Einmal mehr wurde in Indien der Rotstift gezückt. Genauer gesagt in Mumbai, wo das Buch Such a long Journey von Rohinton Mistry aus dem Lehrplan für den Bachelorkurs in Englisch an der Universität genommen wurde. Ein Politiker hatte freundlichst darum gebeten.
Warum?
Weil Passagen des Buches negativ über die Partei Shiv Sena berichteten.
Wer war der Politiker?
Aditya Thackeray, Engel Enkel von Bal Thackeray, dem Gründer der Partei Shiv Sena. Aditya zählt 20 Jänner und ist nun reif, in die Politik eingeführt zu werden. Er leitet den Jugendableger der Partei. Vor der Krönungs… äh, pardon… Initiierungszeremonie am Sonntag Abend bedurfte es nur noch etwas Werbung. Kontroversen sind wirkungsvoll und kostenlos. Man spart sich die Kröten für Anzeigen in Zeitung und Fernsehen, denn das übernehmen die Medien dann selbst.
Vor der Mistry-Episode kannte kaum jemand Aditya Thackeray. Jetzt kennen ihn alle. Mission: Erfolgreich.
Während aus einigen wenigen Kreisen der Intelligenzia ohnmächtiger, wütender Protest halblaut wird, fällt bei mir endlich der Groschen, und macht dabei ein viel, viel lauteres Geräusch als die Friede-sei-mit-dir-Aktionen der protestierenden Bürger. Jahrelang habe ich mich gefragt, warum Zensur und Selbstzensur in Indien niemanden juckt außer Leuten, die viel Zeit, viel Geld, und wenig zu tun haben? Warum, fragte ich mich, gehört die Beschneidung öffentlicher Kultur in Indien zum hingenommenen Alltag wie Lärm, Schmutz und stoische Kühe, die zu bemerken bereits ein halbes Schulterzucken zu viel Aufwand ist?
Warum?
Weil es geht. Weil es klappt. Weil Aditya, der vermutlich mehr Eierschalen hinter den Ohren hat als Roma, damit einen Sieg erringen konnte, ohne dass ihm jemand das Bein gestellt hätte. Und weil die Mehrheit der Bürger nichts dagegen unternimmt entweder aus purer Erschöpfung ob ihrer täglichen dreistündigen Pendelreise zu und von der Arbeit, oder weil sie erkannt haben, dass man Idiotie nicht mit Argumenten, und Dreistigkeit nicht mit Intelligenz besiegen kann.
Kronprinz Aditya beschuldigte Autor Mistry, in seinem Buch nicht nur die Shiv Sena, sondern auch diverse andere indische Persönlichkeiten (die zu benennen er nicht als sinnvoll erachtete) verunglimpft zu haben. Darum gehört das Buch aus dem Lehrplan entfernt.
Vermutlich musste selbst Mistry die beanstandeten Passagen noch einmal lesen. Ist sein Werk doch bereits genau so alt wie Aditya. 😉
Eigentlich könnte man lachen. Aber wenn ein Bully die Brust rausreckt, dann weiß man, es folgen Schläge. Oft genug in der Geschichte Mumbais musste man sich tätliche Gewalt gefallen lassen, weil diversen Forderungen so banal und lächerlich sie auch geklungen haben mögen nicht Folge geleistet wurde. Bombay wurde gar ganz ermordet. Um sich solcherlei Ärger zu ersparen, entfernte der Vice Chancellor der Mumbai University das Buch binnen 24 Stunden vom Lehrplan.
Was haben Aktivisten/die Intelligenzia dazu zu sagen?
We are headed towards a fascist ethos, and society, out of fear probably, is tolerating it.
Die Gesellschaft allerdings toleriert das nicht aus Angst, sondern weil sie weiß, dass sich sowieso nichts ändert. Man ereifert sich ein bisschen, man spuckt Galle, man bringt den Blutdruck in Gefahr und leiert den Herzmuskel aus, und was hat man am Ende? Vielleicht gibts das Buch bald wieder im Lehrplan, vielleicht auch nicht. Egal wie, Aditya ist nun ein Markenname. Er hat gewonnen. Verlieren kann er ja auch nur, wenn er bestraft werden würde. So etwas ist in der Geschichte Mumbais aber noch nie vorgekommen. Verantwortliche bestrafen? Pfui Teufel.
Warum also sollte man sich sein Frühstück sauer aufstoßen lassen für eine Sache, die von vorn herein verloren ist? Such A Long Journey erfreut sich inzwischen regen Interesses, obwohl die Sena angefragt hat, wie es denn mit einem ganzheitlichen Verbot ausschaut? Das wird noch ein paar Tage Schlagzeilen bringen, und dann bewegen wir uns zum nächsten Thema, bis in ein paar Wochen oder Monaten wieder jemand Publicity braucht.
Das Problem in Indien ist meiner bescheidenen, nicht durch Daten ratifizierten Meinung nach zweifaltig.
Zum Einen ist das Gesetz eine lasche Mimose. Es wird nicht durchgegriffen. Verfahren laufen gegen Plus Unendlich. Strafen fallen wegen mangelnder Beweislast aus. Zeugen werden aufgekauft (turn hostile). Gefängnisstrafen werden zur Bewährung ausgesetzt oder gleich aufgehoben.
Zum Zweiten wird die Empfindsamkeit der Menschen oder Gruppierungen als unantastbar bewogen. Das mag ursprünglich mal ein Abwehrmechanismus in einer pluralistischen Gesellschaft gewesen sein, die man vor Zerklüftung bewahren wollte. Doch heute ist das mehr so ein Warmduscherkartell. Mag man was nicht, muss man nur laut genug schreien, dass man sich gekränkt fühlt, und schon wird wegrationalisiert, was die zarten Gefühle belastet haben mag. Bücher. Filme. Einrichtungen. Menschen (zum Beispiel Liebespaare in der Öffentlichkeit oder Frauen in der Disko). Alles geht.
Argumente sind vollkommen sinnlos. Du weißt doch, wie das Sprichwort geht: Lege dich nie mit einem Idiot an. Er zieht dich auf sein Niveau runter und schlägt dich dann mit Erfahrung.
Es ist ja süß, wie Mistry sich in einem eleganten Stück in der Zeitung heute gegen Aditya gewehrt hat. Aber vollkommen zwecklos. Aditya weiß ja, dass seine ganze Argumentationsführung kompletter Humbug war. Das tat ihrem Erfolg jedoch keinerlei Abbruch. Im Gegenteil. Je dämlicher die Debatte, desto mehr Quoten bringt sie. Das lohnt sich auch jedes Mal, denn es hagelt keine Strafen.
Als Raj Thackeray im Frühjahr 2008 durch seine aufwiegelnde Rhetorik gewaltsame Auseinandersetzungen in Mumbai und Umgebung verursachte, wurde er festgenommen (Martyrerbonus), verbrachte die Nacht im Gefängnis (doppelter Martyrerbonus) und wurde wieder entlassen. Das wars. Damals ging es um Nordinder, die als Migranten in Mumbai den natürlichen Mumbaikars die Arbeit wegnehmen. Einem Mann wurden damals vom aufgebrachten Mob beide Hände abgehackt. Bekam dieser Mann (oder die zahllos anderen Opfer) jemals Gerechtigkeit?
:))
Eben.
Und darum ist es vollkommen sinnlos, sich über die ganze Episode aufzuregen. Vielleicht hat die rasche Handlung des Vice Chancellors sogar dazu geführt, dass ein paar Studenten/Dozenten nicht verletzt wurden. Dass Inventar nicht kurz und klein geschlagen wurde. Wer weiß? Ich unterstütze weder die Zensur noch die Selbstzensur. Mitnichten. Aber in meinen Adern fließt Gelassenheit. Oder Gleichgültigkeit. Was auch immer es ist, es hält meinen Blutdruck innerhalb des gesunden Grenzwertes.
Was glaubt ihr denn, wen das nächste Woche alles noch interessiert?
Alternativende:
Wie sagte Salman Rushdie so schön?
Was ist Meinungsfreiheit? Ohne das Recht zu Beleidigen, existiert sie nicht.
Erklär das mal einem jungen, aufstrebenden Politiker, der sich mal fix eine Kontroverse basteln muss!