Mumbai ist ein in die Welt der Wirklichkeit transportiertes Oxymoron. Es sollte unmöglich sein. Es dürfte nicht funktionieren. Doch es ist echt.
Es waren einmal sieben friedlich im Ozean vor sich hinschlummernde Inseln: Mahim. Parel. Worli. Mazgaon. Bombay. Old Woman’s Island. Colaba. Dann kamen die Briten mit ihren Schaufeln und Schubkarren und füllten das Land zwischen den Inseln auf und schufen eine märchenhafte Metropole namens Bombay.
Inzwischen wurde Bombay nicht nur namentlich generalüberholt, sondern es wuchert wie ein Tumor in sämtliche Himmelsrichtungen. – In sämtliche Himmelsrichtungen? Nein, nur nach Norden und Westen. Das Sumpfland um den Hafen im Osten der Stadt liegt gleichzeitig unter deren Niveau. Es ist der Westen, der mit einem prächtigen Wasserbecken aufwartet und Neues verspricht. Grenzenlosigkeit.
Was bei den Briten geklappt hat, kann heute nicht verkehrt laufen, also kippen die Mumbaikars weiterhin ihren Schotter in die See. Landgewinnung. Mumbai gehen die Quadratmeter aus (kürzlich wurde eine Wohnung am Marine Drive für lächerliche 34crore Rupien verkauft, also speckige 6,1 Mio Euro), also muss man etwas tun. Die Migration nach Mumbai ist unaufhaltsam; was, jetzt ziehen schon Deutsche mit ihren indischen Delhi-Ehemännern nach Mumbai und machen sich hier breit. Land, Mumbai braucht Land. Was liegt also näher, als die weiten Felder im Osten der Stadt mit Wohnblocks zuzupflastern? Richtig, Dreck ins Wasser schütten, mit ner Raupe drüber fahren und in einem langen, kostspieligen Prozess der See Zoll um Zoll abzuluxen. Ein ganzer Stadtteil in Bandra nennt sich heute Bandra Reclamation. Es gab ihn früher nicht. Heute wuchert dort die Stadt und der Western Express Highway brüstet sich dort mit zahlreichen, ineinander verschlungenen Auffahrtsrampen. Wie eine Schleife auf einem enormen, nach Morast riechenden Geschenkpaket. Bandra Reclamation. Wir haben gewonnen.
In den 90ern geplant wurden außerdem Schnellstraßen, die im Wasser Wurzeln schlagen sollten. Seit 2002 hämmert und meißelt man nun schon am „Bandra Worli Sealink“. Der sich ständig nach hinten verlegende Stichtag, wann das Projekt denn endlich mal fertig gestellt werden soll, ist momentan auf Ende 2008 angesetzt. Mit Hilfe dieser Straße soll die Pendelzweit zwischen den Stadtteilen Bandra und Worli von circa 45 auf 7 Minuten verkürzt werden, indem man durch die Bucht schneidet. Wo die ganzen zackig hintereinander auf Worli hineinprasselnden Karossen dann alle hinsollen, so lange die restlichen Sealinks bis an den südlichsten Zipfel Mumbais noch nicht beendet sind, das weiß kein Mensch. Der Bau hat noch nicht begonnen.
Man hängt an diesem Sealink. Er ist ein Symbol. Für Zyniker und studierte Stadtplaner ist er ein Symbol gedankenloser Wucherung. Für den Rest ist es ein Zeichen: Wir können gen Westen wandern, auch wenn dort kein Land mehr ist.
Und so sitzen Mumbaikars am Abend 100m vom Hotel Taj und 300m von Mannat (SRKs Heim) entfernt auf den Felsbrocken, am Land’s End, am Ende der Welt, und träumen davon, weiter gen Westen vorzudringen. Dort gibts nur Wasser. Dort ist noch Platz. Im Rücken sitzen ihnen die maroden Baustrukturen einer vernachlässigten Stadt. Aber vor ihnen tut sich die Welt auf. Dort vorn, dort gehts weiter.
Wenn ich am Strand in Mumbai entlang laufe, überkommt mich kein Gefühl von Freiheit. Ob das nun Land’s End, Bandra Bandstand oder Juhu Beach ist, spielt überhaupt keine Rolle. Ich spüre das Drängen der hässlichen Häuser im Rücken und sehe die Menschen sprichwörtlich ins Wasser plumpsen, und es macht mir Angst. Da ist kein Gefühl von Grenzenlosigkeit. Kein freies Atmen wie an weißen Sandstränden mit Palmen im Rücken und blauem Wasser, dass mir vorgaukelt, ich wäre allein. In Mumbai ist niemand allein. Einsam, vielleicht, aber nicht allein. Hier gibt es so viele von uns. Auf den Klippen sitzend. Schnatternd. Gen Westen schauend. Es ist wie ein gewaltiger Berg aus menschlichem Schotter, der von einer noch gewaltigeren Planierraupe ins Meer geschoben wird. Weiter, weiter, dort ist noch Platz! Es ist unschön. Es ist modern, keine Frage. Aber wenn ich dort steh, am Land’s End, und diese vielen Menschen beobachte, die auf einer kleinen Landzunge nach Platz suchen, um ihre Zelte aufzuspannen oder zu expandieren, wenn sie schon Zelte haben, dann sehe ich ein ganz anderes Weltende.
Das melancholische Wort zum Freitag. Auf ins Wochenende. Ich kann die Euphorie fühlen. Sie kribbelt in meinen Zehen. Montag gibts dann wieder Blümchenblog. Schließlich habe ich noch gar nichts weiter über Chikkis und Karjat erzählt.
UPDATE:
Der Sealink ist seit dem 1. Juli 2009 für den Verkehr geöffnet und – hab ichs nicht gesagt? – ein komplettes Desaster. Nicht nur herrscht auf dem Sealink Stau, nein, auch vor und nach dem Sealink steht man sich die Reifen platt. Zu dumm. :))
Update
Wenige Monate später funktionierte der SeaLink reibungslos, und tut es bis heute. Momentan kostet eine Überfahrt 50 Rupien, ein Rückticket 75 Rupien. Der Weiterbau allerdings ist strittig. Im Frühjahr 2011 denkt man darüber nach, Alternativen zum SeaLink anzubieten: Tunnel oder Küstenstraßen. Wir werden sehen.