Protestieren ist auch bloß eine Kunst, die gelernt sein will. Und richtig auf den Mulli zu hauen ist selbstverfreilich ebenfalls von der Kultur abhängig, in der man sich befindet. Zum Beispiel Indien.
Um in den Medien Erwähnung zu finden, ist es mit ein paar angezündeten Kerzen freilich nicht getan. Ein Bus allerdings ist schon was anderes. Wenn heute schon keiner mehr Bus fährt, so macht man sich doch wenigstens über den fragwürdigen CO2-Ausstoß eines lichterloh in Flammen stehenden öffentlichen Verkehrsmittels seine Gedanken. :yes:
Den Sprung vom randalierenden Mob hin zum organisierten Protest schafft man, indem man sich selbst kategorisiert. Ein Sitzstreik zum Beispiel schimpft sich Gherao (inzwischen auch ein englisches Wort) oder Dharna. Letzteres ist ein stinknormaler Sitzstreik, bei dem man sich sonst wo in der Weltgeschichte hinsetzt und mit Plakaten bewaffnet auf bessere Zeiten hofft. Gherao heißt, dass man jemanden besetzt. Beispielsweise pflanzten sich die angeödeten Studentinnen meines Mustercolleges in Bangalore vor das Büro der Oberschwester Direktorin, bis diese welche den Aufforderungen nachgab, das Tor zu öffnen.
Auch beliebt ist Rasta Roko Aandolan – Straße blockieren. Passierte vor zwei Tagen in Rajasthan und hat, nachdem die Polizei auf die Meute schoss, 14 Menschen das Leben gekostet. So eine Straßenblockade beginnt meist friedlich, aber oha – die Straßen sind Indiens Lebensadern. Blockierte Adern sind derzeit weltweit Todesursache Nummer Eins.
Bhookh Hadtaal – Hungerstreik. Auch was feines. Fällt in die Kategorie „Emotionale Erpressung“ und ist nicht erst seit Gandhi ein beliebtes Mittel in Indien, um seine Forderungen durchzusetzen. Politiker sind meist die ersten, die ihre Chapatis wegwerfen. Professionell, gelle?
Bandh – Schüler, Studenten und Beamten lieben den Generalstreik, denn das heißt so viel wie „bezahlter Urlaub“. In Krisenzeiten sind die Schüler morgens die ersten, die die Tageszeitung nach einem kleinen Artikel (meist auf der Titelseite oder spätestens auf Seite 2/3) durchsuchen, der sie beruhigt wieder zurück ins Bett schickt, wenn dort steht: bandh – alle Schulen, Universitäten und Ämter geschlossen. Einige wenige Bandhs haben es sogar geschafft sich auf den privaten Sektor auszuwirken. Der indische Bundesstaat West Bengalen ist emotionales Zuhause des Generalstreiks.
Atmadah – Am schockiendsten und darum Medien-tauglichsten sind allerdings die Fälle, in denen sich Protestanten selbst anzünden.
Erklärt sich niemand freiwillig dazu bereit sich anzuzünden (was in Indien übrigens die dritt-häufigste Form von Selbstmord ist), muss man wohl oder übel auf den Gebrauch von Strohpuppen zurückgreifen, welche im Eifer des Gefechts ebenfalls den Feuertod sterben. Ich bin sicher, Richard Geres Vogelscheuche und ihr Abgang wurden zur Genüge via Mattscheibe in deutschen Wohnstuben zelebriert, so dass dieser Brauch keiner weiteren Erklärung bedarf.
Als ich gestern im Fernsehen wieder so ein armes Püppchen sehen musste, welches für die Forderungen aufgebrachter indischer Bürger herhalten musste, überlegte ich, inwieweit der professionelle Vertrieb von Strohpuppen in diesem von Unruhen geplagten Land Erfolg haben dürfte. Eventuell im Sparpaket mit einer Flasche Spiritus und Streichhölzern?
Darüber hinaus sehen Ausschreitungen in Indien nicht anders aus als irgendwo in der Welt. Für mich ist es viel weniger die Anwendung primitiver Gewalt als der Spaß, der damit einherzugehen scheint. Im Fall Rajasthan sah das gestern im TV so aus, dass eine teilweise fröhliche Menge junger Leute ihre Strohpuppen abfackelten. Busse in Einzelteile zerlegten. Mit Krempel um sich warfen. Und dabei ihr Colgate-Grinsen zeigten.
Was soll das?
Sind diese Menschen wirklich wütend darüber, dass die Polizei vor zwei Tagen in eine friedlich (?) protestierende, unbewaffnete Menge schoss?
Meine Gedanken driften zu Momenten, in denen ich gleichzeitig lachen und heulen musste, weil ich beispielsweise gestürzt war, was im Normalfall weh tut, in diesem Fall aber so ulkig war, dass ich gleichzeitig über mich lachen musste. Gilt dieses Phänomen auch beim „richtig mies drauf sein“? Und warum sind es immer die sich in Gewaltaktivitäten ergehenden Männer, die grinsend Fahrzeuge massakrieren, während die in der nächsten Szene eingeblendeten Frauen (vermutlich Angehörige der zu Tode Gekommenen) sich mitten im Heulen und Klagen nicht zu einem Grinsen bewegen lassen wollen.
Ich habe ja so meine eigene Theorie…. Und ihr?
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UPDATE:
Die Krawalle in Rajasthan ziehen immer weitere Kreise. Inzwischen so weit, dass über 20 Tote und über 100 Verletzte gegeben hat. Interessant ist für mich dabei die Tatsache, dass die Wütenden nicht nur die Anstifter bzw. Betroffenen des Streiks sind (nämlich die community der Gujjars), sondern jeder Dahergelaufene, der mal eben mitmachen will. In der Zeitung gab es gestern ein wunderbares Bild voller lachender Protestanten. Das werde ich morgen zusammen mit einem Bericht zum Thema hier verlinken. Es passt gerade so gut zum Thema „Spaßprotest“.
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Übrigens bin ich bei meiner Recherche über einen Wikipedia-Artikel über die Kaste der Charans gestolpert, die besonders für ihren Hang zum Selbstopfer bekannt sind. Sehr interessant.