Indiens Anti-Korruptionsbewegung

Ich möchte das Thema der Anti-Korruptions-Revolution in Indien etwas genauer beleuchten. Dazu hab ich mich mit jeder Menge Lesematerial eingedeckt und hoffe, dass ich trotz Presslufthammer genügend Konzentration besitzen werde, um wenigstens die Hälfte davon heute zu schaffen.

Bis dahin möchte ich einige Zitate aus dem aktuellen Outlook Magazin mit euch teilen. Wir erinnern uns: Die Inder fahren momentan auf dem „India Against Corruption“-Zug mit. Ausgelöst wurde dies von Anna Hazare, einem Aktivisten aus Maharasthra, und dessen Hungerstreik.
Ausführlich dazu in Teil 1 und 2.

Verschiedene Stimmen haben dazu ihre Meinung kundgetan. Hier ein paar davon:

„Korruption liegt uns im Blut. Sie stammt von unserem Gefühl der Ungewissheit. Wir schmieren nicht nur für Gefälligkeiten, sondern auch, um uns sicher zu fühlen.“
Kushwant Singh, Autor

„Gier ist das Credo Indiens. Niemand steht darüber, eine Abkürzung zu nehmen. Alles hat seinen Preis: von Geburt bis zum Tod.“
Inder Malhotra, Politischer Autor

„Warum können die Korrupten keine Anti-Korruptions-Brigade führen? Du brauchst keine Moral, um zu erkennen, was unmoralisch ist.“
Ashis Nandy, Soziologe
Kürzlich war der Premier Indiens Dr. Manmohan Singh in zynische Kritik geraten, da der Mann, den er als Leiter eines Antikorruptionsausschusses ernannt hatte, schlussendlich selbst der Korruption angeklagt wurde.

„Anil Ambani’s Korruption ist weniger sichtbar als die eines Politikers auf Grund des Schweigens der Medien.“
Yogendra Yadav, Politischer Analytiker
Anil Ambani ist CEO der Reliance ADA Group (dem größten privaten Unternehmen Indiens). Die Geschichte des Aufstiegs seines Vaters kann nachgelesen werden in „The Polyester Prince. The Rise of Dhirubhai Ambani“. Das Buch ist in Indien verboten. :))

„Menschen in tiefer Verzweiflung erfinden erst ihre Dämonen, A. Raja oder Kalmadi. Dann erfinden sie ihren Gott, Anna Hazare.“
Yogendra Yadav
Früherer Telekomminister A. Raja und Vorsitzender des CWG Organisationskomitees Kalmadi sind beide Hauptverantwortliche/Sündenböcke in zwei der größeren Korruptionsskandale der jüngsten Geschichte, nämlich dem 2G-Spektrum Skandal und dem Skandal um die Commonwealthspiele 2010 in Delhi respektive.
Anna Hazare ist das neue Popgesicht des Kampfes gegen Korruption.

„Demonstrationen sollten ausschließlich genutzt werden, um soziale Probleme zu lösen. Die Beseitigung von Korruption bedarf eines Sinneswandels.“
Dr. Aroon Tikekar, Präsident der Asiatic Society

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Diese Zitate sprechen mir aus dem Herzen. Ich finde sie sehr treffend, gehöre ich doch nicht zu den euphorischen „Slacktivisten“ der derzeitigen „Revolution“. Ich frage mich aber, während ich das tippe, wie aufschlussreich diese Zitate für Außenseiter sind? Wie nachvollziehbar die Irrelevanz der derzeitigen Geschehnisse im Bereich „Revolution“ für europäische Beobachter ist? Ich hoffe, ich werde mit einem ausführlichen Bericht etwas Licht ins Dunkel werfen können.
Weitere Erklärungen zu den Zitaten füge ich auf Nachfrage gern bei. :yes:

Die Korruptionsrevolution 2

Kaum hatte es begonnen, ist es bereits vorbei: Der Kampf des indischen Bürgertums gegen Korruption. (Zur Vorgeschichte, siehe Teil 1)

Inzwischen hat die Regierung alle Forderungen der Demonstranten anerkannt. Die Medien kreischen sich heiser: Sieg für Indien. Die Regierung gibt nach. Nun soll ein Ausschuss gegründet werden: Anna Hazare wird einer der Mitglieder dieses 5-Personen-Ausschusses sein. Na toll! Es gibt in Indien keinen besseren Weg, Entwicklung aufzuhalten und das Volk zu beschwichtigen, als einen Ausschuss oder ein Komitee zu gründen. Zehn Jahre später gibt es dann einen 20.000seitigen Bericht, den niemand lesen wird.

Lieber Leser, du meinst, der Zynismus sei mit mir durchgegangen?
Nun, das Anti-Korruptoinsgesetz „Lokpal Bill„, um welches es hier überhaupt geht, ist ein 42-jähriger Gesetzesentwurf! Seit 42 Jahren – in Worten: zweiundvierzig – kreist das Ding rein und raus aus dem Parlament. Jedes Mal gibt es etwas daran herumzuschustern, man verwirft es, lässt es eine Weile gären (so wie Kirschschnaps) und kommt später wieder zum Gucken.

Anna Hazares Forderungen und der Auslöser für sein Fasten war lediglich, dass das Volk an der Formulierung des Lokpal Bill mitwirken darf. Nach vier Tagen Hungerstreik hat die Regierung nun „nachgegeben“ und den 5-Personen-Ausschuss angekündigt. Das heißt rein gar nichts. Die Situation ist dieselbe wie letzten Freitag. Nichts hat sich geändert. Dass die Medien diese Entwicklung nun als Sieg feiern, das ist durchaus verständlich, denn heute 20Uhr ging die indische Cricket-Bundesliga IPL los. Wie praktisch also, dass man diese Geschichte so schnell und so schön abrunden kann. Gleich bekommt diese 42jährige Tragödie einen positiven Beigeschmack!

Ja, Indien hat in dieser Sache zum ersten Mal seit langer Zeit eine definitive Richtung gezeigt. Ja, das Bürgertum hat sich in gewisser Weise organisiert. Ja, man hat sich die Finger schmutzig gemacht. Ja, die Bewegung hat sich in kurzer Zeit in ganz Indien ausgebreitet. – Doch von einer wirklich effektiven Bewegung sprechen zu können, von einer echten indischen Revolution, muss mehr passieren. Es darf nicht nur um spontanen Frustabbau gehen, während man Montag Morgen wieder bei der Arbeit auf der Matte steht und alles wieder auf Normal gestellt ist. Ein unüberwindbarer Pegel von DasMussSichJetztÄndern muss erreicht werden, damit man dem System auch nach einer Woche noch auf die Zehen tritt und nicht alles vergessen hat. Damit keine Gelassenheit aufkommt, nur weil die Regierung angeblich nachgegeben hat.

Das ist kein Sieg.

Es könnte der erste Schritt für einen Sieg in der Zukunft sein.

Und wenn Indien am Ball bleibt, erreichen wir diese Zukunft vielleicht, bevor die nächsten 42 Jahre um sind?

Anna Hazares Hungerstreik wird jedenfalls morgen früh 10Uhr IST enden.

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Ich brenne übrigens schon darauf, als welchen RevoluzzerStuss man uns diese Ereignisse in den europäischen Medien verkaufen wird. :))

Die Korruptionsrevolution

Anna Hazare ist bereits ein Held. Es ist der Name des Mannes, der Indiens erste sensationelle Anti-Korruptions-Demo im Großformat begann, seit das 21. Jahrhundert eingeläutet wurde.

Wer ist Anna Hazare?
Der 72jährige hat einen Hungerstreik (bis zum Tode) begonnen, um die Teilnahme der Bevölkerung an der Entwicklung der sog. Lokpal Bill zu erzwingen. Das Gesetz soll dazu dienen, dem Monstrum der Korruption den Kopf abzureißen.
Hazare hat sich am Jantar Mantar eingefunden: dem Ort im Herzen Delhis, wo alle großen und kleinen Demonstrationen stattfinden. In den Medien, die einem Artikel in LiveMint zufolge vermutlich die Hälfte der Demonstranten ausmacht, wird Hazare als Gandhian gefeiert. Als einer, der so bisschen an Gandhi erinnert und zu dessen Methoden greift.

Hazares Gefolgschaft auf SofaDemoPlattformen wie Facebook hat bereits die 130.000-Grenze überschritten. Ob das alles Echt ist oder sich so verhält wie diese Aktionen à la: Trag am 32. April grüne Strumpfhosen mit Punkten für meine Hühneraugen-Aufklärungs-Kampagne – wir werden es sehen.

Abwarten und… nichts trinken. Schließlich befinden wir uns auf Hungerstreik.

Inzwischen hat sich diese Großdemo in mehrere Städte ausgeweitet. Die Medien sprechen von einem „Buschfeuer“. Delhi. Lucknow. Ahmedabad. Mumbai. Pune. Patna. Kolkata. Hyderabad. Bangalore.
Verwunderlich ist diese für Indien doch eher überraschende Demo dann doch nicht. Zwar gehört Korruption auf den Subkontinent wie Haldi (Gelbwurz) ins Curry, und auch in diesem Blog wurde bereits mehrmals ausführlich gemeckert, doch das vergangene Jahr hat den Indern doch etwas zugesetzt. Die „Scams“, wie sich das hier kurz und knackig nennt, sind schon Eigennamen. Wir haben den CWG-Scam, den 2G-Scam, den IPL-Scam, den Futter-Scam, den Telgi-Scam, die Radia-Tapes…. Wer mehr darüber wissen möchte, muss googeln, denn die Ausmaße dieser Scams sprengen jeden Rahmen, auch den dieses Blogs.
In letzter Zeit dann setzten auch die internationalen Medien dem Image Indiens zu, indem sie ganz unverblümt darüber berichteten, wie Indiens beängstigende Korruptionsausmaße ausländische Investoren verschrecken. Schmieren müsse man überall, aber in Indien sei selbst ordentlicher Backshish keine Garantie, dass man erfolgreich Geschäfte betreiben kann.

Hazare fordert ein 50:50 Komitee zwischen Regierungsabgeordneten und Vertretern des Volkes. Streitpunkte jedoch gibt es immer noch: Wer wird diesem gemischten Komitee vorsitzen? Wie werden die Volksvertreter gewählt werden? Bis das nicht geklärt ist, will Hazare auch nicht aufgeben.

Neu ist in diesem Zusammenhang, dass bei dieser Demonstration neben Demo-Veteranen (also solchen Menschen, für die Teilnahme an Streiks und Demos zum Lebensweg gehört) sowie Vertretern der Medien auch Ottonormalverbraucher mitmachen. Junge, gebildete Menschen, die sich Urlaub von ihrem Job genommen haben, um am Jantar Mantar dabei zu sein. Zu sehen, wohin das alles führt. Eventuell um Geschichte zu schreiben.

Kann diese Demo die Wut der Bürger lang genug anheizen, um politische Sturheit zu überdauern? Werden die Medien lange genug Luft ans Feuer fächern? Wird der spontane Frustrationsabbau in Form von wütenden Worten in diverse Kameras zum vorzeitigen Kollaps führen? Werden mehr Inder ihren Bürostuhl, ihren Schreibtischstuhl und ihr Sofa verlassen, um auf die Straße zu gehen? Wird Hazare eine weitere Eiserne Sharmila werden?

Wir werden das beobachten müssen. Zukunftsprognosen sind übereilt. Sonia Gandhi, Vorsitzende der regierenden Kongresspartei, meinte jedenfalls mit zu erwartendem politischem Kalkül und definitiv mehr Hirn als bisherige Parteisprecher, Hazare habe da wohl einen sehr wichtigen Punkt angesprochen, bei dem sie sich sicher ist, die Regierung würde zuhören. Und da die Regierung auf Sonia Gandhi hört, darf man gespannt sein.

Unser Täglich Giftcocktail

…ich sitze also gemütlich auf dem Sofa gegenüber S., und wir halten einen entspannten Feierabendsplausch: 40% der in Mumbai verkauften Milch ist angeblich gepanscht, beschwöre ich unheilvoll. Seine Miene bleibt gelassen: Oh, das glaub ich nur zu gern, meint er dazu. In Delhi ist es noch höher.

S. arbeitet in der Lebensmittelindustrie. Unglücklicherweise weiß er, wovon er da mit fader Stimme spricht. 8|

Plötzlich geht es um Buttermilch, die mit rauen Mengen Backpulver versetzt ist, um die Haltbarkeit anzukurbeln. Dann geht es um Mawa: evaporierte Milch in der Vorstufe zu Kondensmilch, welche für eine ganze Riege indischer Süßigkeiten genutzt wird. Mawasüßigkeiten, die drei Tage lang ungekühlt in der Sonne Bhopals im Süßigkeitenladen vor sich hinrösten, ohne schlecht zu werden. Was ist denn das für ein Milchprodukt? Oder war es etwa kein Milchprodukt, wie die 1,8 Tonnen Schummel-„Mawa“, die vor wenigen Tagen in Jaipur konfisziert worden sind?

Die Unterhaltung schwenkt zu synthetischer Milch und wie man diese zubereitet:
1. Urea – für schöne weiße Farbe
2. Seife – für die schaumige Erscheinung frisch aufgegossener Milch
3. billiges Speiseöl – um den Fettgehalt von Milch nachzuäffen
4. Natriumhydroxid, damit der ganze Mist nicht sofort schlecht wird.
Das Phänomen lässt sich unter „synthetic milk“ googeln. Laut dem Gesundheitsministerium Delhi werden 100.000 Liter synthetische Milch hergestellt. Täglich. In Delhi allein!

Dann driften wir weiter zu einer neuen Studie, die von der NGO Consumer Voice durchgeführt wurde: Rückstände illegaler Pestizide in Gemüse. Oxytozin zum Beispiel. Oder Chlordan. Endrin. Heptachlor. Sowie das „Schwiegermuttergift“ Parathion. Drei davon durch die Stockholmer Konvention 2001 verboten. In Indien finden sie auf den Feldern weiterhin regen Gebrauch, und ihre Rückstände essen wir in großen Mengen. Kartoffeln, Auberginen, Okra, Tomaten, Spinat. Sie und 29 weitere Gemüsesorten wurden positiv auf Pestizidrückstände getestet. Wie unbequem die Unterhaltung doch plötzlich geworden ist. Ich denke an die leckeren Okraschoten, die im Kühlschrank darauf warten, angerichtet und verzehrt zu werden. Okra enthielten laut Studie den höchsten Vergiftungsgrad.

Manch unschuldig dreinguckendes Gemüse hielt sich wohl innerhalb der indischen Grenzen auf, überschoss EU-Werte aber ums hundertfache. Das liegt daran, dass indische Grenzwerte so unverständlich hoch sind. Beim Blumenkohl zum Beispiel liegen die EU-Werte bei 20ppb, die indischen aber bei 3.000ppb. Inder müssen 150fach robuster sein, um den ganzen Giftmüll – vollkommen legal – zu schlucken. Mutti! Ich will nach Hause!

Ich wippe energisch mit den Füßen, bis mir die rettende Idee über die Synapsen schnippt, welche noch nicht von Parathion außer Gefecht gesetzt worden sind. Organische Farmen müssen die Lösung sein. Davon gibt es in Indien täglich mehr, und sie freuen sich ob der häufigen Hiobsbotschaften aus der Lebensmittelindustrie natürlich großer Beliebtheit. Dumm nur, dass es für eine Zertifizierung als „Organische Farm“ vollkommen ausreicht, in den letzten sechs Monaten keine Chemikalien angewandt zu haben. 🙄

Nun denn. Es war mal wieder einer dieser wohligen Abende, an denen man über Gott, die Welt, das Gemüsebeet und die Giftflasche spricht, sich anschließend zu einem gediegenen Mahl hinsetzt (ironischerweise mit Blumenkohl) und danach ein Eis isst. Mit echter Milch. :yes:

Nirgendwo ist das Essen mehr sicher. Außer in Gemüsebeet bei Muddern.

Korruption

Die letzten Wochen in Indien waren gezeichnet von nichts als Betrügereien: die Zeitungen tragen kaum mehr andere Nachrichten auf dem Titelblatt als neue und alte Korruptionsskandale, ganz frisch aufgedeckt oder schon länger am Brodeln. Es ist nicht mehr schön. :no: Bei genauerer Betrachtung ist es gar obszön. Die Commonwealth Spiele geraten langsam in Vergessenheit, und so auch die damit verbundene Veruntreuung von Geldern, deren Gesamtbetrag die meisten Menschen gar nicht aussprechen könnten ob der Tatsache, dass so viele Nullen Namen tragen, die keiner kennt. Doch es gibt neue Skandale: In Mumbai zum Beispiel wurde auf Armeegelände in Colaba ein 31-stöckiges Hochhaus gebaut. Die Wohngemeinschaft nennt sich Adarsh Society. Niesnutzer dieser Struktur sollten Kriegswitwen und Kargilhelden sein. Man muss nicht lange darüber nachdenken, weswegen Kriegswitwen und Kargilhelden im Herzen Mumbais eine Wohnung gestellt bekommen sollten, wo sie doch genau so gut in kleineren Städten untergebracht werden könnten. Korrupte Politiker und Bürokraten haben kein Interesse an kleineren Städten. Mumbai hingegen ist ein heißes Pflaster. Colaba erst recht. Und so kam es, dass Wohnungen in dieser Adarsh Society heute allen möglichen Leuten gehören, nur keinen Kriegswitwen und Kargilhelden. Na so was?

An den doch sehr strengen Bestimmungen wurde so lange herumgezwickt, bis der Übernahme des Objekts durch Korrupte Elemente nichts mehr im Weg stand.
Welche Bestimmungen? – Nun, zum Beispiel hinsichtlich dessen, was auf Armeegelände überhaupt gebaut werden darf. Wie hoch gebaut werden darf. Wie viel Grund dafür benutzt werden darf. Und so weiter, und so fort.

Dieser Skandal bewegt sich nun schon seit Wochen durchs Land. Der Ministerpräsident Maharashtras musste bereits abdanken und es werden vermutlich weitere Köpfe rollen. Der Umweltminister reibt sich freudig die Hände und hat erklärt, dass die Struktur nicht legalisiert sondern abgerissen wird. Alle 31 Stockwerke. – – Warten wirs ab! |-|

Und weil Indien gerade so in Stimmung ist, sich mächtig über die nicht mehr entschuldbaren Ausmaße der vorherrschenden Korruption zu ärgern, taumeln immer mehr solche Fälle aus ihren Verstecken. Ich weiß ja nicht, wie es „den Indern“ geht, aber mir schwant so langsam, dass ich ganz schön blöd bin, nicht auch das Scheckbuch die aufgerollten Noten in der Hosentasche zu zücken, wann immer ich was möchte. Das geht doch viel schneller! Was ich nicht alles besitzen könnte, wo ich nicht überall wohnen könnte, welche reservierten/subventionierten Mittel ich mir nicht alle einstecken könnte… Es ist fantastisch!!! :yes:

Und während ich mir überlege, in welchen Situationen ich mir überall Wartezeit und Nerven sparen kann, wenn ich nur mehr oder minder diskret ein paar Kröten rüberwachsen lasse, fallen mir die ganzen Situationen ein, in denen man dazu genötigt wird, Schmiergeld zu zahlen. Korruption hat ein solches Level der Manifestation erreicht, dass es nicht mehr „Speedmoney“ ist (wie Schmiergeld verniedlichend bezeichnet wird), sondern Ermöglichungsgeld. Das heißt, ohne Schmiergeld geht es nicht nur langsamer, es geht gar nicht.
Das merkt man, wenn man einen Pass in Mumbai beantragt. Für die Erneuerung eines indischen Passes ist eine Polizeiauskunft notwendig, zu welchem Zweck ein Besuch von den Herren in Khaki stattfindet. Bentley war nicht im Haus, aber als Angetraute darf auch ich die Auskunft geben. Als der bürokratische Akt vorbei war, standen die Polizisten vom Sofa auf und bewegten sich in Richtung Haustür. Dort verharrten sie mit einer eindrucksvoll-ausdruckslosen Miene im Gesicht. Ich wusste, was sie wollten. Aber ich klammerte mich verzweifelt an das, was Recht und Ordnung ist. Nein, nicht die Personifikation des Khaki. :no: Sondern die Gedanken, die in meinem Kopf herumkullerten: Das ist jetzt nicht richtig. :no: Tu es nicht! – – – Und dann, ein paar Wimperschläge später etwas dramatischer: Neeeiiiiin! Tus nicht! Tus nicht!

Ich stelle mich in solchen Situationen gern dumm. Da ich häufiger den Eindruck gewinne, dass man als Frau in Indien oftmals als Wesen bar höherer geistiger Fähigkeiten betrachtet wird, habe ich beschlossen, diesen Umstand doch auch mal für mich nutzen zu können. Keine Sorge: Das durchschaut niemand. Immerhin bin ich als Frau einer solchen List gar nicht fähig. HarrHarr. |-| In diesem Moment zum Beispiel erschien es mir durchaus angebracht, so zu tun, als könne ich den eindrucksvoll-ausdruckslosen Blick der Polizisten nicht deuten.
Zudem meint man ja, Korruption oder Schmiergeld oder Speedmoney oder Ermöglichungsgeld wäre diskret. Das ist eine selten-dämliche Annahme. Korruption ist nicht diskret, und sie tut sich auch keinen Zwang an. :no:

Ich war allein zu Haus. Die Nachbarin, die zuvor als Zeugin ihre Daten angegeben hatte, war bereits wieder geflohen (und hatte man ihr die Erleichterung angesehen!). Da stand ich in meiner Stube und diese zwei Holzstämme von Polizisten vor mir. 8| Ich glaube, die hatten mir die zwei größten Exemplare in ganz Mumbai vor die Türe geschickt! Ich klammerte mich an mein Baby. Babys sind süß. Nun geht endlich weg! Doch sie standen da mit blankem Gesichtsaudruck, bis einer von ihnen diese Situation für abstrus befand und meinte: „Unsere Gebühr, Ma’am.“

Gebühr?!? Oh, sie meinen ihr Gehalt. Zahlt das nicht der Staat?

„Oh, natürlich“, erwiderte ich und griff nach dem Umschlag, den Bentley – der weise Bentley – für diesen Fall in die Anrichte gelegt hatte. Die Polizisten nickten mir zu, lächelten und gingen.

So, und an diesem Tag schmierte Daniela zwei Polizisten, weil sie in ihrer Wohnung festzuwurzeln drohten. Ich schmierte ihnen quasi die Schuhsohlen. :lalala:

Schaffe ich es nun, von diesem Ausflug in die Gefilde des indischen Alltags zurück zur Adarsh Society einen spannenden, literarisch hochwertigen Bogen zu ziehen. Hmmmm. Nein Danke. Für diese Stubenkorruptionsgeschichte erlaube ich es mir, den Lieblingssatz aus meinem Lieblingsfilm aller-aller-aller Zeiten zu zitieren: Dagegen bin ich machtlos.

Und was Adarsh anbelangt: mal ehrlich… wen überraschts?

Tragödien (Commonwealth Games)

Die Commonewealth Games fallen ins Wasser!
Es ist Showtime für Pessimisten. Übertreibung unmöglich. Die Realität ist unschlagbar. Seit Tagen werden wir bombardiert mit täglich neuen Eskapaden der am 3. Oktober 2010 anstehenden Commonwealth Games in Delhi. In einem früheren Bericht ging es um die Vorbereitungsarbeiten, die dafür laufen. Es sieht ganz danach aus, als wäre der Optimismus die Gutgläubigkeit mit mir durchgegangen. Damals behauptete ich noch, Delhi würde das schon schaffen. Heute weiß ich: Nee du, das wird nix mehr. Denn drei Monate später sieht Delhi noch genau so aus wie auf den damals von mir geknipsten Fotos, und man muss davon ausgehen, dass sich daran in den 48 noch verbleibenden Tagen bis zum Beginn der Spiele nichts ändern wird.

Was ging schief?
Selten passt in Indien alles in ein Wort, aber bei dieser Frage gehts ganz kompakt: alles!
Sportstadien sind nur halbfertig. Bereits beendete Stadien fallen wieder auseinander. Durch die Decke regnet es durch. In einer Schwimmhalle fiel gar ein Stück Putz runter. Parkettfußböden sind aufgeweicht. Die gesamte Vorbereitung für die Spiele ist ein Desaster.

Auch Projekte, die zur Verschönerung der Stadt galten (wie die Vereinheitlichung des Stadtzentrums Connaught Place) lahmen traurig hinterher. Der Stichtag zur Beseitigung herumliegenden Schotters wurde bereits mehrmals nach hinten verschoben. Er verstrich jüngst letzte Woche und wurde nun auf den 20. August gelegt, aber das muss man sich nicht merken, denn am Ende wird es eh wieder nix.

Neben der Tatsache, dass alles irgendwie überhaupt nicht fertig ist, blubbern jeden Tag neue wilde Korruptionsgeschichten an die schottrige Oberfläche. Gelder wurden veruntreut und fanden sich plötzlich auf britischen Bankkonten wieder. Bauaufträge gingen an Bogusfirmen. Ah, und der Einkauf. Am schönsten sind die Geschichten von den inflationären Preisen, zu denen diverse Gegenstände für die Commonwealth Games gekauft worden sind. Klopapier zum Beispiel. Für knapp 80€ pro Rolle. Seifenspender. Für reichlich 70€. Da hat jemand ordentlich verdient.

Zudem wurden Laufbänder gemietet, damit die Sportler sich nicht auf den nicht-existenten Gehwegen die Beine brechen, wenn sie trainieren. Wie läuft das hier so?
1. Das Organisationskomitee beschließt: Laufbänder müssen her.
2. Der Auftrag dafür geht an Tunichtgut.
3. Tunichtgut tritt an Raffzahn heran, der die Laufbänder von diversen Fitnessstudios anmietet.
4. Dem Steuerzahler werden dafür 2.900.000 Rupien in Rechnung gestellt. Das sind nach heutigem Kurs 48.378 Euro und 88 Cent.
Pro Laufband.

Ich kenn mich mit Laufbändern nicht so aus. Aber ich stelle dennoch die tollkühne Behauptung in den Raum, dass man für 48.378,88 Euro diverse Laufbänder käuflich erstehen kann.

Selbstverständlich hat niemand erwartet, dass die CWG so ganz ohne Korruption ablaufen. Das ist hier schließlich Indien, und man hat sich den 84. Platz auf dem Transparency International Index schwer erkämpft. Aber vielleicht hat man sich gedacht, es würde so laufen wie immer. Etwas Schmiere hier. Etwas Bakshish da. Eine Rupie in die CWG Kasse und drei in meine Hosentasche. – – Und nun stehen wir dem bizarren Ausmaß der Korruption gegenüber, die so überwältigend ist, dass sogar Indien erschrocken ist. Mal ehrlich. 80€ für Kackpapier?
Hinzu kommt noch, dass Korruption zwar üblicherweise jede Menge Kohle auffrisst, dass man am Ende aber trotzdem etwas vorzuzeigen hat. Hier, neue Überführung. Hat nicht x Rupien gekostet sondern 20x, und hat nicht ein Jahr gedauert sondern fünf, aber … hier ist die neue Überführung. Viel Spaß damit.
Dieses Mal jedoch ist dem nicht so. Noch 48 Tage ticken vorbei, dann ist Schluss mit „Come back tomorrow, Madam!
Dann hat es sich aus ge-„Chalta-Hai“t. (Chalta Hai ist die destruktive Form des „Laissez Faire“.)
Dann kommen die Kamerafritzen mit ihren Megaobjektiven und sehen die Risse in den Wänden. Den Schotter auf der Straße.

…und während das alles passiert, küssen sich im Hafen Mumbais zwei Frachtschiffe. Is ja auch kein Platz auf dem Wasser. Etliche Container plumpsen ins Wasser. Einige davon enthalten Kekse und Kaffee und werden wieder an Land gespült. Der Inhalt gehört jetzt den Findern. Andere Container sind noch verschollen. Sie enthielten Pestizide und andere lustige Chemikalien, die bei Kontakt mit Leben dieses welches auslöschen oder ungünstig beeinflussen.

Außerdem ist die Bucht voll Öl. Die Mangroven voll Öl. Die Fische voll Öl. Die Zugvögel voll Öl.

Aber seien wir mal nicht ganz so schwarzseherisch… Ich glaube an das Gute in Allem, vor allen Dingen aber in einer Klopapierrolle für 80 Euro. Deren Saugfähigkeit muss der Ölschicht einfach gewachsen sein! Hurra. Hurra. Problem gelöst.

Als nächstes: Cricket.

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Mehr zum Thema Commonwealthspiele.

Parlamentswahlen in Indien: Geldregen. Girlanden. Gutmenschen.

Während sich Politiker im Westen von pickeligen Demonstranten die Köpfe einschlagen lassen müssen, haben ihre indischen Kollegen weitaus mehr Spaß im indischen Wahlkampf. Und es herrscht Zeitdruck: immerhin verbleiben lediglich noch zwei Wochen, um den Wähler zu umwerben, den politischen Pfauenschwanz auszufahren und heftigst zu gackern. Alles für den Wähler oder – genau genommen – dessen Stimme.

Langweilig wird es dabei nicht. Es gibt relativ wenige Anspielungen auf die Finanzkrise, und das wäre ja auch irgendwie richtig uncool. So bedrückend. Da kommt richtige Endzeitstimmung auf, und wer will denn sowas? Wir wollen Spaß:

In einer Pressekonferenz kürzlich lehnte sich die BJP (Hindu-Nationalisten) in Form des alten Hasens LK Advani etwas weit aus dem Fenster. Advani meinte – so richtig in Tune mit dem G20-Gifpel – Inder sollen das im Ausland gebunkerte Geld gefälligst zurück nach Indien bringen. Damit meint er indische Moneten in Schweizer Banken: zwischen 500 – 1.400 Mrd. Dollar sollen es sein. Genug, so Advani, um Indiens Entwicklungsprobleme zu lösen. Mit dem Geld, so donnerte er vom Podium, kann man Schulen bauen! Das Geld kommt den Bauern zu Gute!

Es ist schwer zu sagen, ob Advani wirklich davon ausgeht, das Geld fließt zu 100% in die Konten des indischen Staates, aber man möchte ihn nicht unnötig aufregen, denn es war ihm sichtlich schwer gefallen, diese schiere Menge komplizierter Zahlen von seinem Zettel abzulesen und dann mit Überzeugung zu behaupten, es handle sich dabei ausschließlich um Terror- und Schwarzgeld. :wave:

Doch Advani ist nicht der einzige, der uns Spaß bereitet. Kürzlich wurde ein anderer alt eingesessener BJP-Politiker dabei „erwischt“, wie er in Rajasthan Bargeld an Wähler austeilte. Die indische Wahlkommission fand das nicht witzig und fragte Jaswant Singh (eben jener), was er sich dabei gedacht hatte, das Wahlvolk zu bestechen? Singh meinte, er hätte niemanden bestochen sondern lediglich armen Menschen geholfen. :lalala:
Einen solch starker Drang zu humanitären Leistungen ist sagenhaft!

Aber egal. Spaß muss sein. Und Singh ist wirklich nicht der einzige Sozialarbeiter aus Indiens Parlament. Er war sich halt nur nicht sicher, ob er seinen Schäfchen einen Fernseher oder lieber Strom oder Saris oder Schmuck schenken sollte? Wer kann schon wissen, was das Volk sich so wünscht? – – Dabei hat ein Artikel im Outlook-Magazin kürzlich beleuchtet, dass das Schenken hoch im Kurs steht. Indische Wahlen sind wie Weihnachten! Jede Partei macht mit, und am Ende, so Outlook, bringt es gar nichts: „Wähler zu bestechen ist ein Ritual geworden. Man kann sich damit nicht den Sieg sichern, aber indem man nicht besticht, sichert man seine Niederlage.“ (meint Bhibhu Mohapatra, India Development Foundation)
Der diesjährige Wahlzirkus kostet Schätzungen zu Folge übrigens zwischen 1,5 und 2,4 Mrd. Euro – nicht für Anzeigen oder Werbung sondern Geschenke Armenhilfe.

Also: Weiter machen! :yes:

Wer sich zwischen den tollen Politiknachrichten doch mal langweilt, der kann ja das Girlandenspiel auf der sehr witzigen Seite Bleed India spielen. Hintergrund zum Spiel: Es ist Tradition, dass indische Politiker bei offiziellen Anlässen aller Art Blumengirlanden umgehangen bekommen. Dies geht auf eine noch ältere indische Tradition zurück. Doch inzwischen sind die Girlanden so dick geworden, dass sie während der Foto-Op von mehreren Personen gehalten werden müssen, sonst würde dies vermutlich als Attentat gelten! Beispiele der Blumeneuphorie in Bild gibts hier ( Prime Minister Manmohan Singh), hier (Congressparteivorsitzende Sonia Gandhi) und hier (BSP-Führerin Mayawati).
(Im Spiel muss man die Girlanden einfangen und den Tomaten ausweichen.)