Wem gehört Mumbai?

Gestern fand ich einen herrlichen Beitrag zum Thema „Wem gehört Mumbai eigentlich?“ Den Text von Vinay Sitapati findet ihr hier (Englisch). Sitapati stellt die These auf, dass Marathen ja eigentlich auch bloß Einwanderer nach Mumbai sind, wo früher (also ganz, ganz früher) nur drei Stämme wohnten: die Kohlis, Agris und Bhandaris. Nachdem die Briten das Potenzial erahnten, das im natürlichen Hafen Bombays steckte, luden sie Parsen, Gujaratis und Bohris ein, sich dort niederzulassen. Parsen übrigens, hab ich mal gelesen, sind deswegen heute so vermögend, weil sie sich ganz dem Schmuggelschäft hingaben und eng mit den Briten zusammenarbeiteten, die ihnen als Gegenleistung riesige Grundstücke in Südmumbai vermachten. Für diese Info übernehme ich allerdings kein Gewehr. Wie gesagt: hab ich so gelesen. Müsste man mal recherchieren, aber MTNL will nicht recht…

Erst später (aber für Menschen wie Thackeray immer noch früh genug) kamen Marathen, die es sich bis dato in Pune gut gehen lassen hatten, nach Bombay. Und zwar als Arbeiter in den Textilfabriken.

Selbst wenn diese These, die zumindest mir neu ist, nicht ganz wasserdicht ist (ich habe sie nämlich nicht auf ihre Richtigkeit hin überprüft), so verdeutlicht Sitapatis Text, dass Identitätspolitik nichts wert ist, da so ziemlich jede Sichtweise mit irgendeinem historischen Schnipsel belegt oder widerlegt werden kann. Interessant wars trotzdem.

Ich halte die gesamte Sprach- und Kulturdiskussion, die derzeit zu Krawallen in Mumbai, Pune und inzwischen auch Bihar (als Gegenmaßnahme, sozusagen) geführt hat, für ein niederträchtiges Ablenkungsmanöver eines Politikers, der in keiner Ansprache bisher erklärt hat, wie er neue Jobs schaffen möchte. 80% der Stellen für Marathen zu reservieren, schafft keinen einzigen neuen Arbeitsplatz. Es verschiebt nur ein paar Gewichte. Dass Thackeray keinen Plan für die Zukunft hat, der über Reservierungspolitik hinausgeht, fällt aber nicht auf, wenn jedermann damit beschäftigt ist, sich darüber zu streiten, wer wessen Sprache lernen sollte.

Sprachvielfalt Indiens (Update)

Am 28. August war Stichtag: Sämtliche Geschäfte, Büros und öffentliche Einrichtungen in Mumbai müssen ihre Namen zusätzlich zum häufig nur auf Englisch vorhandenen Logo auch auf Marathi zeigen. Der als rabiat bekannte Politiker Raj Thackeray hatte bereits im Vorfeld angekündigt, Geschäftsinhaber zu bestrafen, die der Anordnung nicht nachkommen wollten. Doch bevor es zu weiteren Ausschreitungen und Attacken auf Ladenbesitzer durch übereifrige MNS-Parteimitglieder kommen konnte, hatte glücklicherweise der Höchste Gerichtshof eingegriffen und Raj Thackeray gewarnt. Das war auch gut so, denn der militante junge Bursche hatte bereits im Februar diesen Jahres durch aufwiegelnde Rhetorik für gewalttätige Übergriffe in ganz Maharashtra gesorgt.

Dennoch besteht das Gesetz: Geschäfte müssen ihren Namen auf Marathi zeigen. Die Stadtverwaltung BMC hat seit dem Ablauf der Frist bereits 1725 Geschäfte gewarnt, die dieser Regelung noch nicht nachgekommen sind. Zu Ausschreitungen ist es glücklicherweise bisher nicht gekommen.

Vorher:
marathi metro
Nachher:
marathi metro 2
Ein Schuhgeschäft im Stadtteil Dadar (East) wechselt seinen Schriftzug aus.

Doch das Sprachproblem Indiens wird nicht gelöst, indem man einen Schriftzug auswechselt. Menschen wie Raj Thackeray, die sich permanent auf Wahlfang befinden und Themen wie die „vernachlässigten“ Lokalsprachen* auffassen, schüren Missgunst unter Indern, die sich leider häufiger anhand ihrer Sprache und Lokalität identifizieren. Wahr ist, dass sich Englisch im städtischen Milieu immer weiter in den Vordergrund drängt. Wahr ist auch, dass man ohne Englisch seltenst einen anständigen Arbeitsplatz bekommt. Es liegt also nicht im Interesse der Bevölkerung, Englisch zu verbannen. Im Gegenteil: es geht um den Erhalt der indischen Sprachen, doch es ist die Herangehensweise, die dem Beobachter Kopfschmerzen verursacht. Während es recht und billig ist, die Namen der Geschäfte in Lokalsprachen anzuzeigen, muss man sich schon fragen, was sonst noch für den Erhalt der indischen Sprachen getan wird, so dass junge Inder zur Abwechslung vielleicht auch mal zu einem Buch in ihrer Muttersprache greifen? Mein guter Freund S. zum Beispiel, gebürtiger Bengali, kaufte sich kürzlich das Buch Chowringhee, das nach über fünfzig Jahren ins Englische übersetzt worden ist. Aus dem Bengalischen. 8| „Sprachvielfalt Indiens (Update)“ weiterlesen

Bombay ist tot

Bombay steht hier nicht für eine Stadt, die im Sud ungeplanter, gedankenloser Evolution untergeht. Bombay steht für die Mentalität, die besonders Langzeitbewohner eng mit Bombay in Verbindung bringen: Kosmopolitische Attitüde. Weltoffenheit. Freiheit. Eine Perle in einem an Tradition erstickendem Land. Und diese Mentalität ist, wie Bombay, nicht mehr anzutreffen. Sagen Langzeitbewohner.

Bombay ist tot.

mumbai bmc

Diese Entwicklung geht Hand in Hand mit einer sagenhaften Bevölkerungsexplosion unter Mimosen, deren zarte Sensibilitäten es vorraussetzen, dass heute nicht mehr gesagt, geschrieben, gefilmt, getan und gegessen werden darf, was gefällt, sondern was nicht weh tut.

Mimosen befinden sich überraschenderweise nicht ganztägig im schmerzlichen Zustand überbeanspruchter, kollabierter Nerven auf dem Sofa liegend, wo sie in regelmäßigen Abständen an ihren Duftsalzen schnuppern und tragisch aufseufzen, wie man das von Menschen erwartet, denen ein Buch, ein Film, ein Zeitungsbericht tödliche Verwundungen beifügen kann. adult smileys
Sondern Mimosen sind echte Kumpels. Und obwohl eine Mimose alleine beim Anblick schockierenden Materials dahingerafft werden kann, ist ein Trupp Mimosen ein Energiebündel, das Seinesgleichen sucht und unter Umständen säbelwetzend durch die Vororte einer weltoffenen Metropole randalieren kann. adult smileys Langzeitbewohner schütteln in Feuilletons den Federkopf. :no:

So geschehen letzten Freitag und Samstag, als ein Sikh im Stadtteil Mulund erschossen wurde, woraufhin alle Sikhs ihre Kirpans schwangen. Praktisch in diesem Zusammenhang ist die religiös bedingte Notwendigkeit der Sikhs, stets einen Dolch (Kirpan) bei sich zu tragen.
Diese Episode klirrender Klingen ist Eskalation eines Mimosenmobs, und mit Hilfe dieser Geschichte möchte ich beschreiben, wie Bombay zunehmend Schauplatz irrer Akte nicht-medikamentierter Demenz wird, die bezeugen, was Langzeitbewohner Bombays schon lange wussten: dass die Stadte heute mehr Hammel beherbergt, als ihrem angeblich weltoffenen Charakter gut tut.

Während die tatsächlichen Hergänge des vergangenen Freitages hier (Englisch) nachgelesen werden können, fasse ich den Nachmittag mal kurz zusammen.
Baba Gurmit Singh Ram Rahim, Chef der Dera Sacha Sauda und im Folgenden einfach nur „A“ genannt, besucht ein Einkaufszentrum in Mulund. Kürzliche Aktivitäten As haben dazu geführt, dass traditionelle Sikhs ihm nicht wohlgesonnen sind. Während er der Konsumlust fröhnt, wird er von B erkannt. B ist ein Sikh und versucht A zu kontaktieren, was durch As Leibwächter unter Zuhilfenahme von Drohgebärden unterbunden wird. B ist mächtig sauer und ruft seinen Kumpel C an, der mal eben mit ein paar weiteren Kumpels vorfahren soll, um eine relativ harmlose Situation (ein gekränktes Ego) in eine verschärfte Situation zu verwandeln, die mit folgenden Zutaten eine explosive Mischung darstellt:
A = kontroverser Politiker
B = Ein wütender junger Mann und seine Freunde, die zwar nicht dabei waren, deren Wut sich aber als ein zulässiger Freundschaftsdienst versteht
C = Leibwächter mit Schusswaffen
Wenig später ist ein Mann tot.

Es ist eine Reaktion typisch für ein Land, in dem Lebensraum knapp ist; in dem man sich täglich wegen absurder Kleinigkeiten streiten muss; und in dem das Ego darum unter Dauerbeschuss ist. Kommt nach einem anstrengenden Tag dann noch jemand und pinkelt dir ans Bein, dann ist die Kacke am Dampfen das Fass am Überlaufen. Ein Wochenende wird mit Steinwürfen und Randalen eingeläutet. Der nordwestliche Bundesstaat Punjab, in dem Sikhs numerisch überwiegen, wurde durch diese Episode gar zum Stillstand gebracht. Man war zwar nicht dabei und hat gar keine Ahnung, muss sich auf häufig widersprüchliche Informationen der blutrünstigen Medien stützen etc, aber man hält zusammen.

Da kommen die Worte des alternden Shiv Sena-Oberhauptes zur Abwechslung mal wie gerufen: „Aufhören, sofort aufhören! Randalieren dürfen hier nur wir.„, brüllte der Löwe, über dessen geistige Kapazitäten ich bereits im vorbereitenden Artikel „Bombay gibts nicht mehr“ gefaselt habe.

Nichts gegen Sikhs. Das ist nur ein Beispiel einer anfangs harmlosen Situation. Kein Tag vergeht mehr, an dem nicht die verletzten Befindlichkeiten einer Bevölkerungsgruppe einen neuen Mimosenmob zusammenrotten, der deutlich macht, wie gefährlich es sein kann, die viel gepriesene Weltoffenheit Bombays beim Wort zu nehmen.

Re-Branding Mumbai – Englischer Artikel von Antara Dev Sen
Sikhs protesting Firing in Mulund – Englischer Nachrichtenartikel mit weiterführenden Links

"Söhne der Erde" vs. Migranten

In Marathi nennt man sie Bhumiputra. Die Söhne der Erde. Die legitimen Bewohner eines Fleckchen Erdes, aus dem sie im übertragenen Sinne geformt sind: Werte. Sprache. Kultur. Das alles sind sie, weil sie auf einem gewissen Flächenmaß von Erdkrümeln geboren wurden. Und weil sie sozusagen die Vertreter dieses Grund und Bodens sind, gehört er logischerweise ihnen. Sie dürfen ihn verteidigen. Und das müssen sie sogar.

Schließlich gibt es die ruhelose, wurzellose Bande von Migranten, die in ihrer Flatterhaftigkeit das Land der Länge und Breite nach durchqueren stets auf der Suche nach dem besten Job. Und das obwohl der beste Job den legitimen Bewohnern des Erdkrümels zustehen sollte und nicht dem, der mal eben vorbei schaut. Oder?

Meint man zumindest zunehmend in politischen Kreisen Indiens und trifft damit den Nerv der Zeit. In den Städten geht es zwar finanziell für viele Mittelklässler langsam und stetig nach oben, aber so richtig zufrieden ist man deshalb noch lange nicht. Es gibt schließlich Probleme. Der Verkehr ist schlecht. Die Wasserversorgung ist schlecht. Die Stromversorgung ist schlecht. Könnte es denn sein, dass daran der unaufhörliche, nicht zu bewältigende Strom von Migranten Schuld ist?

Das Bumiputra-Konzept gibt es nicht nur in Indien (sondern auch z.B. in China und Malaysia), aber hierzulande steht es derzeit in voller Blüte. Bereits in den 60ern schrie die damals frisch gebackene politische Partei Shiv Sena etwas von wegen „Söhne der Erde vereinigt euch!“, und ähnliche Bewegungen gab es in auch in Tamil Nadu und heute in Karnataka. Der südindische Staat Tamil Nadu war schon immer ein Schuft, der wegen seines als bodenlose Arroganz ausgelegten Stolzes auf Tamil (seine Sprache) gern geächtet wird, wenn es um panindische Angelegenheiten geht. Die Tamils wollten ja noch nie dazu gehören. Die denken auch, sie sind was Besseres.

Heute denkt man das an vielen Orten. Indien ist ein geteiltes Land genau so, wie es die Briten vorfanden. Es hat sich seitdem nicht viel geändert außer, dass jemand gedankenlos eine dicke Linie ringsherum gezogen und es zu einem Land erklärt hat. Was in Slogans der Tourismusfabrik als großer Renner gilt (nämlich die Vielfältigkeit Indiens), ist tatsächlich die größte Last, die dieses Land zu schultern hat. Zu viele Kulturen, Sprachen und – am schlimmsten von allen – zu viele Egos sollen hier in ein Paket gequetscht werden. „"Söhne der Erde" vs. Migranten“ weiterlesen