Zensur in Indien

Einmal mehr wurde in Indien der Rotstift gezückt. Genauer gesagt in Mumbai, wo das Buch „Such a long Journey“ von Rohinton Mistry aus dem Lehrplan für den Bachelorkurs in Englisch an der Universität genommen wurde. Ein Politiker hatte freundlichst darum gebeten.
Warum?
Weil Passagen des Buches negativ über die Partei Shiv Sena berichteten.
Wer war der Politiker?
Aditya Thackeray, Engel Enkel von Bal Thackeray, dem Gründer der Partei Shiv Sena. Aditya zählt 20 Jänner und ist nun reif, in die Politik eingeführt zu werden. Er leitet den Jugendableger der Partei. Vor der Krönungs… äh, pardon… Initiierungszeremonie am Sonntag Abend bedurfte es nur noch etwas Werbung. Kontroversen sind wirkungsvoll und kostenlos. Man spart sich die Kröten für Anzeigen in Zeitung und Fernsehen, denn das übernehmen die Medien dann selbst.
Vor der Mistry-Episode kannte kaum jemand Aditya Thackeray. Jetzt kennen ihn alle. Mission: Erfolgreich.

Während aus einigen wenigen Kreisen der Intelligenzia ohnmächtiger, wütender Protest halblaut wird, fällt bei mir endlich der Groschen, und macht dabei ein viel, viel lauteres Geräusch als die Friede-sei-mit-dir-Aktionen der protestierenden Bürger. Jahrelang habe ich mich gefragt, warum Zensur und Selbstzensur in Indien niemanden juckt außer Leuten, die viel Zeit, viel Geld, und wenig zu tun haben? Warum, fragte ich mich, gehört die Beschneidung öffentlicher Kultur in Indien zum hingenommenen Alltag wie Lärm, Schmutz und stoische Kühe, die zu bemerken bereits ein halbes Schulterzucken zu viel Aufwand ist?

Warum?

Weil es geht. Weil es klappt. Weil Aditya, der vermutlich mehr Eierschalen hinter den Ohren hat als Roma, damit einen Sieg erringen konnte, ohne dass ihm jemand das Bein gestellt hätte. Und weil die Mehrheit der Bürger nichts dagegen unternimmt – entweder aus purer Erschöpfung ob ihrer täglichen dreistündigen Pendelreise zu und von der Arbeit, oder weil sie erkannt haben, dass man Idiotie nicht mit Argumenten, und Dreistigkeit nicht mit Intelligenz besiegen kann.

Kronprinz Aditya beschuldigte Autor Mistry, in seinem Buch nicht nur die Shiv Sena, sondern auch diverse andere indische Persönlichkeiten (die zu benennen er nicht als sinnvoll erachtete) verunglimpft zu haben. Darum gehört das Buch aus dem Lehrplan entfernt.
Vermutlich musste selbst Mistry die beanstandeten Passagen noch einmal lesen. Ist sein Werk doch bereits genau so alt wie Aditya. 😉

Eigentlich könnte man lachen. Aber wenn ein Bully die Brust rausreckt, dann weiß man, es folgen Schläge. Oft genug in der Geschichte Mumbais musste man sich tätliche Gewalt gefallen lassen, weil diversen Forderungen – so banal und lächerlich sie auch geklungen haben mögen – nicht Folge geleistet wurde. Bombay wurde gar ganz ermordet. Um sich solcherlei Ärger zu ersparen, entfernte der Vice Chancellor der Mumbai University das Buch binnen 24 Stunden vom Lehrplan.

Was haben Aktivisten/die Intelligenzia dazu zu sagen?

We are headed towards a fascist ethos, and society, out of fear probably, is tolerating it.

Die Gesellschaft allerdings toleriert das nicht aus Angst, sondern weil sie weiß, dass sich sowieso nichts ändert. Man ereifert sich ein bisschen, man spuckt Galle, man bringt den Blutdruck in Gefahr und leiert den Herzmuskel aus, und was hat man am Ende? Vielleicht gibt’s das Buch bald wieder im Lehrplan, vielleicht auch nicht. Egal wie, Aditya ist nun ein Markenname. Er hat gewonnen. Verlieren kann er ja auch nur, wenn er bestraft werden würde. So etwas ist in der Geschichte Mumbais aber noch nie vorgekommen. Verantwortliche bestrafen? Pfui Teufel.

Warum also sollte man sich sein Frühstück sauer aufstoßen lassen für eine Sache, die von vorn herein verloren ist? „Such A Long Journey“ erfreut sich inzwischen regen Interesses, obwohl die Sena angefragt hat, wie es denn mit einem ganzheitlichen Verbot ausschaut? Das wird noch ein paar Tage Schlagzeilen bringen, und dann bewegen wir uns zum nächsten Thema, bis in ein paar Wochen oder Monaten wieder jemand Publicity braucht.

Das Problem in Indien ist meiner bescheidenen, nicht durch Daten ratifizierten Meinung nach zweifaltig.
Zum Einen ist das Gesetz eine lasche Mimose. Es wird nicht durchgegriffen. Verfahren laufen gegen Plus Unendlich. Strafen fallen wegen mangelnder Beweislast aus. Zeugen werden aufgekauft („turn hostile“). Gefängnisstrafen werden zur Bewährung ausgesetzt oder gleich aufgehoben.
Zum Zweiten wird die Empfindsamkeit der Menschen oder Gruppierungen als unantastbar bewogen. Das mag ursprünglich mal ein Abwehrmechanismus in einer pluralistischen Gesellschaft gewesen sein, die man vor Zerklüftung bewahren wollte. Doch heute ist das mehr so ein Warmduscherkartell. Mag man was nicht, muss man nur laut genug schreien, dass man sich gekränkt fühlt, und schon wird wegrationalisiert, was die zarten Gefühle belastet haben mag. Bücher. Filme. Einrichtungen. Menschen (zum Beispiel Liebespaare in der Öffentlichkeit oder Frauen in der Disko). Alles geht.

Argumente sind vollkommen sinnlos. Du weißt doch, wie das Sprichwort geht: Lege dich nie mit einem Idiot an. Er zieht dich auf sein Niveau runter und schlägt dich dann mit Erfahrung.
Es ist ja süß, wie Mistry sich in einem eleganten Stück in der Zeitung heute gegen Aditya gewehrt hat. Aber vollkommen zwecklos. Aditya weiß ja, dass seine ganze Argumentationsführung kompletter Humbug war. Das tat ihrem Erfolg jedoch keinerlei Abbruch. Im Gegenteil. Je dämlicher die Debatte, desto mehr Quoten bringt sie. Das lohnt sich auch jedes Mal, denn es hagelt keine Strafen.

Als Raj Thackeray im Frühjahr 2008 durch seine aufwiegelnde Rhetorik gewaltsame Auseinandersetzungen in Mumbai und Umgebung verursachte, wurde er festgenommen (Martyrerbonus), verbrachte die Nacht im Gefängnis (doppelter Martyrerbonus) und wurde wieder entlassen. Das wars. Damals ging es um Nordinder, die als Migranten in Mumbai den natürlichen Mumbaikars die Arbeit wegnehmen. Einem Mann wurden damals vom aufgebrachten Mob beide Hände abgehackt. Bekam dieser Mann (oder die zahllos anderen Opfer) jemals Gerechtigkeit?

:))

Eben.

Und darum ist es vollkommen sinnlos, sich über die ganze Episode aufzuregen. Vielleicht hat die rasche Handlung des Vice Chancellors sogar dazu geführt, dass ein paar Studenten/Dozenten nicht verletzt wurden. Dass Inventar nicht kurz und klein geschlagen wurde. Wer weiß? Ich unterstütze weder die Zensur noch die Selbstzensur. Mitnichten. Aber in meinen Adern fließt Gelassenheit. Oder Gleichgültigkeit. Was auch immer es ist, es hält meinen Blutdruck innerhalb des gesunden Grenzwertes.

Was glaubt ihr denn, wen das nächste Woche alles noch interessiert?

Alternativende:

Wie sagte Salman Rushdie so schön?

Was ist Meinungsfreiheit? Ohne das Recht zu Beleidigen, existiert sie nicht.

Erklär das mal einem jungen, aufstrebenden Politiker, der sich mal fix eine Kontroverse basteln muss!

Wer zuerst kommt, mahlt zuerst.

Zuerst war da die Moschee. Dann fiel jemandem ein, dort eine Straße zu bauen. Was tun, wenn sich beide im Weg stehen?

Mosque

Das in Indien gängige Prinzip in solchen Momenten besteht ganz einfach darin, die Straße um die heilige Stätte ringsrum zu bauen. Das gilt auch für Tempel und Kirchen, und manchmal reicht auch einfach ein Baum mit Götteridolen oder ein winziger Altar am Straßenrand. Diese Relikte können niemals wieder entfernt werden. :no:

Zäune, Hinweisschilder, Leitplanken oder gar Fahrbahnmarkierungen sind nicht notwendig. Man wird ja wohl sehen, dass da ein Gebäude steht, auf welches zuzusteuern sich ungünstig auf die eigene Gesundheit bzw. den Zustand des Fahrzeuges auswirken könnte. 😉

Einen solchen Ort des Glaubens dennoch infrastrukturellen Überlegungen zum Opfer fallen zu lassen, könnte schlimme Krawalle verursachen, weswegen die Stadtväter meist die Finger davon lassen und sprichwörtlich den Schwanz einziehen.

Verliebte Paare. Das ist ja eklig.

Indien macht echt Spaß und wie überall auf der Welt gibt es auch hier Personen, die eindeutig zu viel Zeit haben. Dreihundert von ihnen wohnen in I.C. Colony, unserem Stadtteil in Mumbai. Sie haben ihre Unterschrift für den Zweck gegeben, in I.C. Colony aufzuräumen. Den Abschaum zu beseitigen.

Der Abschaum – das sind

„junge Paare, Betrunkene und Drogenabhängige“

Zitat: Times of India

Erquickend, dass junge Paare im selben Satz mit Betrunkenen und Drogenabhängigen erwähnt werden. :yes: Ich habe zwar von letzteren hier noch nie welche gesehen, aber das liegt vermutlich daran, dass ich zu wenig Zeit habe.
Diese asozialen Elemente hängen jedenfalls allabendlich an der Bushaltestelle herum, die so ungünstig im Schatten der herrlichen Bäume verborgen liegt und geradezu dazu einlädt, dass sich junge Paare gegenseitig betatschen. Ein striktes No-No in Indien. Die Anwohner umliegender Hausgemeinschaften fühlen sich peinlich berührt und möchten nun, dass die Polizei aufräumt. Daher die Unterschriftenaktion.

Love Not

„Es ist beschämend, jungen Paaren mit ihrem notorischen Verhalten an der Bushaltestelle zu begegnen. Das ist hier zur Normalität geworden und sendet die falschen Signale an unsere Kinder, die durch solche Akte beeinflusst werden.“

Zitat: Vijay Sawant, Anwohner

Aha! 😳 Wie gesagt: Das ist ja voll eklig. U-(

Wessen westlich-verseuchter Gehirnbatzen nun meint, hier hingen Möpse und Pimmel in der dunklen Öffentlichkeit eines Bushäuschens an der frischen Luft, der irrt. Notorisches Verhalten junger Paare ist:
– Händchen halten
– umarmen
– womöglich noch Arme um die Hüfte/Taille legen

Mir wird schon vom Schreiben schlecht. Hat die Jugend denn gar keinen Respekt? Was soll aus den Kindern werden, deren unbedarfte Iris auf solche Obszönitäten fällt? |-|

Ewig währte der Kampf der Anwohner gegen die Ekelhaftigkeit in ihrem hübschen, grünen Stadtteil, doch nachdem die Unterschriften nun hochoffiziell bei Den Verantwortlichen abgegeben worden sind, verspricht die Polizei, die Gegend zu patrouillieren:

„Nachdem wir die Beschwerde erhalten hatten, begannen wir, hart durchzugreifen bei Paaren und Studenten, die in den Abendstunden in dieser Gegend frei herumlaufen. Wir gehen auch gegen Paare vor, die sich unanständig benehmen.“

Krishnaji Gaikwad, Senior Police Inspector

Gott sei Dank! Stellt euch nur vor: frei herumlaufende Jugendliche und Paare. Das hört sich doch verdächtig nach tollwütigen Hunden an, und denen möchte im Dunkeln schließlich auch niemand begegnen. 88|

Über die Drogenabhängigen und Besoffenen sagt der Polizist nichts.

Nun denn. Ich bin ja nur froh, dass jemand aufräumt in der Gesellschaft. :yes: Es wurde auch Zeit. Ständig wird man von freier Liebe belästigt. Der Anblick ineinander verknoteter Hände und die anhimmelnden LiebesBalzblicke junger Menschen verursachen dem gediegenen Geist schließlich Herzklopfen ganz anderer Art. Um nicht zu sagen Kammerflimmern!

Nicht so sicher bin ich mir hingegen, ob ich es jetzt noch wagen darf, mit Rahul abends mal einen Browny essen zu gehen. Das tun wir manchmal: Wenn kein anständiger schokoladenhaltiger Nachtisch im Haus ist, schlüpfen wir aus der Wohnung in die verträumte Dunkelheit der verschlungenen Pfade unserer I.C. Colony und laufen die 500m zum Brownygeschäft. Manchmal nimmt Rahul dabei meine Hand und ich glaube, wir lachen auch mal zusammen. Was nun, wenn in einem solch inopportunen Moment ein Polizist aus dem Gebüsch springt und „hart durchgreift“, weil unsere junge Vertrautheit die nächste Generation in moralische Bedrängnis bringen könnte? – – Nun ich glaube, bei mir purzeln in Zukunft die Pfunde! :))

Aus diesem netten Zeitungsartikel & dem noch netteren Blogbeitrag lernen wir wieder eine ganze Menge:
=> Erstens hatte ich doch Recht und schon breitet sich ein warmes, wohliges Gefühl in mir aus: Indien ist prüde. Es sind nicht nur opportunistische Politiker, die junge Paare zu Staatsfeinden erklären.
=> Zweitens: Christen verkörpern in Indien nicht den Fortschritt. Häufig falle ich dem Vorurteil anheim, Christen wären aufgeschlossener. Stimmt ja gar nicht. Schließlich ist I.C. Colony so eine Art christliches Bollwerk Nordmumbais.
=> Drittens: Offensichtlich passiert recht wenig in Mumbai, dass so eine Lapalie der Times of India drei Spalten und ein riesiges Foto wert sind.

Geht nicht, gibts nicht.

Die schönste Lektion, die Indien zu bieten hat, ist die, dass hier alles funktioniert. Wirklich. Alles.
Es gibt natürlich Spaßbremsen wie Suketu Metha, der Indien „Das Land des Neins“ nennt. Aber das ist Humbatz. Indien ist das Land des Jas, des ewigen Kopfrollens, des „Komm’sch heut nich, komm’sch morgen“ – aber ich komme!

Vielleicht funktioniert nicht immer alles auf den ersten Blick. So was hier. Kann ja nicht gehen.


Wie ich mich wieder anstelle!

Es geht auch nicht immer alles gleich beim ersten Nachfragen. Oder beim Zweiten. Oder beim Dreitausendsiebenhundertfünfundvierzigsten Mal. Manchmal, wie bei unserer Telefonliane, gehts halt mal sieben oder acht Monate nicht. (Aber wir arbeiten dran, ehrlich! Und wir machen sogar Fortschritte! Kleine.) Aber irgendwie gibt es immer einen Ausweg. :yes:

Ist das Eierzentrum (unser lokaler Eiergroßmarkt) beispielsweise geschlossen, heißt das ja nicht, dass man keine Eier kaufen kann. Jemand hat schon mitgedacht. Wir sind ja schließlich nicht in Deutschland! :>

Egg shop

Dieser Herr Eierzwischenhändler hat sein Fahrrad und seine Eierpaletten vor dem geschlossenen Egg Center geparkt, weil er weiß, wie das hier so läuft. Dort sitzt er mit den Beinen baumelnd und wartet, bis die Falle zuschnappt. Denn obwohl er die Ware gerade mal einen anderthalben Meter bewegt hat, kostet dieser „Schwein gehabt, dass ich hier sitze, gelle!?“-Service natürlich mehr. Aber schön, nicht wahr? Wie das alles wieder klappt.

Nebenan übrigens der Rindfleischer „Modern Fresh Beef Shop“. Am Haken baumelt sogar noch ein Stück herum. 500gr davon wurden später für Socke zubereitet. Nicht auf einmal. Das hätte er wohl gern. :yes:
Und der Hund, der gerade am herrlichen Stück braunen Polster herumschnüffelt (worauf während der heißen Mittagsstunden der Fleischer sitzt und abwechselnd döst oder Zeitung liest), gehört zu diesem Fleischergeschäft. Das heißt, er hängt dort immer herum. Die beiden Hunde des Egg Centers (ein struppiger und ein weißer) waren aber schon nicht mehr da. Sie lümmeln normalerweise vor den Türen des Eiergeschäfts und fressen vermutlich kaputte Eier o.ä.

Das Image Indiens (Slumdog Millionär)

Nachdem ich ein paar unschöne indische Situationen breit getreten habe, ist es nun an der Zeit, sich die Frage zu stellen, ob diese unschönen Situationen dem Image Indiens Schaden zufügen, denn das ist die Prämisse derer, die den Film Slumdog Millionär als „Armutspornografie“ und Defamierung Indiens kritisiert haben.

In persönlichen Gesprächen mache ich hin und wieder die Entdeckung, dass Armut für Inder ein sehr greifbares Phänomen ist. Viele, die heute zur gut etablierten Mittelklasse gehören, erinnern sich durchaus an die knapperen Zeiten ihrer Kindheit. Dass nur ein relativ kleiner Teil Indiens in den vielversprechenden letzten Jahren bedeutsamen Aufschwung geschafft hat, hat die indische Gesellschaft nicht in eine philosophische Sofarunde verwandelt, die sich fragt, wie das passieren konnte? Vielmehr herrscht ganz besonders in der heutigen Mittelklasse ein tiefes Misstrauen den Armen gegenüber. Wie kann es sein, dass sie es nicht geschafft hatten, wenn wir es geschafft haben?

Es gibt in Indien keine Tradition westlich-philosophischer Werte, die von Gleichheit und Gleichberechtigung sprechen. Auf der internationalen Bühne möchten Inder gern so sein wie alle anderen (d.h. „Der Weiße Mann“), aber auf der nationalen Ebene ist man eine verschachtelte, essentiell ungleiche Gesellschaft, die seit jeher auf Prinzipien der Ungleichheit basiert. Schlechtes Karma. Kasten. Immer neue Einfälle brandrodender Barbaren aus dem Nordwesten, von Alexander über muslimische Eroberer hin zu den Briten, die das Gute aus der indischen Gesellschaft zu eliminieren suchten. Die Liste von Erklärungen, die man zu Rate ziehen kann, um den eklatanten Zustand von Ungleichheit zu ratifizieren, ist durchaus gewaltig.
(Dass das Konstrukt der indischen Mittelklasse weder Verständnis noch Interesse für Die Armen hat, habe ich bereits in meinem Artikel „Die große indische Mittelklasse“ geschildert.)

Sind Inder deswegen Egoisten, denen Die Armen egal sind? „Das Image Indiens (Slumdog Millionär)“ weiterlesen

Indien Version 3.0

In meinem 5. Jahr in Indien wohne ich nun am 3. Ort. Und gleichzeitig in einem komplett neuen Indien. Indien – Version 3.0

Adieu Wattebausch. Adieu Condominium.
Harte Landung. Version 3.0 ist die Rache der Mittelklasse, über die ich immer läster.

Wir sind jetzt wieder live dabei. In Dwarka, wo depressive Menschen von Balkons springen und realitätsferne Söhne depressive, vom Balkon springende Menschen auffangen wollen und dabei ums Leben kommen. :no:

Statt einem Park gibts Beton und einen Rasen, der, wie das in Indien üblich ist, braun geschoren wird.

Brauner Rasen

Manchmal ist auch in Indien der Farbeimer leer:

Buntes Indien

Statt himmlicher Ruhe gibts jetzt allabendlich einen Trupp reifer Frauen, die auf einer Decke auf dem braunen Rasen sitzen, singen und klatschen und … na ja, wahrscheinlich Spaß dran haben. Anstelle eines Zimmers mit Aussicht auf Morgenkacker gibts jetzt solide Bautechnik:

Beton
Zimmer mit Aussicht – nur das Original ist schöner!

Die glanzvolle Schickimicki-Ära endete abrupt und mündete ungeschickt in der Hardcore-Version des einfachen Indiens. Wahrscheinlich näher dran an dem, was man sich unter dem urbanen Indien vorstellt. Was man sich als Indien-Erstling wünscht. Zum Beispiel so:

oder so.

Fahrradrickshaw

An die Stelle ohrenbetäubender, preisgeiler Rickshaws sind jetzt die leisen, umweltfreundlichen und verkehrsfeindlichen Fahrradrickshaws getreten. Diese spindeldürren, mit Schweißflecken übersäten Strampler widerlegen jede These, die etwas mit dem Recht des Stärkeren zu tun hat. Von wegen, in Indien hat immer der Größere und Schnellere Vorfahrt. Diese Spezialisten haben immer Vorfahrt. Immer. Grüne Welle. Lebenslänglich.

Ja, der Umzug in die Hauptstadt – ein Downgrade mit Folgen. Plötzlich sind die Supermärkte in die Ferne gerückt. 20km, um genau zu sein. Zwangsweise und zähneknirschend geht es ab in den Tante-EmmaOnkel-Ekram-Laden. Dort ist der Joghurt öfters mal schlecht, wenn man ihn kauft. Pancake-Mix führen die nicht. Auf Fruchtsaft gibts keinen Rabatt. Man muß ganz tief in die Trickkiste des positiven Denkens greifen, um lächelnd aus dem Laden wieder rauszukommen.

Food-Bazaar
Das waren noch Zeiten!

Zwar sind Ketten wie Subiksha und Reliance Retail dabei sich in Delhi und NCR zu etablieren und Subiksha wirbt sogar damit, Indiens „largest retail chain“ zu sein, aber hundert kleine Geschäfte (und hundert sinds) machen kein großes. Kleine Ladenfläche, kleine Produktauswahl, kleine Freude. Kann man nichts machen.

Grooooße Umstellung:
Nahrungsmittel werden jetzt nicht mehr im Supermarkt um die Ecke gekauft, sondern im Krutschladen. Dazu gehört der Besuch eines Geschäfts für Paneer/Käse (und zwar ist das meist ein Süßigkeitengeschäft oder Bäcker… indische Logik halt!), eines weiteren Geschäfts für Brot und Eier und noch vielen weiteren Geschäften für viele weitere Dinge. Alle zwei bis drei Wochen schaffen wir es vielleicht, einen Zwischenstopp im Big Bazaar in Gurgaon einzulegen.
Gemüse wird jetzt nicht mehr im Supermarkt um die Ecke gekauft, sondern auf dem Gemüse-Markt um die Ecke. (siehe oben) Jeden Tag findet in Dwarka ein Gemüsemarkt statt, dessen Standort sich je nach Wochentag ändert. Sonntags ist er eben um die Ecke, da gehen wir dann hin.

Version 3.0 hat noch mehr Asse im Ärme. Im Fernsehen gibts jetzt nur noch 6 Englische Kanäle. Das liegt natürlich an unserem Kabelfritzen. HBO und andere nette Kanäle bietet der nicht an, weil das außer uns niemand sehen will. Im Norden dominiert Hindi, und in unseren Mittelklassebaracken wohnen nicht so viele Hollywoodfanatiker außer uns.

Hier wird Indien auch ein Stück realer: Aus dem Hahn kommt statt Wasser öfters nur ein furzendes Geräusch. An solche Zustände muß man sich erst mal (rück)gewöhnen.

Zur Zeit komme ich allein nicht sonderlich oft raus. Die Malls gehen in der Ferne ohne mich ihren Geschäften nach. Problematisch: Zwischen Delhi und dem im südwesten an Delhi angrenzenden Zuckerdorf Gurgaon fahren keine Rickshaws, weil es ein anderer Bundesstaat ist. Demnach komm ich allein dort nicht hin. Die Einkaufspassagen in Delhi kann man entweder unter Ulk verbuchen oder sie sind zu weit weg. Was also fehlt ist Mobilität.
In Version 3.0 braucht man schon ein Auto, um von A nach B zu kommen. Ich spiele jetzt mit dem Gedanken einen alten Ambassador

zu kaufen, denn davor hat jeder Angst. Das liegt daran, daß ein Ambassador vor niemandem Angst hat. Er fährt und fährt. Er bleibt liegen, aber hält nie freiwillig an. Sowas wäre das Richtige für mich. Damit fahr ich dann zu meinem Glitzerindien und halte erst auf dem Parkplatz an, wo ich ohne Angst einparke, denn dem Ambassador tut kein Kratzer weh. :yes:
Der Ambassador gibt niemals klein bei. Er ist eine rollende, hustende, total zerbeulte Legende mit einer durchgesessenen Sitzbank vorn und einem meterlangen Schaltknüppel. Perfekt für mich, damit ich ohne Angst vor Gegenverkehr, Lackkratzern und indischen Kreuzungen ans Ziel gelange. Unser Auto ist mir dafür ja zu schade.

Während ich also von meinem neuen, mich in die Unabhängigkeit der Version 3.1 tuckernden Ambassador tagträume, stelle ich fest, daß ich gerade neu in Indien in einem neuen Indien angekommen bin. Wo ist mein Bentley? Jemand hat ihn mir weggenommen, dafür ne Kinetic Honda gegeben und mir gute Reise gewünscht. Ich glaub, mein Schwein pfeift meine Kuh röchelt.

Kinetic Honda
Ein bißchen Spaß muß sein. :wave:

Warten wir ab, was Version 3.0 noch zu bieten hat. :yes:

Morgenkacker

Ich stehe dieser Tage immer zwei Mal auf. Zuerst taumel ich Punkt 6 Uhr durch den Flur in Richtung Kühlschrank, um Fressbares für Socke zu suchen und zu präsentieren. Socke hat ein untrügbares Zeitgefühl, starke Lungen und sehr scharfe Krallen.

Danach entgleite ich dieser Welt sofort wieder und erwache erst, wenn ich richtig ausgeschlafen habe wenn Socke langweilig ist. Das ist so gegen 10.

Heute allerdings bin ich in dieser mir unbekannten 6-Uhr-Welt auf den Balkon gegangen. Vermutlich bin ich im Halbschlaf einfach nur falsch abgebogen, das kann ich jetzt nicht mehr so genau nachprüfen. Aber was ich da fand bestärkte mich in der Überzeugung, dass es sich einfach nicht lohnt, der Welt schon so früh meine Aufmerksamkeit zu schenken. Vor allem darum, weil um diese Uhrzeit wirklich nur Ferkel ihr Unwesen treiben. 🙄

Guckst du hier:

Geschäftig

Geschäftig

Der eine oder andere Leser findet es vielleicht ein bisschen seltsam, dass ich fremde Menschen beim Kacken fotografiere. Ich hingegen finde es viel seltsamer, dass fremde Menschen vor meiner Nase kacken. Außerdem wollte ich nur eine stimmungsvolle 6-Uhr-Landschaft fotografieren, mehr nicht.

So ist das in Indien. Täglich in den frühen, unmenschlichen Morgenstunden strömen die Leute aus ihren Hütten und düngen die Landschaft. Das ist auf dem Land so und ist in Bangalore nicht anders.

Darum geh ich auch nicht auf den Balkon und atme die frische Morgenluft ein, denn die olfaktorischen Botschaften stimmen mit den visuellen einfach nicht überein. Da schlaf ich doch lieber bis 10, wenn die Morgenkacker fertig sind.

Mich wundert es übrigens, dass die jeden Morgen eine noch unbenutzte Stelle finden. |-|

Wie lebt sichs hier? (Teil 2)

Jetzt hab ich über meine Zuckerwattewelt berichtet, aber alles hab ich doch noch nicht gesagt. Was bedeutet es, wenn man in einem 14 Hektar-großen, von einer hohen Mauer umgebenen Wohngebiet vollgestopft mit Sicherheitspersonal wohnt?

Na, zum einen gibt es da am Eingang Wachposten. Alle Autos von Anwohnern haben kleine Aufkleber, die sie als solche ausweisen, und darum werden sie nicht angehalten. Idealerweise sollten nur Bewohner der kuschelweichen South City hier hereinspazieren dürfen, der Rest sollte sich beim Wachposten melden und sich ins Buch einschreiben. Wenn wer zu Besuch kommen will, wird in der betreffenden Wohnung angerufen, ob wir den Onkel Anurag überhaupt kennen und ob Tante Sonali willkommen ist. Auch der Kurier, der Gasflaschenmann oder der Pizzajunge muss telefonisch bestätigen lassen, dass er tatsächlich was abzuliefern hat. Ich hab gerade im Geschäft was zu Essen bestellt, und wenn dann meine Lieferung mit Eiern, Brot, Hühnchen, Seife, usw. kostenlos zur Haustür geliefert wird, bekomme ich vorher einen Anruf… Sowas dekadentes…

Wie viele Leute natürlich unbeobachtet hereinkommen oder sich als Anwohner ausgeben, weiß keiner so genau. Es gibt in neueren Anlagen für unerschwingliche 200.000 € aufwärts fürn Bungalow die absolute Überwachung: Sensoren am Auto der Anwohner, ohne die sich das elektrische Tor nicht öffnet. ID-Karten für Anwohner mit derselben Funktion. Kameras am Tor, Wechselsprechgeräte, usw.

Das hört sich für den Leser vielleicht paranoid an, wie eine komplett überwachte Polizeiinsel, aber angesichts der Kriminalitätsrate in Indien machen diese ganzen Ideen Sinn. Ich jedenfalls werde jedenfalls in Indien nie wieder in ein unbewachtes Haus ziehen.
Einbrüche wären da der eine Grund, aber es ist für Frauen in Indien auch unsicher alleine im Haus zu sein. Wenn das jemand spitz kriegt, stehen die gleich auf der Matte, brechen ein und ziehen einem das Fell über die Ohren. Und da Rahul täglich erst 23:30Uhr nach Hause kommt, muss ich mir das ja nicht antun.

Außerdem wird man als Frau dauernd belästigt. Vom harmlosen aber nervtötenden Gaffen übers Anrempeln, Begrabschen, Betatschen hin zum Belöffeln und was weiß ich nicht gibt es alles, und alles geht ungestraft durch. Jeden Tag hechte ich mit einem beherzten Sprung durchs Tor, dann nehme ich mein Handy raus und telefoniere herum, denn es wird mir keiner aus der Hand klauen, was im echten Indien nur allzu oft passiert.
Bin ich erst mal umgeben von diesen tollen hohen Mauern in meinem künstlichen, für 200 Euronen pro Monat gemieteten Indien, muss ich auch keine Angst haben, dass mich einer hinter die Büsche zieht, wenn ich nach Einbruch der Dunkelheit (18:30Uhr) noch einen kleinen Spatziergang einlegen möchte.

Aber mal abgesehen von der Sicherheit gibt es noch andere Faktoren, die dafür sprechen, dass man in so eine stilisierte Anlage zieht. Von den Vorteilen, die ein kleiner Plansch im Pool oder eine Runde im Fitnessstudio bringt, spreche ich ja gar nicht. Das echte Indien da draußen ist einfach auf die Dauer sehr anstrengend. Es ist laut und schmutzig, voller armer Menschen und den Dingen, die man nicht sehen will. Das hört sich wieder oberflächlich an und ist politisch so was von inkorrekt… Aber wer mal eine Weile umgeben von diesen ganzen armen Schluckern gelebt hat und weiß, dass weder die indische Regierung noch die Inder selber das geringste Interesse daran haben, an diesem Fakt was zu ändern, der wird sich schnell in einer sehr unangenehmen Situation wiederfinden: Du kannst nichts für diese Leute tun, aber ihre bloße Anwesenheit zerstört dein Gleichgewicht. Was fühlst du, wenn du die Leute in der U-Bahn betteln siehst? Was geht dir durch den Kopf, wenn du gut gelaunt aus der Glitzerwelt des Galeria Kaufhofes in die Fußgängerzone hüpfst und dich von bettelnden, armen Menschen umgeben siehst? Was wollen die nur alle von mir, geh doch arbeiten…
Soziale Arroganz gibt es nicht nur in Europa.

Was auch immer du denkst oder was du fühlst, es ist nichts gutes. Also wie wäre es, wenn wir diese ganzen unangenehmen Faktoren aus der Umwelt entfernen, einen wunderschönen grünen Rasen täglich mit Unmengen Wasser ersäufen während arme Menschen aus dreckigen Pfützen ihren Durst löschen, und wenn wir eben diese Menschen vor den Toren aussperren? Fühlt sich toll an. Das Problem hat freilich keiner gelöst, aber es will ja gar nicht gelöst werden. Diese Art der Rationalisierung funktioniert ganz super und so lässt es sich leben.
Es gibt, anders als im echten Indien, rund um die Uhr Wasser, und wenn der Strom mal ausfallen sollte, was er dauernd tut, dann springen innerhalb von 10 Sekunden die Generatoren an und ich kann in Ruhe weiter Fernsehen schauen….

Schnitt –

Indische Schulen haben alle ihre eigenen Schulbusse, und so werden die Kinder der oberen Mittelklasse, die alle hier wohnen, täglich abgeholt und vor der Haustür wieder abgesetzt. Gelernt wird in teuren privaten Schulen. Das echte Indien sehen auch sie nur vorbeirauschen, wenn der Schulbus sich durch lautes Hupen seinen Weg durch die dreckigen Straßen bahnt, die sie nie mit ihren Nikes betreten müssen. Nachmittags können sie mit den Kindern der anderen 2400 Familien spielen, die hier nach Beendigung des 19. und letzten Blockes leben werden. Es gibt Tischtennis, Basketball, Tennis, Billard und jede Menge andere Freizeitaktivitäten ohne Smog, ohne Lärm, ohne Banden, ohne Drogen, ohne Kippenautomaten, ohne ohne. So lässt es sich super in einer heilen Welt aufwachsen.
Kontakt haben diese Kinder nur mit den Armen, wenn die Putzfrau jeden Morgen hinter ihnen herräumt und in der riesigen Wohnung sauber macht. In Indien selber sauber machen ist wie… wie Dreiradfahren auf der Autobahn. Ich werde immer schief angeguckt, weil ich mein Klo alleine sauber mache und auch meine eigenen TEller abspüle, aber was solls…. Die Putzfrau jedenfalls kommt für 600 Rupien pro Monat (weniger als 12€) und arbeitet sich ihren Weg von Wohnung zu Wohnung. Aber hey, das ist noch gut. Für denselben Service außerhalb solcher Wohnanlagen bekommt die Putzfrau nämlich nur 4€. Das haben wir ihr bezahlt, dafür, dass sie Löcher in unsere Sachen geschrubbt hat unsere Sachen gewaschen hat. Es gibt eine ausgefuchste soziale Schichtung sogar innerhalb der Gruppe der Putzfrauen: Putzfrauen im echten Indien und Putzfrauen, die einen Job in diesen Wohnanlagen angeln konnten. Die haben mitunter sogar ein eigenes Handy! Ein Nokia 3310. Guck mal einer an!

So wachsen die Kinder also behütet auf. Kein Herumlungern, kein echtes Indien, nur eine Schaumstoffwelt für 60.000€ aufwärts, die ihre Eltern über 10 oder 20 Jahre abstottern. Hier sind alle gleich reich, gleich besser, gleich gleicher als im echten Indien. Hier besitzen fast alle Anwohner ein Auto: vom kleinen Maruti 800 angefangen bis hin zum Mercedes. Hier spricht die normale Familie kein Kannada sondern Englisch, wie alle gebildeten Leute in Indien. Hier gibt es keine Armut, keinen Verkehr, keine Kriminalität. Das echte Indien ist irgendwo da draußen.

Und ganz ehrlich: Sollten wir in Indien bleiben, worüber wir uns immer noch nicht ganz im Klaren sind, so würde ich meine Kinder nur hier aufwachsen lassen: In der Zuckerwattewelt.
Und ganz ehrlich: Wer würde nicht?

Kommentare dringend erwünscht.

Lebkuchenhäuser in Indien

Man stelle sich meinen Gemütszustand vor, als ich letzte Woche in der örtlichen Bäckerei ein Bild von einem echten Lebkuchenhaus entdeckte, welches man dort bestellen kann. Wie buchstabiert man EUPHORIE!
Wie bei allen Auskünften in Indien hielt sich der Informationsgehalt hinsichtlich des Preises in Grenzen. Soll heißen: ich weiß immer noch nicht, wie viel man dafür ausgeben muss, aber hey: Gestern habe ich das letzte gefüllte Lebkuchenherz aufgefuttert, welches im Westpaket (der geübte Ossi kennt das ja) bei uns eingetroffen ist, und jetzt sitze ich hier auf dem Trockenen.

Aber Ach! – Indische Männer kann man nicht nach Lebkuchenhäusern fragen. Diamanten, Gold und Platin – das ist es, wonach die typisch indische Frau verlangt. Selbstverfreilich wurde mein eher seltsamer Wunsch abgelehnt, aber als Entschädigung wurden mir Rasghulla angeboten…

Ein Lebkuchenhaus in Indien – das hat zweierlei Gedankengäng losgetreten.

Erstens. Omas in mühsamer Feinarbeit zusammengebackene Lebkuchenhäuser, die nur zur Dekoration gedacht waren. Einen Monat lang wartet man, bis Weihnachten endlich vorbei ist, damit man das Teil endlich ohne Sünde essen kann, und stellt dann entsetzt fest, dass der Lebkuchen hart wie Stein und geschmacklich eher wie Pappe ist. Die Reue, nicht noch mehr Zuckerguss heimlich abgeknabbert zu haben, ist immens!

Zweitens. Entsetzlicherweise muss ich Rahul recht geben: Lebkuchenhäuser kauft der Mittelklasse-Inder einfach nicht. Essen zum Angucken? Das grenzt ja schon fast an Perversion.

Wenn man zum Beispiel bei einer (unteren) Mittelklassefamilie eingeladen ist, sollte man ausgehungert wie ein Wolf dorthin gehen, denn kaum hat man sich auf den Sofas niedergelassen, tischt die Hausdame bereits tablettweise Naschereien auf. Dabei handelt es sich um jede Menge JunkFood: Frittierte Kartoffelstix in Masala, frittierte Snacks (wie z.B. Pakodas), in Zuckersyrup ertränkte Süßigkeiten (wie Rasghulla), Erdnüsse in Masala, Rosinen, Bananenchips. Westlich orientierte Familien reißen einen Jahresvorrat Kekse und Kuchen auf und stapeln diesen vor dir auf.

Was jetzt folgt, kann aus westlicher Sicht nur als Nötigung bezeichnet werden. In Indien gehört es zum guten Ton.

Obwohl du überhaupt keine Lust auf salzige und süße Snacks hast, und obwohl es in ca. einer Stunde was zu Essen geben wird (niemals, niemals kannst du ein indisches Haus verlassen, ohne dich hilflos überfressen zu haben), wirst du nun gezwungen, diese ganzen Köstlichkeiten zu dir zu nehmen.
Zuerst ein gutgemeintes „Have, have“ (Remember, immer alles doppelt sagen). Es gehört zum guten Ton einmal kleinlaut abzulehnen. Daraufhin folgt dann ein energisches „Have, have!!“, und man wird dir diverse Schalen unter die Nase halten, aus denen du dich bedienen kannst.

Merke: Kaue langsam, sehr langsam. Hat man hintergeschluckt und ist gerade dabei, sich möglichst unauffällig die Zähne mit der Zunge zu reinigen, ertönt ein „Have more“. Es ist wie die Stimme in meinem Kopf, als ich den Zuckerguss vom Dach des Pfefferkuchenhauses kratzte. Während man kräftig mit dem Kopf schüttelt und die Hände abwehrend vor den Körper hält, fliegt bereits die nächste Schale mit Leckereien auf einen zu.

Ja, ja, verschiedene Kulturen…. Aber wenn man sich einmal gefüllt mit einer seltsamen Mischung aus Kuchen, Nüssen, Kartoffelchips, Cola und Keksen auf anderer Leute Sofa wiederfindet, weiß man, dass sich Gastfreundschaft in Indien direkt proportional zur Masse an inkompatiblen Snacks verhält, die man angeboten hat.

Rahul hat mir erzählt, dass seine Eltern immer Kekse auftischten. Sobald die Besucher das Haus betraten, wurde Rahul mit 5 Rupien in der Hand zur Hintertür rausgeschickt, um eine Packung Kekse zu kaufen. Kein Wunder, dass er es für unverschämt hält, ein Pfefferkuchenhaus in die Anbauwand zu stellen….

Warndreiecke sind langweilig

Freunde des sicheren Straßenverkehrs schwören auf ein ordentliches Warndreieck im Falle eines UnFalles. So richtig mit roten Reflektoren drauf sieht so ein Warndreieck schnucklig aus.

In Indien gibt es keine Freunde des sicheren Straßenverkehrs. Das werden eventuelle Landesgäste bereits festgestellt haben.

Allerdings kommt so ein schäbiger UnFall des öfteren mal vor. Ein liegengebliebener Bus ist immer mal ein guter Grund für einen Stau außer der Reihe.

Am Samstag kamen wir dann an diesem Objekt vorbei: Ein kleiner Laster der Marke Uralt.

Warngeröll im Einsatz

Wahrscheinlich hatte die Achse einfach die Nase voll von den zerlöcherten Straßen Bangalores, die ironischerweise auf diesem Bild nicht zu sehen sind. Dabei handelt es sich um den Vorführeffekt.

Das Geröll, welches man hinter dem Laster sehen kann, ist gar kein Geröll. Es handelt sich dabei um zertifiziertes Warn-Geröll(™), welches in liebevoller Arbeit hinter dem schlappmachenden Laster aufgebahrt worden ist.
Sollte also ein unaufmerksamer Verkehrsteilnehmer den Laster nicht rechtzeitig bemerken, so wird er durch das zertifizierte Warn-Geröll(™) aus den Tagträumen gerüttelt und bemerkt sofort: „Aha, da stimmt was nicht. Da schlängel ich mich vorsichtshalber mal im großen Bogen ringsrum!“

Auch im Stau macht sich diese Erfindung nützlich. Man flucht bereits seit 13 Minuten, dass der Penner entschuldigt, dass der Hutfahrer… also, der Sonntagsfahrer…. der mit unterdurchschnittlicher Geschwindigkeit fahrende Verkehrsteilnehmer ewig nicht aus dem Tritt kommt, als plötzlich fleißige, mitdenkende Menschen Zweige, Äste, Kokosnüsse, Steine, etc pp heranschleppen und hinter dem nun geparkten (aber vorher mit unterdurchschnittlicher Geschwindigkeit fahrenden) Verkehrsteilnehmer arrangieren. Da weiß der leicht gereizte Fahrer: „Ist die alte Socke also liegengeblieben! Kann ja wohl nicht wahr sein! Hup hier schon seit Stunden… Elende Kacke…“

Und so sieht man, dass der Mangel an Warndreiecken durch zertifiziertes Warn-Geröll (™) aufgehoben worden ist, und dass auch in Indien Wert auf Sorgsamkeit gelegt wird.

Gute Fahrt!