Über Kinderfeindlichkeit

Nichtsahnend besuchte ich heute die Postfiliale. Madame Blümchen saß im Buggy und wurde von mir chauffiert. Am Schalter traf ich einen Mann mit drei Paketen unterm Arm, der mich prompt vorwinkte. Während ich mit der Postangestellten am Schalter sprach, schaute er das Blümchen an, das gerade hingebungsvoll an einem kleinen Schokoweihnachtsmann lutschte.

„Na du, Kirschäuglein!?“ sagt er.

Ich dreh mich um: „Na das ist aber mal ein süßes Wort“, antworte ich. „Wir werden es uns merken.“

„Sie ist doch ein kleines Kirschäuglein!“ protestiert er und lächelt.

KirschäugchenKirschäuglein.

Kein Einzelfall. Genau genommen sogar der Regelfall. Wir sind noch nicht lange in Deutschland, und daher fällt es mir sehr stark auf: die vielen Blicke. Wildfremde Menschen fangen an, mit dem Blümchen zu sprechen, nennen sie alle möglichen niedlichen Dinge und stecken uns häufig sogar Freebies zu. Von Taschentüchern über Süßigkeiten/Snacks und kleinen Spielsachen war schon alles dabei. Kleinigkeiten, natürlich, aber sie haben alle eins gemeinsam: sie sind Ausdruck einer positiven, willkommen heißenden Grundstimmung gegenüber Kindern.

Das überrascht mich nicht. Ich gehe eigentlich nicht davon aus, dass die Menschen garstige Kreaturen sind. Aber es erinnert mich an den oft benutzten Spruch: Deutschland sei kinderfeindlich. Und ich frage mich, was damit wohl gemeint ist?

Das Land per se kann ja nicht gemeint sein. Es gibt für Familien unzählige Zusprüche und Vergünstigungen. Öffentliche Verkehrsmittel sowie die meisten Geschäfte und Einrichtungen sind mit Kinderwagen leicht begehbar. Enorm viele Arztpraxen, Geschäfte, öffentliche Einrichtungen wie Ämter etc. sind mit Spielecken ausgestattet. Überall bekommt man Freebies für Kinder hinterher geworfen. Es gibt gute Kinderbetreuung.
Wo ist die Kinderfeindlichkeit?

Auch der Grundtenor in der Haltung der Menschen ist meinen Beobachtungen nach nicht im geringsten negativ oder gar ablehnend. Bisher hatte ich nur eine einzige offene Anfeindung, und das war von einem Zweierpack alter Schrannen, die – dem verbeulten Gesichtsausdruck nach zu urteilen – sogar George Clooney davon gescheucht hätten. Und da weiß man ja, was von man solchen Leuten zu halten hat. 😉

Auch erliege ich nicht dem Irrglauben, meine Tochter sei die Schönste von allen und ernte darum so viel Zuspruch. Wie absurd das wäre. Sie ist einfach nur ein Kind, mit durchschnittlich gutem Benehmen. Wir sind weder VIPs noch Sonderfälle. Ich glaube, wir sind die Norm.
Und ich glaube, das Verhalten, das ich bisher beobachtet habe, ist auch die Norm.
Wo ist die viel beschworene Kinderfeindlichkeit?

Keim-Country

Ich kenne die Blicke: das amüsierte Interesse, wenn man dem mitteleuropäischen Gesprächspartner offenbart, man hätte knapp zehn Jahre in Indien gelebt. Oder der perplexe Schock. Der höflich übertünchte Ekel. Das kokett-ironische Grinsen. Ich kenn das. Diverse Abstufungen ein und derselben Emotion: Überlegenheit. Indien ist ja schließlich ein schmutziges Land.
Man kann von Glück sprechen, ein solches Abenteuer zu überleben.
An jeder Ecke lauert der Keim.
Nichts kann man konsumieren, weder Wasser noch Speisen.
Todbringende Gefahren wohin das Auge blickt.
:yawn:

Frischer FischFrischer Fisch unter dem Messer
Nur knapp dem Tode entronnen?
Nicht die Fische!
Wir!?

Man stelle sich also meinen Unmut vor, wenn mein Kind, das 21Monate in diesem Sumpf der Seuche ohne Krankheit überstand, nach Einwanderung ins sterile Abendland eine Krankheit nach der anderen abarbeitet wie Gebetsperlen. |-| Ich könnte vorgeben, der Kindergarten sei Keim-Country, aber machen wir uns nichts vor: dem Blümchen fallen schon länger die Blätter ab, als sie in den Kindergarten geht. Kaum hat man mal zwei Tage Ruhe, geht das alles von vorn los. Den garstigen Keimen Indiens trotzt sie wie Unkraut, und im schönen G-Town macht sie einen auf Mimose.

Das war klimatisch, essenstechnisch und generell ja zu erwarten, ist aber doch ironisch. Irgendwie. Und vielleicht eine Lehre für Menschen, die sich ins bakterielle Hotbed Indiens begeben möchten: Man kann so etwas völlig gesund überleben. Aber bei der Rückkehr nach Deutschland ist Vorsicht geboten: die haut einen manchmal um. :yes:

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Zum Thema passt übrigens ein älterer Artikel über Fleischereien in Indien, welcher während unserer Delhi-Zeit entstanden ist.
Klickst du hier: Macheten, Zehen & Fleischermeister

Der vorletzte Abend

Morgen importiere ich mir einen chicen Bentley nach Deutschland, und da unser Weihnachtsprogramm vollgestopft ist mit Ausflügen, Familientreffen, Besichtigungen und anderem Kram-der-unbedingt-erledigt-werden-muss, wird dies höchstwahrscheinlich der letzte Blogbeitrag im Jahr 2008 werden.

schwibbogen

… geschmückt durch einen Schwibbogen mit Bergbaumotiv, den ich während der Mettenschicht im Schaubergwerk Glöckl in Johanngeorgenstadt aufgenommen habe. Bei Glühwein und Speckfettbemme. (Google hat nur 536 Dokumente gefunden, die dieses Wort enthalten. Viel Spaß beim Suchen.)

Trotz Nieselregen, Schlammkrönchen um den Schuhsohlen und schlappem Laub im Straßengraben gibt es noch hübsche Dinge draußen: eine Reihe Wasserperlen an nackten, dünnen Zweigen, die dort hängen wie Notenköpfe an einer Hilfslinie, darauf wartend, von einem Piano gepflückt zu werden. Und das sähmige Licht aus den Stengeln der Straßenlaternen. Und glatter, nachtschwarzer Teer, der glänzt wie neue Lackstiefel. Und Stille. Und ein letzter Rest Schnee, der an der Böschung klebt – in einem Bottich aus gebogenen, störrigen, ausgetrockneten und neu aufgeweichten Halmen.
Allen Lesern frohe Weihnachten – mit und ohne Schnee.

Abort. Öffentlich.

Eins der am häufigsten zitierten Elemente Indiens ist das Freilichtabort. Der Inder, so observieren Besucher dieses Landes, erleichtert sich offensichtlich in jeder Ecke, wo er geht und steht. Man rümpft die Nase. In periodischen Abständen berichten die indischen Medien darüber, dass es im eigenen Land an Anstand bzw. „civic sense“ mangelt. Das mag eine Seite der uringetränkten Wahrheit sein. Leider spricht man recht selten darüber, dass es auch an öffentlichen Toiletten mangelt.

peebreak

In Mumbai gibt es derzeit 1.300 öffentliche Toiletten. In anderen Worten: Eine Toilette für 10.769 Menschen. Laut der World Toilet Organisation benutzt man durchschnittlich sechs Mal täglich den Abort, das heißt, jeder der 1.300 Toiletten Mumbais müsste täglich ganze 64.614 Mal herhalten. Da kann vom stillen Örtchen keine Rede mehr sein.

Inzwischen berichteten die Zeitungen von der Planung 30.000 weiterer öffentlicher Toiletten, was insofern keine erleichternde Nachricht ist, als dass es von der Planung bis zur tatsächlichen Fertigstellung laut diverser Hilfsorganisationen bis zu 5 Jahre dauern kann.

Für die arme Bevölkerung ist das Problem natürlich am größten. In den Slums gibt es zwar Latrinen, doch die sind schon längst verstopft – wenn man Suketu Metha Glauben schenkt.
Suketu Metha, Autor und Stadtplaner, mokierte sich beispielsweise über den Vorschlag der World Bank, 100.000 öffentliche Toiletten im Bundesstaat Maharashtra bauen zu wollen. Er fand die Idee lächerlich, denn die bereits exisitierenden Toiletten seien nicht funktionstüchtig. Es fehlt nicht nur an Wasser zum Spülen, wodurch die Slumbewohner dazu gezwungen sind, gemeinschaftlich an exkrementalen Kunstwerken rings um die Latrinen zu arbeiten, sondern sie hätten auch nicht den Sinn, die Toiletten sauber zu halten. Nicht, dass man ihnen das nicht beibringen könnte. :yes:

Bangalore hat es vorgemacht. Dort wurden kürzlich über 100 öffentliche Toiletten mit Hilfe von Spendengeldern gebaut. Sie sind sauber. Während der Öffnungszeiten kümmern sich Angestellte darum, dass das auch so bleibt. Rings um die weiß-grün gefließten Bauten zieht der Geruch von Desinfektionsmittel. Die Benutzungskosten belaufen sich auf gerade mal eine Rupie.

Eine Familie allerdings, die täglich mit unter 100 Rupien auskommen muss, hat für die täglichen Vorgänge ihres Verdauungstraktes vermutlich keine 6 Rupien pro Kopf übrig. Von meinem Wohnzimmerfenster aus blicke ich in einen Park der BMC, der Stadtverwaltung Mumbais, in dem seit ein paar Wochen Familien ihre Zelte aufgeschlagen haben. Jeden Morgen sitzen sie auf der Begrenzungsmauer des Parks und hängen ihre Hintern in das unbebaute Grundstück nebenan. 100m die Straße entlang wohnt eine Familie in wackeligen Bauten aus blauen Planen und Wellblech. Direkt an der Kreuzung neben ihrer Behausung befindet sich ein offener Gulli sowie die Spuren ihrer Verdauungsendprodukte. Entlang der Link Road im Vorstadtteil Dahisar (West) ist die gesamte linke Fahrbahn mit endlosen Kotreihen zugepflastert. Der dazugehörige Slum befindet sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Das ist Mumbai, Nord wie Süd, eine gesamte öffentliche Toilette, durchsetzt mit der gerunzelten Stirn derer Menschen, die sich über diese „Sauerrei“ aufregen und die gleichzeitig eine Toilette mit funktionierender Spühlung zu Hause haben (laut 2001 Census sind das 18,02% der Bevölkerung.)Und einen Sweeper anstellen, der diese täglich sauber hält.

Nature’s Call
Eine Fotostrecke von Mayank Austen Soofi

Es ist einfach, den Indern kollektiv Anstandslosigkeit vorzuwerfen. Dass Schamgefühl für die armen Menschen Mumbais schlichtweg ein Luxus ist, den sie sich nicht (mehr) leisten können, wird gern in den Hintergrund gedrängt. Wenn ich nicht möchte, dass die Familie im Park gegenüber meiner Wohnung die Landschaft düngt, sollte ihnen jemand eine Alternative anbieten.
Im Dharavi-Slum soll es saubere öffentliche Latrinen geben, für die ein Monatsticket für eine ganze Familie 30 Rupien kostet. Trotzdem erleichtern sich die Slumbewohner in diverse Abwasserkanäle. Das Problem ist m.E. eine Kombination aus mangelnder Aufklärung und Kosten.
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Bandra – Land’s End

Mumbai ist ein in die Welt der Wirklichkeit transportiertes Oxymoron. Es sollte unmöglich sein. Es dürfte nicht funktionieren. Doch es ist echt.

Es waren einmal sieben friedlich im Ozean vor sich hinschlummernde Inseln: Mahim. Parel. Worli. Mazgaon. Bombay. Old Woman’s Island. Colaba. Dann kamen die Briten mit ihren Schaufeln und Schubkarren und füllten das Land zwischen den Inseln auf und schufen eine märchenhafte Metropole namens Bombay.
Inzwischen wurde Bombay nicht nur namentlich generalüberholt, sondern es wuchert wie ein Tumor in sämtliche Himmelsrichtungen. – In sämtliche Himmelsrichtungen? Nein, nur nach Norden und Westen. Das Sumpfland um den Hafen im Osten der Stadt liegt gleichzeitig unter deren Niveau. Es ist der Westen, der mit einem prächtigen Wasserbecken aufwartet und Neues verspricht. Grenzenlosigkeit.

Bandra Lands End

Was bei den Briten geklappt hat, kann heute nicht verkehrt laufen, also kippen die Mumbaikars weiterhin ihren Schotter in die See. Landgewinnung. Mumbai gehen die Quadratmeter aus (kürzlich wurde eine Wohnung am Marine Drive für lächerliche 34crore Rupien verkauft, also speckige 6,1 Mio Euro), also muss man etwas tun. Die Migration nach Mumbai ist unaufhaltsam; was, jetzt ziehen schon Deutsche mit ihren indischen Delhi-Ehemännern nach Mumbai und machen sich hier breit. Land, Mumbai braucht Land. Was liegt also näher, als die weiten Felder im Osten der Stadt mit Wohnblocks zuzupflastern? Richtig, Dreck ins Wasser schütten, mit ner Raupe drüber fahren und in einem langen, kostspieligen Prozess der See Zoll um Zoll abzuluxen. Ein ganzer Stadtteil in Bandra nennt sich heute Bandra Reclamation. Es gab ihn früher nicht. Heute wuchert dort die Stadt und der Western Express Highway brüstet sich dort mit zahlreichen, ineinander verschlungenen Auffahrtsrampen. Wie eine Schleife auf einem enormen, nach Morast riechenden Geschenkpaket. Bandra Reclamation. Wir haben gewonnen.

In den 90ern geplant wurden außerdem Schnellstraßen, die im Wasser Wurzeln schlagen sollten. Seit 2002 hämmert und meißelt man nun schon am „Bandra Worli Sealink“. Der sich ständig nach hinten verlegende Stichtag, wann das Projekt denn endlich mal fertig gestellt werden soll, ist momentan auf Ende 2008 angesetzt. Mit Hilfe dieser Straße soll die Pendelzweit zwischen den Stadtteilen Bandra und Worli von circa 45 auf 7 Minuten verkürzt werden, indem man durch die Bucht schneidet. Wo die ganzen zackig hintereinander auf Worli hineinprasselnden Karossen dann alle hinsollen, so lange die restlichen Sealinks bis an den südlichsten Zipfel Mumbais noch nicht beendet sind, das weiß kein Mensch. Der Bau hat noch nicht begonnen.

BW Sea Link

Man hängt an diesem Sealink. Er ist ein Symbol. Für Zyniker und studierte Stadtplaner ist er ein Symbol gedankenloser Wucherung. Für den Rest ist es ein Zeichen: Wir können gen Westen wandern, auch wenn dort kein Land mehr ist.
Und so sitzen Mumbaikars am Abend 100m vom Hotel Taj und 300m von Mannat (SRKs Heim) entfernt auf den Felsbrocken, am Land’s End, am Ende der Welt, und träumen davon, weiter gen Westen vorzudringen. Dort gibts nur Wasser. Dort ist noch Platz. Im Rücken sitzen ihnen die maroden Baustrukturen einer vernachlässigten Stadt. Aber vor ihnen tut sich die Welt auf. Dort vorn, dort gehts weiter.

Bandra Frauenpower

Wenn ich am Strand in Mumbai entlang laufe, überkommt mich kein Gefühl von Freiheit. Ob das nun Land’s End, Bandra Bandstand oder Juhu Beach ist, spielt überhaupt keine Rolle. Ich spüre das Drängen der hässlichen Häuser im Rücken und sehe die Menschen sprichwörtlich ins Wasser plumpsen, und es macht mir Angst. Da ist kein Gefühl von Grenzenlosigkeit. Kein freies Atmen wie an weißen Sandstränden mit Palmen im Rücken und blauem Wasser, dass mir vorgaukelt, ich wäre allein. In Mumbai ist niemand allein. Einsam, vielleicht, aber nicht allein. Hier gibt es so viele von uns. Auf den Klippen sitzend. Schnatternd. Gen Westen schauend. Es ist wie ein gewaltiger Berg aus menschlichem Schotter, der von einer noch gewaltigeren Planierraupe ins Meer geschoben wird. Weiter, weiter, dort ist noch Platz! Es ist unschön. Es ist modern, keine Frage. Aber wenn ich dort steh, am Land’s End, und diese vielen Menschen beobachte, die auf einer kleinen Landzunge nach Platz suchen, um ihre Zelte aufzuspannen oder zu expandieren, wenn sie schon Zelte haben, dann sehe ich ein ganz anderes Weltende.

Das melancholische Wort zum Freitag. Auf ins Wochenende. Ich kann die Euphorie fühlen. Sie kribbelt in meinen Zehen. Montag gibts dann wieder Blümchenblog. Schließlich habe ich noch gar nichts weiter über Chikkis und Karjat erzählt.

UPDATE:
Der Sealink ist seit dem 1. Juli 2009 für den Verkehr geöffnet und – hab ichs nicht gesagt? – ein komplettes Desaster. Nicht nur herrscht auf dem Sealink Stau, nein, auch vor und nach dem Sealink steht man sich die Reifen platt. Zu dumm. :))

Update

Wenige Monate später funktionierte der SeaLink reibungslos, und tut es bis heute. Momentan kostet eine Überfahrt 50 Rupien, ein Rückticket 75 Rupien. Der Weiterbau allerdings ist strittig. Im Frühjahr 2011 denkt man darüber nach, Alternativen zum SeaLink anzubieten: Tunnel oder Küstenstraßen. Wir werden sehen.

Dem Dreck den Kampf ansagen

Heiß und staubig – so ist Delhi zur Zeit. Wenn dann noch viele Menschen auf der Straße herumtrampeln, beißt der Dreck in den Augen, im Rachen, in der Nase.

Was tun? Die für kurze Zeit wirksame Methode, dem Staub auf den Pelz zu rücken, nennt sich chidkaav. Mit einem beträchtlichen Wasservorrat und einem kleinen Becher bewaffnet spritzen besonders Ladenbesitzer und Anwohner ungeteerter Straßen Wasser auf den Weg vor ihrem Geschäft bzw. ihrem Haus. Das Ganze sieht dann in Etwa so aus.

chidkaav

Lauter kleine Wasserspritzer und als besonderer Bonus der herzhafte, schwere Duft nassem Bodens/Staubs. Besser als die ollen Räucherstäbchen, die hier ständig abgefackelt werden. Dieser Geruch feuchter Erde ist etwas, das ich hier sofort ins Herz geschlossen habe. Erinnert mich an kleine schwarze Erdklumpen im Blumenbeet. Oder so. Und ist viel, viel besser als die sengende Hitze, die Staubglocke um uns herum und die unerbittliche Sonne.

Chidkaav – auch mal nett.

Richtig protestieren in Indien

Protestieren ist auch bloß eine Kunst, die gelernt sein will. Und richtig auf den Mulli zu hauen ist selbstverfreilich ebenfalls von der Kultur abhängig, in der man sich befindet. Zum Beispiel Indien.

Um in den Medien Erwähnung zu finden, ist es mit ein paar angezündeten Kerzen freilich nicht getan. Ein Bus allerdings ist schon was anderes. Wenn heute schon keiner mehr Bus fährt, so macht man sich doch wenigstens über den fragwürdigen CO2-Ausstoß eines lichterloh in Flammen stehenden öffentlichen Verkehrsmittels seine Gedanken. :yes:

Demonstration in Chandni Chowk

Den Sprung vom randalierenden Mob hin zum organisierten Protest schafft man, indem man sich selbst kategorisiert. Ein Sitzstreik zum Beispiel schimpft sich Gherao (inzwischen auch ein englisches Wort) oder Dharna. Letzteres ist ein stinknormaler Sitzstreik, bei dem man sich sonst wo in der Weltgeschichte hinsetzt und mit Plakaten bewaffnet auf bessere Zeiten hofft. Gherao heißt, dass man jemanden besetzt. Beispielsweise pflanzten sich die angeödeten Studentinnen meines Mustercolleges in Bangalore vor das Büro der Oberschwester Direktorin, bis diese welche den Aufforderungen nachgab, das Tor zu öffnen.

Auch beliebt ist Rasta Roko Aandolan – Straße blockieren. Passierte vor zwei Tagen in Rajasthan und hat, nachdem die Polizei auf die Meute schoss, 14 Menschen das Leben gekostet. So eine Straßenblockade beginnt meist friedlich, aber oha – die Straßen sind Indiens Lebensadern. Blockierte Adern sind derzeit weltweit Todesursache Nummer Eins.

Bhookh Hadtaal – Hungerstreik. Auch was feines. Fällt in die Kategorie „Emotionale Erpressung“ und ist nicht erst seit Gandhi ein beliebtes Mittel in Indien, um seine Forderungen durchzusetzen. Politiker sind meist die ersten, die ihre Chapatis wegwerfen. Professionell, gelle?

Bandh – Schüler, Studenten und Beamten lieben den Generalstreik, denn das heißt so viel wie „bezahlter Urlaub“. In Krisenzeiten sind die Schüler morgens die ersten, die die Tageszeitung nach einem kleinen Artikel (meist auf der Titelseite oder spätestens auf Seite 2/3) durchsuchen, der sie beruhigt wieder zurück ins Bett schickt, wenn dort steht: bandh – alle Schulen, Universitäten und Ämter geschlossen. Einige wenige Bandhs haben es sogar geschafft sich auf den privaten Sektor auszuwirken. Der indische Bundesstaat West Bengalen ist emotionales Zuhause des Generalstreiks.

Atmadah – Am schockiendsten und darum Medien-tauglichsten sind allerdings die Fälle, in denen sich Protestanten selbst anzünden.

Erklärt sich niemand freiwillig dazu bereit sich anzuzünden (was in Indien übrigens die dritt-häufigste Form von Selbstmord ist), muss man wohl oder übel auf den Gebrauch von Strohpuppen zurückgreifen, welche im Eifer des Gefechts ebenfalls den Feuertod sterben. Ich bin sicher, Richard Geres Vogelscheuche und ihr Abgang wurden zur Genüge via Mattscheibe in deutschen Wohnstuben zelebriert, so dass dieser Brauch keiner weiteren Erklärung bedarf.

Als ich gestern im Fernsehen wieder so ein armes Püppchen sehen musste, welches für die Forderungen aufgebrachter indischer Bürger herhalten musste, überlegte ich, inwieweit der professionelle Vertrieb von Strohpuppen in diesem von Unruhen geplagten Land Erfolg haben dürfte. Eventuell im Sparpaket mit einer Flasche Spiritus und Streichhölzern?

Darüber hinaus sehen Ausschreitungen in Indien nicht anders aus als irgendwo in der Welt. Für mich ist es viel weniger die Anwendung primitiver Gewalt als der Spaß, der damit einherzugehen scheint. Im Fall Rajasthan sah das gestern im TV so aus, dass eine teilweise fröhliche Menge junger Leute ihre Strohpuppen abfackelten. Busse in Einzelteile zerlegten. Mit Krempel um sich warfen. Und dabei ihr Colgate-Grinsen zeigten.

Was soll das?

Sind diese Menschen wirklich wütend darüber, dass die Polizei vor zwei Tagen in eine friedlich (?) protestierende, unbewaffnete Menge schoss?

Meine Gedanken driften zu Momenten, in denen ich gleichzeitig lachen und heulen musste, weil ich beispielsweise gestürzt war, was im Normalfall weh tut, in diesem Fall aber so ulkig war, dass ich gleichzeitig über mich lachen musste. Gilt dieses Phänomen auch beim „richtig mies drauf sein“? Und warum sind es immer die sich in Gewaltaktivitäten ergehenden Männer, die grinsend Fahrzeuge massakrieren, während die in der nächsten Szene eingeblendeten Frauen (vermutlich Angehörige der zu Tode Gekommenen) sich mitten im Heulen und Klagen nicht zu einem Grinsen bewegen lassen wollen.

Ich habe ja so meine eigene Theorie…. Und ihr?

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UPDATE:
Die Krawalle in Rajasthan ziehen immer weitere Kreise. Inzwischen so weit, dass über 20 Tote und über 100 Verletzte gegeben hat. Interessant ist für mich dabei die Tatsache, dass die Wütenden nicht nur die Anstifter bzw. Betroffenen des Streiks sind (nämlich die community der Gujjars), sondern jeder Dahergelaufene, der mal eben mitmachen will. In der Zeitung gab es gestern ein wunderbares Bild voller lachender Protestanten. Das werde ich morgen zusammen mit einem Bericht zum Thema hier verlinken. Es passt gerade so gut zum Thema „Spaßprotest“.

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Übrigens bin ich bei meiner Recherche über einen Wikipedia-Artikel über die Kaste der Charans gestolpert, die besonders für ihren Hang zum Selbstopfer bekannt sind. Sehr interessant.

Tempelbaum

Wir stehen im Ortsteil Vasant Vihar in Süddelhi. Doch wir streifen nicht durch den Einkaufskomplex Basant Lok, wo sich die Schönen und Reichen, Expats, Diplomaten und die hippe Jugend tummeln, sondern im alten Markt, in dem bis unter die Zimmerdecke vollgestopfte Alltagsgeschäfte, Fleischer und kleine Videotheken mit ihren Raubkopien auf Kundschaft lauern. Hier fragt Rahul, ob das Brillengeschäft auch am Sonntag geöffnet ist, da er seine Brillengläser auf Bruchsicherheit testete und feststellte: umsonst Aufschlag gezahlt. Die gehen ja doch kaputt.

Onkel Ekram laden

In der Zwischenzeit lümmel ich vor einem Baum herum. Es ist eine Art Tempelbaum, der mit zahlreichen Idolen bestückt ist. Um den Stamm wurde bis in ca. 50cm Höhe eine Mauer gebastelt, auf die man sich setzen kann. So fungiert der Baum nicht nur als Tempel, sondern auch als Bank.

Jemand hat ein Idol des Gottes Ganesha an den Baum gehängt. Als ich den Stamm umrunde, finde ich auf der anderen Seite noch ein Bild der Göttin Kali, die mit ihrem dämonischen Blick und ihrer schwarzen Haut schrecklich aussieht. Es erinnert mich an das Theaterstück „Hayavadana“, welches wir in Bangalore angeschaut haben. Sehr empfehlenswert, das Buch zumindest mal zu lesen.

Von den untersten Zweigen hängen Girlanden aus Studentenblumen. Räucherkerzen ragen aus Dellen im Stamm. Jemand hat einen Stapel Rotis auf die Mauer gelegt. später gesellt sich ein Hund dazu, der an den Rotis knabbert.

tempelbaum
Ein anderer Tempelbaum, Connaught Place

Ich frage mich, wie der Baum überhaupt zu dieser Ehre gekommen ist. Wer hat die ersten Blüten als Opfergabe hinterlassen? Wessen Idole sind das? Und wer hat ein Herz für Tiere? Wie in vielen Fällen, wenn die Geheimnisse dieses Landes hohe Wellen schlagen, hab ich keine Ahnung, aber genau das macht diese Tempelbäume so interessant.

Manchmal geschieht es allerdings, dass sich so eine Tempelbaum da befindet, wo eine Straße gebaut werden soll. was dann passiert, muss ich unbedingt mal fotografisch festhalten: Die Straße wird um den Baum ringsrum gebaut. Noch ein Wunder!

Von jedem viel

In Indien gibts von jedem viel, und von letzterem sogar noch mehr. Menschen mit mittelprächtigem Vokabular würden diesen Sachverhalt als Vielfalt betiteln.

Nehmen wir doch Süßigkeiten. Derer gibt es hier so viele, daß ich mir sogar einige Namen gemerkt habe. Zum Beispiel Laddu. Das schmeckt nicht nur nicht, sondern sieht auch noch so aus und wird demzufolge als bösartiges Schimpfwort für beleibte Kinder genutzt. Zum Beispiel in K3G. Ich finde es wirklich eher stumpfsinnig, einem Film zuerste einen nicht endenwollenden Titel zu geben und diesen dann in kryptische Buchstabenkombinationen umzuwandeln. Andererseits müßte ich sonst jedes Mal wieder googeln, um die korrekte Schreibweise des Titels herauszufinden, um überkorrekten Bollywoodfans nicht die Möglichkeit zu geben, mich zu korrigieren. Das schreibt man gar nicht so!

Ich führe jetzt galant zurück zum Thema: Laddu. Jelebi – sieht eklig aus, schmeckt bombig, war mal mein AOL-Name. Merke: Benutze nie wieder Benutzernamen, die einen bei telefonischen Gesprächen mit dem Internetanbieter in peinliche immer-und-immer-wieder-buchstabieren-müssen-Situationen bringen könnten, weil ausgerechnet dieses Callcenter nicht nach Indien ausgesourced worden ist.

Laddu. Jelebi. Burfi. Und noch viele andere indische Süßigkeiten. Deren Namen ich mir nicht merken will. Die alle irgendwie komisch aussehen. Und alle zuckersüßg sind. Einige davon schmecken sogar einem Mäkler wie mir.

Aber: die Vielfalt hört bei der Namensgebung der Süßigkeitengeschäfte auf. Klar, in Deutschland heißen auch alle Bäcker „Bäckerei“.

Hier gibt es zwei Namen: Aggarwal und Bikaner. Bikaner ist eine Stadt in Rajasthan. Aggarwal ist eine indische Community. So gibt es überall

aggarwal sweets

und

Bikaner Sweets.

Die meisten davon stellen unten rechts im Kleingedruckten allerdings klar, daß sie einzigartig sind. Keine Kette. Keine anderen branches. Natürlich ist die Schlußfolgerung naheliegend, dass es sich um zwei große Süßigkeitenbanden handelt. Die Zuckermafia. Don Aggarwal versus Don Bikaner.

Und hier ein ganz ausgefuchster:

Aggarwal Bikaner sweets

In Bangalore war das übrigens ähnlich. Dort hieß jede Bäckerei, die was auf sich hielt: Iyengar.

Merke: Wegbeschreibungen, die irgendwo als Anhaltepunkt „Aggarwal/Bikaner Bäckerei“ beinhalten, kann man glatt vergessen.