Die verschwundene Bedrohung… taucht wieder auf

Ende letzten Jahres machte sich in den Wäldern und Dörfern West Bengalens, Jharkands, Chhattisgarhs, Orissas und Andhra Pradeshs ein übermächtiger, gewaltiger Feind des indischen Staates breit: die Naxaliten. Eine 20.000* Mann starke Macht, die bereits 2006 vom Premierminister als einzige, größte Bedrohung dieser 1,2 Mrd. Nation identifiziert worden war. Die Nachrichten unterstrichen den dringlichen Charakter dieser Misere: kaum ein Tag verging, an dem nicht in blutroten Buchstaben von den Meuchelmorden und Bomben durch Naxaliten berichtet wurde. Die Zahl der Opfer wuchs rasant. Nicht ganz so rasant wie die Zahl der Todesopfer durch Local Trains in Mumbai, aber immerhin. Dieser gewaltige Durchbruch der Roten Terroristen geschah zeitgleich zur Vorbereitung einer Großoffensive des indischen Staates, der beschlossen hatte, der Situation Herr zu werden. Truppen sollten aus Indiens Eiterpickel Jammu & Kashmir abgezogen und in den Dschungel des „Roten Korridors“ geschickt werden.

Ende 2009 fand besonders die Mittelklasse sowie die Elite das ganz toll. Einzelkämpfer wie Arundhati Roy veröffentlichten ein paar wütende Essays in den Publikationen sympathisierender Editoren (Outlook, Indian Express, Tehelka, etc.), doch kaum jemand begehrte gegen den Plan auf, das Militär in den „infiszierten“** Busch zu schicken, um Hackfleisch aus den Staatsfeinden zu machen.

Sonderlich schwer wäre diese Mission ja auch nicht geworden, denn Naxaliten erkennt man ganz einfach: große Knollnase. Fehlender kleiner linker Fußzeh. Und neongelbe T-Shirts mit der Aufschrift: Ich bin ein Naxalit. Bitte hier schießen.

Janaur 2010:

Was ist passiert? Fand die Offensive Greenhunt statt? Sind alle 20.000 Naxaliten nun tot? Kann die Regierung nun das Land, auf dem die Naxaliten saßen, an die Minenindustrie verscharrern, um die phänomenalen Bauxit- und Eisenerzreserven darunter abzubauen? Wer weiß? Seit Wochen schon herrscht Ruhe im Karton. Vielleicht befinden sich die Naxaliten im Winterschlaf? Oder vielleicht haben sie sich ergeben? Oder vielleicht hat die indische Regierung ihren Feind ganz leise ausgeschalten? Seit Wochen schon haben die Naxaliten keinen Schaden mehr angerichtet, welcher Prime-Time-würdig gewesen wäre.

Erstaunlich, wie schnell die größte nationale Bedrohung implodiert.

Februar 2010:

Outlook und Tehelka veröffentlichen Reportagen, die von Meuchelmorden und Raubzügen im „Roten Korridor“ berichten. Einziges Problem: Die Täter sind nicht etwa die Naxaliten, sondern die staatlichen Maschinen: Salwa Judum („Peace Hunter“), die Hobbyarme mit staatlicher Rückendeckkung, sowie Sondereinsatzkommandos der Polizei. Seit Beginn der Operation Greenhunt sterben laut Outlook 30 bis 40 Stammesangehörige pro Woche. Männer, die von der Salwa Judum und SoKo erschossen werden; die unbewaffnet sind; die in den Staatistiken später als Naxaliten oder Naxalsympathisanten laufen werden.
Tehelka gibt denjenigen Stammesangehörigen eine Stimme, die von der Salwa Judum vertrieben wurden, deren Häuser niedergebrannt, deren Vieh gestohlen und deren Familienmitglieder ermordet wurden. Von Salwa Judum und SoKo.

Schlechte Werbung für den Staat.

Und urplötzlich taucht Operation Greenhunt aus der Versenkung auf. Urplötzlich gibts wieder Naxaliten in den Nachrichten. Das Magazin The Week listet gar alle Untaten der Naxaliten seit November auf. Die waren zwar in den letzten drei Monaten nachrichtenunwürdig gewesen, doch man muss das Volk daran erinnern, dass die Naxaliten Indiens größte Bedrohung sind.

Es herrscht ein Propagandakrieg in Indien. Niemand unterstützt die Naxaliten, so viel ist klar. Doch es gibt eine linksneigende Fraktion, die das Leiden der im Kreuzfeuer gefangenen Stammesangehörigen anspricht: die Tribals, deren Dörfer systematisch vernichtet werden. Deren Lebensgrundlage ausgelöscht wird. Es gibt keine Schulen, keine medizinische Versorgung und keine Arbeit mehr im „Roten Korridor“. Nichts funktioniert dort. Die linksneigenden Medien informieren uns, dass auf diesem Weg der Dschungel von den lästigen Stammesmitgliedern geräumt werden soll. Dann kann das Land den Minen übergeben werden. Vedanta zum Beispiel, deren Firmenethik unlängst international kritisiert wird.
So eine Art Avatar in Echt & Wirklichkeit. Nur ohne Happy End.

Die übrigen Medien sagen gar nichts dazu. Dörfer im Roten Korridor gelten für sie als Naxalitendörfer oder im Zweifelsfall allenhalben noch als Naxalitensympathisantendörfer. Aber nicht als Dörfer, die ungünstigerweise dort angesiedelt sind. Es gibt in ihrer Rhetorik keine Stammesmitglieder. Es gibt nur Naxaliten. Naxalitensympathisanten. Und die staatlichen Kräfte, die lediglich ihren Job machen.

Je nachdem, welche Medien man konsumiert, erschauert man wahlweise ob der Grausamkeit der staatlichen Aktivitäten im Roten Korridor, oder man kann kaum glauben, dass die dreiste Horde sich rasant multiplizierender Naxaliten noch nicht die ganze Welt erobert hat.

Beispiel?
Naxaliten jagen Schulen in die Luft. Ein Beweis dafür, dass sie gegen Bildung sind, denn schließlich brauchen sie möglichst ungebildete Schäfchen, die ihre Ideologie fraglos schlucken. – Schulen? Im ganzen Roten Korridor gibts keine funktionierenden Schulen mehr. Salwa Judum und SoKo haben die Schulgebäude in Stützpunkte umgewandelt. Diese jagen wir in die Luft. Aber wir haben neue Schulen für die Stammeskinder eingerichtet.

Abgesehen von Regierung und Naxaliten weiß niemand so genau, was im Roten Korridor wirklich vor sich geht. Es herrscht Krieg, so viel steht fest. Aber um zu erfahren, was passiert, muss man sich für eine Seite entscheiden, denn die Medien beziehen ganz klar Stellung. Egal welche Seite man wählt – dass die Behandlung der Stammesangehörigen nicht ganz koscher ist, sollte offensichtlich sein. Warum aber scheint das niemanden zu jucken?

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* India’s Research And Analysis Wing. Interessanterweise beziffert The Week die Zahl der Naxaliten momentan auf 200.000. Eine Quelle für diese völlig absurde Zahl hat das Magazin nicht mitgeliefert, aber vermutlich musste man die Bedrohung etwas aufstockenn, da inzwischen 20.000 Polizei-, paramilitärische und Streitkräfte ihr Unwesen im Roten Korridor treiben, was gegenüber 20.000 Naxaliten natürlich lächerlich klingen würde.
** Die Medien nutzten Begriffe, die auf eine Krankheit hinweisen. Die Naxaliten werden immer mit solcher Sprache bedacht, die sie von vorn herein als widerwärtige Partickel identifizieren.

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Mr. Chidambaram’s War – Outlook Magazin.
We The Non-People – Tehelka
Bloodbath in Bastar – Outlook Magazin
In the Maoists‘ Den – The Week
Chhattisgarh: Lost Battle – InfoChange India

Mangelernährung in Madhya Pradesh

Kein neuer, dafür aber ein wichtiger Beitrag zum Thema Mangelernährung findet sich in der aktuellen Ausgabe des englischsprachigen Nachrichtenmagazins Tehelka. Darin geht es um die fatalen Ausmaße der Mangelernährung im zentralindischen Bundesstaat Madhya Pradesh, die Apathie (und Dementierungen) staatlicher Agenturen sowie das abgeklärte Schulterzucken Betroffener, die sich ihrer Lage sowie der Auswegslosigkeit derselben durchaus bewusst sind.

Artikellink:
Weight Listed

Menschenhandel

In der aktuellen TEHELKA ist ein sehr guter Artikel zum Thema Menschenhandel (vorrangig Kinder) erschienen. In einer Undercoveraktion haben Reporter der Tehelka Händler, Eltern, die Betroffenen und Zuhälter befragt und einen sehr deutlichen Bericht verfasst, der schonungslos ein Bild beschreibt, welches häufig nur als Randnotiz in den Medien aufgegriffen wird.

Zum Artikel (in Englischer Sprache) geht es hier entlang: The Nowhere Children

Das junge Indien

Gerade habe ich bei Tehelka einen Bericht über das junge Indien entdeckt. Hinsichtlich der Tatsache, dass es selten umfassende Beiträge über die junge Generation Indiens gibt, werde ich ihn an dieser Stelle ohne großes Brimborium verlinken.

Adult 2008

Hinter dieser Überschrift verbergen sich Interviews mit Jugendlichen, die im Jahr 2008 volljährig werden. Und in ein paar Jahren die Zügel des Landes übernehmen werden. Es ist eine kleine Zusammenstellung mit Profilen der urbanen Jugend. Frisch. Voller Elan. Voller Ideen. Nicht schlecht, um einen Einblick zu bekommen (selbstverständlich limitiert).

Bildung ist alles

Quo vadis, India? C. Uday Bhaskar beobachtet, dass es nicht unbedingt nach oben geht, wie diverse Wirtschaftsprognosen, die stetig wachsende Sammlung von Millionären und andere ganz und gar nicht umfassende Indikatoren des plötzlichen „Booms“ in Indien uns weismachen wollen.

Uday Bhaskar schreibt in der aktuellen Kolumne gdp des Tehelka-Magazins das, was so selten den Weg in die poppigen Tageszeitungen und andere gute-Laune-Medien Indiens findet: die hässliche Wahrheit. Dass Indien 2007 im Human Development Index (HDI) vom 126. Platz auf den 128. Platz abgerutscht ist. Nur zwei Plätze. Das ist nicht viel. Aber es ist die falsche Richtung.

China sitzt im HDI auf Platz 81.
Brasilien auf Platz 70.

Nicht viel besser siehts im Education for All: Global Monitoring Report der UNESCO aus. Dort rutschte Indien vom 105. Platz auf den 100. Platz ab. Wieder nicht viel. Wieder nach unten.

Da sich die Berichterstattung über Indien neuerdings viel häufiger mit Themen wie diesen Randerscheinungen befasst, halte ich es für wichtig, dass dieses Thema aufgegriffen wird. Man sollte trotz lauter Indien-Praktikanten den Blick fürs Wesentliche nicht vergessen, doch genau das ist sowohl in Europa als auch in Indien leider viel zu oft der Fall.

Uday Bhaskars Artikel in voller Länge gibt es hier.

Human Development Report 2007

Leben und Sterben im Gulli

In der aktuellen Ausgabe bietet Tehelka wieder eine Portion „echtes“ Indien: Einen Spezialreport ueber das Leben (und Sterben) der Kanalisationsarbeiter Indiens. Der Menschen also, die ohne Schutzanzug, ohne Schuhe, ohne Maske, ohne Sicherheitsausruestung nur bekleidet mit einem Lendenschurz durch die Faekalien Indiens krabbeln, um die alten, ueberlasteten Systeme am Laufen zu halten.

Fotolink: Safai Karamcharis/Kanalisationsarbeiter

Der Bericht ist – soweit das machbar ist – sachlich verfasst und drueckt nicht auf die Traenendruese. Wertungen der beteiligten Journalisten wurden allerdings nicht vermieden, doch ich moechte meinen, es haelt sich alles im Rahmen guter Berichterstattung.

Um dem Glauben an das Gute im Menschen den coup de grâce zu verpassen, veroeffentlicht Tehelka ausserdem ein Fotoessay von Senthil Kumaran.