehen. Dass Nidhi vom Dach sprang – ganz allein, ohne geschubst zu werden, und aus freiem Willen – dafür muss jemand gerade stehen.

Unglaublich. :no:

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Rahul übrigens, den dieser Fall schrecklich wütend macht, meinte trocken, die Polizei sei wohl so hinter dem Fall her, damit die Familie in die Enge getrieben werden kann, von wo aus sie dann eine Summe an Bakshish zahlen wird, damit man sie in Ruhe lässt. Man kann nur hoffen, der Betrag ist dann auch angemessen.

Noch ein paar Gedanken zum Thema Frau-sein in Indien

Gestern hab ich jede Menge dazu gesagt, wie man als Frau in Indien hinsichtlich seiner Moral bewertet wird, und dass herabwürdigende Meinungen die Norm anstatt die Ausnahme sind.
Heute möchte ich noch ein paar Gedanken hintenan hängen: Allen voran die Frage, warum man sich überhaupt von solcherlei Realitäten belästigen lässt, wenn man, wie ich das beschrieben habe, glücklicherweise zu denjenigen gehört, die es sich gesellschaftlich eigentlich leisten können, auf stur zu schalten.

Ich tue das absichtlich und bewusst nicht. Warum?

Es liegt auf der Hand, dass man als Teil einer indischen Familie und als festes Mitglied der Gesellschaft natürlich einen Gewissen Grad der Anpassung vorzeigen muss. Das versteht sich von selbst.

Es versteht sich auch von selbst, dass man auf sich aufpasst, damit man in keine mehr oder minder große Fettnäpfe tritt. Beim Kiranawallah um die Ecke Zigaretten gekauft? Den Fehler beging ich nur einmal zweimal, und das vor vielen Jahren. Am nächsten Tag hatte ich einen jungen Mann vor der Tür stehen, der meine Dienste in Anspruch nehmen wollte. Wir erinnern uns: Zigaretten – Schlampe. Es war Abend, es war dunkel, ich war allein zu Hause. Zu sagen, diese Situation wäre mir unangenehm gewesen, ist eine leichte Untertreibung.

Wir zogen um in ein Condominium mit Wachposten: da kann keiner einfach so vor deiner Tür stehen. Und nachdem wir über ein Jahr Stammkunden bei einem Kiranawallah gewesen waren, beging ich den Zigarettenfehler erneut. Diese Verkäufer (wie immer alles Männer) kannten mich. Die kannten auch meinen Mann. Aber dieser Gesichtsausdruck, als ich ne Packung Kippen verlangte, wird mir warnend in Erinnerung bleiben.

Das läuft in Indien so: wenn du fester Teil einer Gemeinschaft bist, fungiert das in zweierlei Richtungen. Du befolgst die Regeln der Gemeinschaft, und als Gegenzug schützt dich die Gemeinschaft. Bin ich also gerade beim Kiranawallah und kaufe ein und es kommt ein „Außenseiter“ und macht mich an, dann wird in diesem Falle der Kiranawallah zu meiner Hilfe eilen. Grundsätzlich funktionieren alle Gesellschaften so, aber in Indien mit seiner Hau-drauf-Mentalität und der prekären Situation als Frau finde ich es viel wichtiger als zum Beispiel in Deutschland, mich als angesehenes Mitglied der Gemeinschaft zu etablieren.

Das ist ein großer Grund für mich, mir keine Freiheiten herauszunehmen, die ich mir eigentlich leisten könnte. Aber es gibt noch einen Grund, und zwar einen, der in die Kategorie fällt: mein Beitrag für eine Bessere Welt.

Vorurteile sind hartnäckig. Sie sind zähe Biester. Nicht nur nimmt man Information, die das vorhandene Vorurteil unterstützt, schneller und intensiver wahr, sondern diese Information speichert man auch deutlicher und ruft sie schneller wieder ab als solche Info, die das Vorurteil in die Enge treiben könnten.

Weiße Frauen sind leichte Mädchen.

Es liegt in meinem persönlichen Interesse, dieses gängige Vorurteil zu zerschlagen. Das geht schlecht, wenn ich es unterstreiche. In Indien gibt es in den Köpfen der Menschen immer noch sehr starke Assoziationen zwischen Kleidung und Moral, und da ich das weiß, werde ich mich auch unter Einschränkung meiner Freiheit anpassen. Es wäre schön, wenn auch Touristinnen dies tun würden und ihre Möpse und Arschbacken besser verpacken würden, aber die meisten betrachten diese Thematik von einem egoistischen Standpunkt aus: mir wird schon nichs passieren.
Das ist zwar schön für die Dame, deren Unterwäsche hervorblickt, aber mit jedem Schritt zementiert sie das Vorurteil ein, und wenn sie nicht dafür zahlt, dann eben jemand anderes.

*

Natürlich wäre es schön, wenn sich die Dinge in Indien ändern. Es wäre schön, wenn man als Frau weniger verdinglicht wäre, als das der Fall ist.
Es ist aber nicht der Fall.
Und so lange das so ist, trage ich viel mehr zu einer besseren Zukunft bei, wenn ich dem Vorurteil des Leichten Mädchens entgegentrete, als dass ich es untermauere. Nur wenn ich die niederen Instinkte der Gaffer nicht mehr befriedige, kann sich etwas ändern.

Es ist mir völlig klar, dass ich damit nicht im Alleingang die Moral des Landes verbessere. Ehrlich gesagt sehe ich das aber auch nicht als meine Aufgabe. Indien gehört den Indern, und mit Rechten kommen Pflichten. Das ist für mich glasklar.
Für mich verhält sich das wie mit dem Plastikbecher, den ich in den Straßengraben werfe. Dort wars vorher schon dreckig, aber jetzt ist es um einen Plastikbecher schlimmer.
Und das ist schlimm.

Und warum regt es mich auf, was andere über mich denken?

Na ja, das ist ein Streitpunkt. Ich könnte sie ja ignorieren. „Lass die Leute reden und hör ihnen nicht zu…“
Aber es ist ja keine Lappalie. Wir reden nicht darüber, dass sich mein Nachbar über meine lila Hose scheckig lacht. Es geht hier um ein echtes Problem: Frauen sind eindeutig Menschen zweiter Klasse in diesem Land. Es ist wichtig, was die Leute/Männer denken. Im Kopf geht das alles los, und im Kopf muss sich zuerst was ändern.

Und nicht zuletzt ärgere ich mich natürlich darüber. Das ist auch wichtig. Wenn ich mich daran gewöhne, wenn es mich nicht jeden einzelnen Tag wurmt, wenn es mich nicht rasend macht: bin ich dann kein stillschweigender Komplize? Mach ich dann nicht indirekt mit?
Ein stilles Opfer ist ein nutzloses Opfer.

Jetzt müssen Inder nur noch die Zusammenhänge erkennen.

Und bis es so weit ist, mach ich weiter, wie bisher. :yes:

Gedanken zum Frau-sein in Indien

Gestern habe ich mir erlaubt, vier gegensätzliche Häppchen zum Thema „Frau“ zu präsentieren. Sie stammten alle aus derselben Quelle und waren nicht älter als eine Woche. Und heute möchte ich mir anlässlich des Frauentags ein paar Gedanken dazu machen.

In Indien ist man immer an erster Stelle männlich oder weiblich, und erst dann folgen die verschiedenen anderen Identitäten. Man ist sich seines Geschlechts jeden Tag sehr stark bewusst. Das liegt m.E. daran, dass sich der Verhaltenskodex für Männer und Frauen in Indien so drastisch unterscheidet. Das Verhalten der Frau unterliegt ständiger Kontrolle, und alles, was sie tut, reflektiert auf ihren Charakter und ihre Moral.
Hat sie männliche Freunde, ist sie freizügig.
Trinkt sie in der Öffentlichkeit Alkohol, hat sie keinen Anstand.
Raucht sie, kommt sie aus einer verlotterten Familie.
Trägt sie kurze Röcke, ist sie ein Flittchen.
Hat sie einen festen Freund, ist es schlimm um sie bestellt.
Geht sie abends tanzen, ist sie kaum mehr zu retten.
Heiratet sie gegen den Willen ihrer Eltern, hat sie keinen Respekt.

So einige meiner früheren Kommilitonen rauchen, trinken, hatten Freunde, bevor sie diese geheiratet hatten, zählen Männer zu ihren Freunden und lassen sich auch in der Öffentlichkeit von Facebook in Hot Pants ablichten. Das sind keine Dinge, die Indien ihnen erlaubt, weil Indien moderner wird. Es sind Dinge, die ihre Familie ihnen erlaubt, weil ihre Familie modern ist. Das ist was ganz anderes.
Die Mehrheit der Gesellschaft wird dafür wenig Verständnis haben.

Es gibt solche progressiven Inder, und obwohl sie anhand alter Maßstäbe bewertet werden, kümmern sie sich nicht darum. Das müssen sie auch nicht, weil sie nicht Teil des großen Indiens sind. Sie können es sich leisten, non-konform zu sein.
Selbiges gilt nicht für die Mehrheit.
Und es gilt auch nicht für diese progressiven Inder, wenn sie sich unglücklicherweise in einer Situation befinden, in der ihre Klasse sie nicht mehr beschützen kann.

Indien ist konservativ. Als Frau gilt es, seine Scham zu schützen. Was zählt ist nicht, wer du bist, was du tust, oder was du denkst, sondern wie der Rest der Welt dich sieht. Sieht er dich spät nachts in Begleitung von Männern aus einem Hotel kommen, dann kann es sein, dass falsche Schlüsse gezogen werden. Gibt man dann lediglich seinen leicht zerknitterten Parkschein ans Personal und lässt sich seinen Benz aus der Tiefgarage holen, ist das natürlich kein Problem. Gedenkt man aber noch ein Stück spazieren zu gehen, und ist just in dem Moment ein Mob zugegen, dann kann das durchaus zum Problem werden. Der Fall, als zwei solcher junger Frauen beim Verlassen eines Hotels von einem angetrunkenen Mob misshandelt wurden, ist in Mumbai bekannt.

Es passiert ständig. Ein Polizist vergewaltigt eine junge Frau. Warum? Nun, die Dame hat einen Freund. Also hat sie Lust auf Sex. Was macht das für einen Unterschied, ob ihr Freund es ihr besorgt oder der Polizist? Ebenfalls traurige Berühmtheit erlangt haben Fälle, in denen die Polizei schmusende Pärchen von bekannten Schmuseorten aufsammelt, zum Beispiel Bandstand in Bandra. Das Paar wird mit aufs Revier genommen: der Mann verprügelt. Mit der Frau macht man, wozu eine solche Frau eben gut ist.

Man mag darüber empört und ungläubig den Kopf schütteln. Woran mags liegen? An mangelnder Sexualkunde? An fortwährender Geschlechtertrennung? An unterdrückter Sexualität? An archaischen Moralvorstellungen? Am „Wert“ der Frauen in Indien? An der Religion?

Während eine Gruppe Frauen nach oben strömt, sich ihre Männer selber aussucht, Kinder später bekommt, Karriere macht und abends tanzen geht, geht es für die meisten Frauen einfach so weiter wie zuvor.
Und während das passiert, strömen immer mehr Bilder und Stimmungen aus dem Glorreichen Westen nach Indien, die zusammenhangslos interpretiert werden. Immer mehr Haut glitzert auf den überdimensionalen Werbetafeln. Das alles sind nur Dinge. Mit der Wertvorstellung passiert rein gar nichts. Zumindest nicht mit der Wertvorstellung der Männer.

Ich hatte schon ein paar heiße Diskussionen zu diesem Thema in diesem Blog. Da wollten mir Leute erzählen, dass Indien moderner wird, dass man jetzt Hand-in-Hand gehen kann oder sich in der Öffentlichkeit küssen kann. Dass man kurze Röcke tragen kann. „Also ich hab ständig Inderinnen in kurzen Röcken gesehen.“ Solcher Mumpitz.
Für mich ist die relevante Frage doch die: Kann ich Bentley in der Öffentlichkeit küssen und umarmen und einen kurzen Rock tragen, ohne dass man mich für eine Schlampe hält? Nein, kann ich nicht.

Nein. Kann. Ich. Nicht.

Mich hat noch keiner in den Busch gezerrt. Mich hat man schon Nutte genannt, mich gefragt, was ich koste oder ob ich mal für eine halbe Stunde mitkomme. Arschlöcher gibts überall. Das war toll. Aber wichtig für mich ist folgendes: fühle ich mich wohl, wenn ich mit Bentley im Touristenbusch wie Jaisalmer in ein Hotel einchecke? Fühle ich mich wohl, wenn ich weiß, dass mir zwar rein gar nichts passieren und ich den Urlaub dort sicher überstehen werde, dass man sich aber über mich das Maul zerreißt? Dass man sich vorstellt, wie es wohl wäre… Dass man sich fragt, wie viel Bentley für mich zahlt? Macht mir das Spaß?

Macht es mir Spaß, wenn man mich im Geschäft ignoriert, weil ich eine Frau bin und keine Ahnung habe?
Macht es mir Spaß, wenn ich für Bentley mal was neckisches kaufen möchte und mich gleich drei männliche Verkäufer umgarnen mit Sabber in der Fresse?

Es macht mir gar keinen Spaß.

Fakt ist: du kannst in Indien so ziemlich alles tun, was du willst. Aber es macht nicht wirklich immer Spaß.

Ich bin auch ziemlich paranoid geworden, was meinen Beziehungsstatus zu Bentley anbelangt. Ich trage immer, immer mein Mangalsutra. Sollen alle wissen, dass ich keinen Stundenlohn von ihm bekomme! Und oft schleppe ich Roma als Alibi mit, obwohl ich sie abgeben könnte. Sollen alle sehen, dass ich ein Baby hab. Ich bin rein. Ich bin eine Mutter. Ich falle darum in Indien in eine geheiligte Kategorie. Ohne Witz: darüber gibts Studien. Sudhir Kakar schreibt, das Image der Frau ist in Indien zweigeteilt: die Hure und die Mutter. Dürft ihr drei Mal raten, in welche Kategorie ich gern falle.

Meine Moral wird regelmäßig überprüft. Mein Wert als Person ist davon abhängig, wie ich mich verhalte. Natürlich kann ich auch die Sau rauslassen, und wenn ich das an einem Ort wie dem Hyatt in Goa tue, wo ich mich im Bikini am Pool bewege und mir abends mit Bentley in der Bar einen hinter die Binde kippe oder in voller Sicht knuddel, dann ist das ok und sicher für mich. Was schere ich mich um deren Wertvorstellung? Die sagen trotzdem alle ganz nette Höflichkeitsfloskeln zu mir und bedienen mich.

Aber was sie denken, das steht auf einem ganz anderen Blatt.

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Dieser Artikel ist keine soziologische Studie. Er reflektiert lediglich meine Sicht der Dinge und beinhaltet meine persönliche Meinung.

Seedha

Es ist rot. Schon mindestens fünfzehn Sekunden lang. Meine Lungenbläschen geben ein kleines poppiges Geräusch von sich, bevor sie Hops gehen: Wie Popcorn. Nur fataler. Definitiv fataler. Ich beginne mich zu winden. Nach links. Nach rechts. Auf der Suche nach einer eventuell hoffentlich vorhandenen Sauerstoffblase irgendwo im Smog der Kreuzung. Vor mir, neben mir, hinter mir stottern die Auspuffe. Meine Rickshaw lässt den Motor ebenfalls laufen; das Gefährt vibriert, damit die geplatzten Lungenbläschen nach unten kullern. Sedimente im Straßenverkehr.

Neben mir parkt ein Roller. Die Fahrerin trägt Stulpen: Handschuh, die den ganzen Arm bis hinauf zur Schulter laufen. Aus dünner aber sonnenfester Baumwolle, damit Smog und UV-Strahlen ihr nichts anhaben können. Wenigstens nicht den Armen. Nun, Santosh Desai schrieb einmal in seiner Times of India Kolumne City City Bang Bang dass diese Armstulpen ein Teil von Mofussil-Indien (Kleinstadtindien) seien. Ich fand diesen Fakt damals schon genau so unsinnig wie viele seiner Fakten und mindestens halb so unsinnig wie sein Buch: The Tiger, The Elefant and the Cellphone. Armstulpen sieht man überall. Aber – wie so oft – nur mit offenen Augen. 😉

Egal.

Während ich gedanklich noch etwas über Desai abläster, bemerke ich, wie die Pflastersteine neben dem Roller absacken. Wir haben enormen Wellengang dort vorn auf der Kreuzungsmitte. Nur ohne Wasser. Und aus der Mitte entspringt ein Gullideckel, der ob seiner obskuren Umgebung eher aussieht wie ein Blindgänger aus dem Zweiten Weltkrieg. Wenn nachts ein Motorrad hier lang fährt, wird er vermutlich dieselbe Wirkung haben. Konstruktionen wie diese sind auch der Grund dafür, dass indische Vehikel scheinbar ohne Grund bremsen: weil sich Ungetüme undefinierbarer Natur vor ihnen aufbäumen. Ganz plötzlich! Bentley genoss kürzlich das wunderbare Vergnügen, hinter einem solchen plötzlich stoppenden Vehikel zu fahren. Das passierte auf dem Western Express Highway auf dem Weg zur Arbeit: Bentley kam zum Stehen. Nicht so das Motorrad hinter ihm. Und auch nicht acht weitere Autos. Bentley meinte, es war beinahe lustig, wie er acht mal einen Aufprall spürte. Der Motorradfahrer stieg ab und brauste schon mal vorsorglich auf:
WasSollDasWarumBleibstDuStehenDasKannJaWohlNichtWahrSein!
Die acht anderen waren inzwischen ebenfalls dabei auszusteigen und sich den Schaden anzuschauen.
Der Motorradfahrer betrachtete sein Gefährt: Hm, gar nix kaputt.
Bentley fragt: Und? Wo ist das Problem?
– Also ich hab kein Problem.

Bentley meint daraufhin: Worauf warten wir dann. Fahrn wir einfach.
Und so fuhren sie und ließen die anderen acht streiten.
Beim Erzählen wars lustig.

Typische Situation in Indien.

An meiner Kreuzung hingegen gehts endlich weiter. Ampelschaltung sei Dank! Der Rickshawmotor schnurrt und wir brausen über die hügeligen Straßen 500m weiter zur nächsten Kreuzung, welche, Ampelschaltung sei Dank, natürlich ebenfalls Rot ist. Das ist Absicht. Bei Grüner Welle verdienen die Bettler nichts. Ein Hijra in einer unästhetischen Ockernuance steckt den Kopf zu mir herein. Ich erteile meine zertifizierte BettelStop© Geste. Brauch ich aber nicht: Er ist geübt und hat das Gesamtbild des NichtSpenders bereits erfasst, winkt auf eine mich faszinierende Art und Weise zu sich selber ab und marschiert stolz zur Rickshaw vor mir. Schnell: Alles in Mumbai muss schnell gehen. Phataphat.

Das Wort phataphat erinnert mich an E. Ich hab sie seit ca. einem anderthalben Jahr nicht mehr gesehen. Sie wohnt ungefährt vier Kilometer von uns entfernt. Sie hat keine Zeit. Sie macht nie einen Satz ohne phataphat. Und sie kann Bombil Fry wie niemand sonst in dieser Welt. Außer Gajalee. Mein letzter Bombil Fry ist schon zwei Wochen her. Das Wasser läuft mir beim Tippen im Munde zusammen. Phataphat zurück zur Kreuzung.

Heiß. Smog. Pfui.

Ich erinnere mich an den SchwitzPo. Das kriegst du in Indien, wenn du bei n+(Wahnsinn)ºCelsius in der Rickshaw sitzt und dein Hintern verständlicherweise durch den Kontakt mit dem Kunstlederbezug der Rickshaw um Atem ringt. Das gibt geile Abdrücke. Macht sich besonders gut, wenn man, wie ich, indische Handarbeitsklamotten mit Blockprint trägt. Da verlaufen die Farben so schön ineinander. :))

Auf einer Verkehrsinsel neben mir liegt ein Baby im Schatten einer Plastikplane, welche provisorisch an einem Schild befestigt ist. Es liegt dort so rum. In der Hitze. In der Höhe der Auspuffe. Ich röchel und schnappe nach Luft. Das Baby liegt dort den ganzen Tag. Das ist nichts, das ich sehen will, wenn ich auf dem Weg in den Konsumtempel bin. Das ist nichts, dass ich überhaupt zu irgendeinem Zeitpunkt sehen will. Ich kann nicht weggucken. Kinder zu haben ist etwas ganz gemeines: Du brichst beim Anblick des Trailers (Jawoll, des Trailoooooors!) zu RabbitHole in Tränen aus. Du schaffst es gerade noch so, die schmuddeligen Kinder im Park als schmuddelige Kinder abzustempeln, aber nur, weil sie Roma schubsen. Aber hier an der Kreuzung ist Ende der Fahnenstange. Nichts kann dich vor masochistischen Gedanken schützen: Was wird aus dem Baby? Ich meine: jemals? Es liegt da in perverser Hitze auf der Verkehrsinsel und spielt mit einem Stückchen Band, das von seinem PlastikplaneSonnenschutz runterbaumelt. Das ist die Kindheit an der Kreuzung. Das Spielzeug des menschlichen Abfalls dieser Stadt.

Toll.

Ich werde mich später gegen Donuts aber für eine Packung glasierter Macademias entscheiden.
Und für ein Buch mit Quietschnase für Roma.
Für „Unbound – Indian Women @ Work“ und „Beautiful Things„.
Wenn ich nach Hause komme, stolpert Roma gerade über ein Meer aus Kissen. Auch bei uns herrscht Wellengang: blaue Kissen mit FabIndia-Bezügen.

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Seedha ist Hindi und bedeutet: geradeaus.

Das Gewissen

Seife. Zahnpasta. Spülmittel. Haarwäsche Shampoo. Mundspülung. Gesichtsreiniger. Waschmittel. Gülle Toilettenspülung. Desinfektionsmittel. Bleiche. Weichspüler. Duschgel. Haarspülung. Haarfarbe. Pflegespülung. All das und noch viel meer mehr rinnt jetzt durch die Abwasserrohre. Rein in die Kanalisation/Gräben. Dreimal links und fünfmal rechts abbiegen. Rein in die Sturmwasserkanäle. Und dann ab… ins Meer. Ins weite, weite Meer.

Indien hat nicht genug Abwasserkläranlagen für den Dreck, den wir produzieren. Nur 35% des Abwassers werden behandelt. Der Rest fließt so, wie Haushalte und Industrie ihn geschaffen haben, unbehandelt ins weite, weite Meer.

Das Meer
Das weite, weite Meer vor Carter Road, Bandra (Mumbai/Bombay)

Gänsehaut. Aufgestelltes Nackenhaar. Migräne. Ekel. All das und noch viel mehr.

Ich halte eine Probepackung Cif in Händen. Das ist so ein Mädchen für alles. Alles, das sauber sein soll. Drei Tropfen auf den Herd. Rubbel-rubbel. Strahlender Glanz. Lappen auswaschen. Cif im Meer. Im weiten, weiten Meer. Was wohl die Fische dazu sagen? Zwei Fischfilet im Gefrierfach. Lecker.

Cif und all die anderen Produkte, die Indien heute – werbeinduziert – benutzt, stets auf der Suche nach dem weißesten Weiß, 99,9% toten Bakterien und streifenfreien Glanz: All das fließt ins Meer. Ein Primetime-Werbeblock auf einschlägigen Unterhaltungskanälen befördert ein äußerst bedrückendes Bild zu Tage: Indien bekommt die Angst vor Killerbakterien und Schmutz eingehämmert, auf das in Zukunft noch mehr Desinfektionsmittel benutzt werden. Das ist toll. Für die Fische. Die haben schließlich auch ein Hygienebewusstsein.

Das heißt nun also, dass man bei jedem Tropfen Spülmittel ein seltsames Ziehen verspürt. Und es stellt sich die Frage: Lass ich die Mundspülung heute mal weg? Brauch ich wirklich eine Pflegespülung? Nehm ich einfach „273 in 1“-Shampoo. Oder? Oder? Oder?

Biologisch abbaubare Produkte gibt es hier nicht. Die Waschnuss vielleicht, doch so etwas benutzt in den Städten niemand. Was tun? Wie verklickere ich das meinem Gewissen? Wie viele Giftstoffe habe ich heute schon ins weite, weite Meer gejagt? Und gestern? Und letzte Woche? Und in den vergangenenn acht Jahren?

Und dann… ah ja dann fällt mir ein, dass ich ja noch ganz viele Videos zu bearbeiten habe. Dass mein Artikel noch nicht fertig geschrieben ist. Dass ich noch unbeantwortete Emails habe. Dass das Leben weitergeht. Hoffentlich auch im weiten, weiten Meer. – Die Kunst der Verdrängung ist eine Notwendigkeit. Wie der Bau von Kläranlagen.

Die Wut

Außerdem ist Indien beschäftigt. Wir feiern Ganesh Chaturthi. Ich gebe mir Mühe, die religiösen Bedürfnisse meiner Mitmenschen zu respektieren. Aber ich kann nicht. Es kotzt mich an, dass die Idole des Elefantengottes Ganesha am Ende dieses zehntägigen Festivals ins Meer geworfen werden. Zum Cif, sozusagen. Traditionell waren das vielleicht mal Lehmidole, die man mit natürlichen Farben angemalt hatte. Heute ist das stinknormaler industrieller Gips (PoP) mit bleihaltigen Farben. Es kotzt mich an.

Muss Indien so tun, als müssten sie erst noch Erfahrung machen? Wieso kann man nicht mal zur Abwechslung anderer Leute Erfahrung nutzen? Die der westlichen Welt zum Beispiel, die während der Industrialisierung dann schon bemerkte, dass den Fischen das Wasser nicht mehr schmeckt. Ich komme aus einer ehemaligen Textilstadt. Das Flusswasser hatte während der Besatzungszeit durch unsere Kammeraden jeden Tag eine andere Farbe. Nur Fische hatte es keine. Dann fiel das mal jemandem auf, und heute kann man wieder auf den Grund des Flusses blicken – es sei denn, ein Fisch schwimmt im Weg herum.

Muss Indien das erst lernen? Dann schlage ich vor, die „Verantwortlichen“ nehmen sich ihre Lieblingstasse aus dem Küchenschrank, gehen mal zum nächsten Fluss und nehmen einen Schluck der Plörre.

Aber wie gesagt, ich hab Videos zu bearbeiten und eigentlich gar keine Zeit. :lalala:

Wens interessiert:
Status of water supply and wastewater generation and treatment in Class-I cities and Class-II towns in India
A report by Central Pollution Control Board (2009)

Ehrlichkeit

Nachdem ich unlängst von den unterhaltsamen Lügen berichtete, zu welchen Verkäufer in ihrer Dreistigkeit neigen, ist es nun an der Zeit, auch mal etwas zum Thema Ehrlichkeit zu schreiben. Da Indiens Bewohner Extreme so lieb haben, ist auch der Wahrheitsgehalt dessen, was sie uns erzählen, zuweilen erschütternd.

Sonntag ist bei uns Obsteinkaufstag. Da wird der Kühlschrank für die Fressattacken der anstehenden Woche aufgestockt. Dies tun wir regelmäßig beim selben Händler, da wir davon ausgehen, dass dies positive Auswirkungen auf sein Verhalten uns gegenüber haben wird, sowohl auf den Preis, den wir mit ihm aushandeln, als auch auf die Qualität der Ware, die er uns andreht.

Wie wahr, wie wahr!

Bentley verlangte nach einem Kilo Äpfel. Washington Red hätten wir gern.
– „Sir, nehmen Sie die nicht. Da ist von fünfen immer einer schlecht“, meinte der Verkäufer.

Das hatten wir mürrischerweise auch schon feststellen müssen. Von außen kann man das nicht sehen, aber von innen sind sie mitunter braun.

Na gut, dann nehmen wir halt diese Sorte. Was kostet die?
– „160 Rupien pro Kilo.“ (Immerhin stolze 2,60€ am heutigen Tage.)
Ja gut, dann nehmen wir davon halt ein Kilo.
– „Sir, nehmen Sie die nicht. Die sind alt.“

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Es kann sich ja keiner vorstellen, wie ehrlich das ist in einem Land, in dem der schimmligste Apfel einem noch als „Fresh, Sir!“ angedreht wird.

Ach Menno, dann sag du uns doch, was wir kaufen sollen!
– „Sir, nehmen Sie die hier. Bessere hab ich nicht.“

Nun denn, die nahmen wir. Sie waren 40% günstiger als die Äpfel, die wir uns selber ausgesucht hatten. Es sind nicht meine Lieblingsäpfel, aber sie sind knackig und haben nicht mal ne olle Druckstelle. Andere Obsthändler kleben die Aufkleber nämlich auch mal gern über Druckstellen drüber, damit man sie nicht sieht.

Toller Obsthändler, gelle? Ich finde, so etwas sollte eine Erwähnung wert sein.

Historiker. Zensur. Mobgewalt. – Das schwer nachvollziehbare Indien.

Indien kehrt gerade wieder seine komplexe, schwer zu verstehende Seite nach außen. Es geht um das Verbot des Buches „Shivaji – Hindu King in Islamic India“ von James Laine. Dieses Buch wurde kurz nach seinem Erscheinen im Sommer 2003 verboten und verschwand vom indischen Markt. Passagen in diesem historischen Wälzwerk hatten Leser, vor allen Dingen aber andere Historiker und – aus Kalkül oder Prinzip – auch Politiker verärgert.

Woran lag das?
Schon allein der Titel des Buches stellte ein Problem dar. Das mehrheitlich Hindu-Indien kann auf gar keinen Fall jemals islamisch gewesen sein, selbst wenn es islamische Herrscher gehabt hat. Und als König kann Shivaji auch niemals ein Hindu gewesen sein. Höchstens als Person. Als König war er säkular.
Wichtiger allerdings war das letzte Kapitel des Buches, in dem sich Autor Laine „undenkbaren“ Fragen widmet. Wie könnte die Legende um Shivaji anders gedeutet werden? Gibt es alternative Interpretationen der Geschichte? Hätte er ein unglückliches Familienleben führen können? Hätte er eventuell überhaupt nicht an der damals gängigen Bhakti Bewegung interessiert sein können? Hätte er ein Harem haben können? Hätte es sein können, dass es schlichtweg in seinem Interesse gewesen war, ein Königreich zu basteln, anstatt eine Nation zu befreien? So lauten die Fragen des Autors. Bewusst provokativ. „Undenkbar“, eben.

Selbstverständlich, und das hätte Laine wissen müssen, gibt es keine alternative Interpretation der Geschichte. Es gibt nur eine Wahrheit.

November 2003

Der Verleger Oxford University Press zieht das Buch freiwillig vom Markt zurück. Noch gibt es dazu keinen wirklich bindenden Anlass, doch vermutlich hatte man gehofft, die Kontroverse so im Keim zu ersticken. Wunschdenken im indischen Kontext.

Gemäß hiesiger Logik kam es nach der Rücknahme des Buches (als es also niemand mehr kaufen und lesen konnte) zu Angriffen auf zum Beispiel das Institut, welches Laine während seiner Zettel- und Faktenwühlerei unterstützt hat.
Nachdem das Buch überhaupt nicht mehr im Binnenmarkt erhältlich war, wurde es verboten. Sowohl Laine als auch der Verlag wurden gemäß Paragraphen 153 und 153A zur Anzeige gebracht.
§153: Wantonly giving provocation with intent to cause riot.
§153A: Promoting enmity between different groups on grounds of religion, race, place of birth, residence, language, etc., and doing acts prejudicial to maintenance of harmony

So richtig bizarr wird es, wenn man bedenkt, dass das Buch im Sommer 2003 zunächst mittelprächtig anlief und gar einige positive Rezensionen in der indischen Presse erhielt. Stand in den Regalen neben Hillary Clintons neuem Wälzer, wurde gekauft, gelesen und weggeräumt. Es dauerte eine ganze Weile, bis jemandem auffiel, dass der nationale Held Shivaji darin absichtlich in die Gosse gezogen wurde.

Juli 2010

Der Supreme Court Indiens hat das Verbot des Buches jüngst wieder aufgehoben, doch der beleidigte Staat Maharashtra weigert sich, das Buch wieder zuzulassen. In anderen, erschütternderen Worten: Die Exekutive hat einfach keinen Bock auf die Anweisung der Judikative. Weil das Buch doof ist und damit Basta!
Um sich in Zukunft nicht mehr von den wirren Herren in ihren Roben reinschnattern lassen zu müssen, erwog Maharashtra in Folge der ollen Panne gar, ein nagelneues Gesetz einzuführen. Zum Schutze ehrwürdiger Personen, deren Ansehen nicht beschmutzt werden darf. „Anti-Defamation Law“ nennt sich dieser Geistesblitz, und ob es je dazu kommen wird, beobachten wir weiterhin.

Doch die eigentliche Frage bleibt doch bestehen. Warum gibt es Figuren, die so „ikonisch“ sind (dieses Wort wird im geplanten Gesetz benützt), dass ich nichts über sie sagen/schreiben darf, das anstößig sein könnte. Wer sind diese Ikonen? Was macht sie so unantastbar? Was ist anstößig? Und wer entscheidet das überhaupt?

Es ist durchaus beängstigend, wenn man bedenkt, dass nicht einmal leichteste Kritik an einem Herrn Shivaji geäußert werden darf. Was würde mit mir passieren, wenn ich einen lustigen (oder auch nicht lustigen) Cartoon über Shivaji zeichne? Oder wenn ich mir einen anderen Nationalhelden vornehme? Vermutlich wäre es reiner Selbstmord (in Indien strafbar!), wenn ich Gandhi mit einer Schüssel Hühnersuppe skizzieren würde. Mit solchen großen Namen ist nicht zu spaßen. Gandhi durfte nicht einmal unbestraft für ein Produkt des Hauses Mont Blanc benutzt werden, da ein Luxusfüllfederhalter nicht zum Spinnradhelden passt. Und versteckt sich in dem nicht existenten, frisch von mir geschöpften Wort Spinnradheld etwa den Mahatma verletztende Ironie? Muss ich aufs Schafott?

Vielleicht ist es ja wünschenswert, wenn man Ikonen pflegt. Wenn eine Nation nichts auf seine Helden kommen lässt. Vielleicht poliert das das nationale Image etwas auf. Definitiv etwas, das Deutschland gebrauchen könnte, was mit seiner beknackten Bildzeitungsattitüde. Doch würde ich für einen solchen das deutsche Ego hätschelnden, unantastbaren Held mit Zensur, Selbstzensur und Gewalt zahlen wollen? Würde ich mir Schuhcreme ins Gesicht schmieren lassen wollen, wie es einem der involvierten Professoren ergangen ist? Doch wohl eher nicht. Lieber seh ich die Kanzlerin, die ich respektiere, in einer Karikatur barbusig unter der Bettdecke schlummern, wie das auf einem alten Eulenspiegelexemplar der Fall war, welches ich jüngst entsorgt habe.

Wir werden den Fall beobachten müssen.